Waschsalon
Der Sommer war eindeutig vorbei. Nicht nur, dass die Sonne sich immer seltener und immer kürzer zeigte, die Temperaturen fielen ebenfalls spürbar. Besonders an diesem Sonntag Nachmittag. Die gräuliche Dämmerung wurde von einem ungemütlich kalten Nieselregen eindrucksvoll in Szene gesetzt und erzeugte eine Stimmung, die irgendwo zwischen Melancholie und Depression zu schweben schien. Für Flo war das Grund genug gewesen, seine Gardinen den ganzen Tag noch nicht aufzuziehen.
Mittag war schon vorbei und die Sonne war im Begriff unterzugehen. Die zweite halb volle Müslischale des Tages stand vor dem Fernseher, der unbeachtet einen Western abspielte. Ein namenloser Held lieferte sich eine wilde Schießerei mit einer kleinen Armee von Bösewichten. Wie durch ein Wunder war keiner von ihnen ein besonders treffsicherer Schütze, er selbst dafür um so mehr.
Während auf der Mattscheibe die Gangster von Dächern und Pferden fielen, stand Flo vor seinem Kleiderschrank. Gerade frisch geduscht suchte er nach etwas, was sich den Rest des Tages noch gut tragen ließ. Die Auswahl war begrenzt. Ein Polo-Shirt, welches er hasste, zwei T-Shirts mit Löchern, die er eigentlich längst weggeschmissen haben wollte, eine Schlafanzughose und zwei einzelne, unterschiedliche Socken. Er griff, was er brauchen konnte und ergänzte die fehlenden Teile von dem großen Haufen neben dem Schrank.
Der Haufen Schmutzwäsche war in den letzten zwei Wochen beständig gewachsen und beinhaltete inzwischen alles an halbwegs vorzeigbaren Klamotten, die er besaß. Vor seinem inneren Auge konnte er Fliegen darüber schwirren sehen. Wenn er nächste Woche nicht nackt in die Vorlesungen gehen wollte, dann musste er waschen gehen. Oder er ginge einfach überhaupt nicht aber dann würde ihn Mia garantiert umbringen.
Er zog seinen Koffer unter dem Bett heraus, stopfte die Schmutzwäsche hinein und suchte sein Kleingeld zusammen. Der Weg zum Waschsalon war nicht weit aber es reichte, um sich zu ärgern, keine Jacke angezogen zu haben. Die großen Fenster des Salons waren neben den Straßenlaternen die einzigen, erwähnenswerten Lichtquellen. Ansonsten lag die Straße im Dunkeln.
Flo hatte erwartet, den Raum fast leer vorzufinden. Es war Sonntagabend, das Wetter war mies und eigentlich hatte jeder vernünftige Mensch doch etwas Besseres zu tun. Stattdessen fand er mehr als die Hälfte der Maschinen besetzt vor, ihre Besitzer den müden Blick abwesend darauf gerichtet. Das blasse Neonlicht verlieh ihnen eine fahle, graue Färbung, die sie irgendwie unwirklich, wie Zombies wirken ließ.
Er bahnte sich einen Weg durch die stumme Horde zu einer freien Maschine. Ein Mädchen, etwa in seinem Alter, hob kurz den Blick und lächelte ihm zu. Das musste das absolute Maximum an Bewegung gewesen sein, was dieses Gesicht in der letzten halben Stunde erlebt hatte. Ohne eine Reaktion abzuwarten, wandte sie sich wieder ihrer Maschine zu. Die Anzeige ließ verlauten, dass die Wäsche in etwa zehn Minuten fertig sein würde. So lange würde das Mädchen wohl noch auf das Bullauge starren, das Gesicht halb von den dunklen Locken verdeckt.
Wortlos wie die Anderen belud er eine freie Maschine, füllte die Waschmittelfächer und stopfte das Kleingeld in den Kassenautomaten. Mit einem Rasseln setzte sich die Trommel in Bewegung und die Anzeige leuchtete auf. Fünfunddreißig Minuten. Er hatte sich zwar seinen Block eingepackt aber in der allgemein depressiv wirkenden Gesamtstimmung verspürte er keine Motivation, ihn auch nur aufzuschlagen.
Neben der Türe stand ein Bücherregal zum Büchertauschen. Gelegentlich fand sich darin etwas Spannendes, heute natürlich nicht. Flo ließ den Blick durch den Waschsalon streifen. Die Szene hatte sich kaum verändert. Wortlose graue Gestalten standen umher, jeder für sich. Vor seinem inneren Auge sah er eine Filmszene ablaufen. Eine Gestalt, ein Superheld oder wer auch immer, kam durch die Fensterscheibe geflogen, prallte mit einem dumpfen Knall gegen die Rückwand des Raumes und klatschte auf die Fliesen. Als er aufstand, hoben vereinzelte Zuschauer kurz den Blick. Der Fluggast verließ das Geschäft durch die Türe, als wäre nichts gewesen. Von den hochinteressierten Zuschauern wurde das Ganze, hollywoodmäßig, mit einem zufriedenen Kopfnicken quittiert, ehe sie sich wieder ihrer Wäsche zuwandten.
Irgendwie bedauerte er es, dass davon nichts echt passiert war. Die Scheibe war heile und dreckig wie immer, die Waschmaschinen brummten unbeeindruckt vor sich hin und in den Trommeln klapperten Knöpfe und Reißverschlüsse. Vielleicht sollte er sich doch noch einmal dem Bücherregal widmen. Wenn schon nichts Spannendes dabei war, irgendetwas musste es doch geben. Von der Kreuzung, etwa hundert Meter die Straße hinab nahte die Rettung vor der Langeweile.
Mit viel Getöse und lautem Gelächter näherte sich ein Mann mittleren Alters und einem Telefon am Ohr. Auf dem Rücken trug er einen Reiserucksack, aus dem schlammige Hosenbeine baumelten. Er steuerte genau auf das helle Licht des Waschsalons zu. Flo freute sich schon darauf, herrlich banalen Belanglosigkeiten fremder Leute lauschen zu können. Das lautstarke Geläster hinter einer rhetorisch vorgehaltenen Hand wirkte vielversprechend und offensichtlich hatte der werte Herr auch ein ausgedehntes Liebesleben, vor der Türe aber steckte er das Telefon weg, betrat den Waschsalon und verfiel in die gleiche betrübt-depressive Stimmung wie der Rest.
Das Bücherregal war wohl doch die einzige Rettung vor der Langeweile. Er griff ein beliebiges Exemplar der Kategorie „zum Lesen weggegeben da zu schlecht zum noch einmal lesen“ und versuchte sich darin zu vertiefen. Schemenhaft schoben sich die Wäschezombies umher, wenn ihre Maschine fertig war und die Wäsche getrocknet oder gefaltet werden musste. Eine halbe Stunde am Sonntagabend konnte wirklich lang dauern.
Zehn Seiten später ließ Flos Waschmaschine mit einem Klicken verlauten, dass sie fertig war. Trocknen konnte die Wäsche auch zu Hause, dafür reichte seine Geduld nicht mehr. Ganz abgesehen davon bekam er für den Preis des Trockners sicher zwei Flaschen billiges Bier. Als er die nasse Wäsche in den Koffer schaufelte, vibrierte sein Telefon.
„Tiefkühler ausgefallen. Eis muss weg, ehe es schmilzt. Bring Jenny mit, wenn sie Zeit hat. Grüße, Mia und Erik.“
Die erste Vorlesung am Montagmorgen würde wohl ausfallen.