Regenbogen Regenschirm
Es war etwas mehr als eine Stunde her, dass Flo seine Wohnung verlassen hatte um zum Bahnhof zu laufen und in den Zug zu steigen. Er hatte versucht sich während der Fahrt zu entspannen, vielleicht sogar etwas für die Uni zu tun. Es wäre dringend nötig gewesen aber er konnte sich nicht dazu aufraffen. Er war viel zu kribbelig.
Eigentlich hatte er erwartet, dass es im Laufe der Zeit besser werden würde aber das Gegenteil war der Fall. Mit jedem Treffen mit Kristina wurde er aufgekratzter und hibbeliger. Er hatte für kaum noch etwas anderes einen Kopf. Nicht einmal mehr für Bier. Hätte er noch einen Kopf dafür gehabt, hätte ihm das vielleicht Sorgen bereitet. Seinen Block hatte er auf seinem Schoß liegen, den Blick starr aus dem Fenster gerichtet. Er zwang sich zur Ruhe aber sein Bein wippte trotzdem unkontrollierbar.
Mia hatte ihm wieder einmal einen dieser stummen, kritischen Blicke gegeben, als er ihr gesagt hatte, dass er heute nicht mit lernen konnte. Sie hatte am Ende aber nur gefragt, ob er sich mit Jenny treffen würde. Wieso hätte er das tun sollen und wieso stellte sie solche Fragen? Er hatte seit Wochen, wenn nicht sogar Monaten nichts mehr von Jenny gehört. Vielleicht hätte er dafür wieder zum Sport gehen müssen aber wieso? Er war doch nur für sie dort hingegangen und das war nun Geschichte. Außerdem wusste Mia ganz genau, dass er sich mit Kristina traf. Sie hatte sie sogar schon kennengelernt, konnte sich aber wohl ihr Gesicht und ihren Namen nicht merken. Interessanterweise war Mias Reaktion auf Kristina deutlich freundlicher gewesen, als die zu Jenny. Flo erschien es so, als habe sie ihnen damit ihren Segen erteilt, auch wenn er darauf bisher auch schon immer verzichtet hatte.
Er konnte es jedenfalls kaum abwarten, aus dem Zug zu steigen. Lediglich das Wetter wollte ihm die Vorfreude dämpfen. Schwere Wolken hatten die Mittagssonne in ein trübes Dämmerlicht verwandelt und ein rauer Wind riss an den kahlen Ästen. Die sonst so verhasste Kälte wirkte heute irgendwie gemütlich. Das Vorlesungsskript, welches er lernen wollte, lag unbeachtet auf seinem Schoß, neben der Zeitschrift, mit der er sich vom Lernen abhalten wollte.
Als der Zug in den kleinen Provinzbahnhof einfuhr, hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet. Dichte Regenschleier verwehrten den Blick auf das schmuddelige, alte Bahnhofsgebäude. Vor etwa hundert Jahren musste es der ganze Stolz der Stadt gewesen sein aber in den letzten fünfzig Jahren schien sich niemand mehr darum bemüht zu haben. Heute war der Bahnsteig quasi menschenleer. Ein einziger kunterbunter Regenschirm wartete unter den finstren Regenwolken auf den Zug. Wieso brauchte der verdammte Zug eigentlich so lange, um zum Stillstand zu kommen und seine Türen zu öffnen? Flo konnte es nicht länger abwarten.
Ob er sie nun zum ersten oder zum tausendsten Mal sah, es machte keinen Unterschied. Für ihn war sie die schönste Frau der Welt, wenn nicht sogar des Universums. Wie sie dort stand und ihm entgehen lächelte. Mit ihrem riesigen Regenschirm in allen Farben des Regenbogens, mit ihrem eleganten Filzmantel, über dessen Schultern das weiche, lockige Haar fiel. Der Wind wehte eine einzelne Strähne in ihr makelloses Gesicht, verlieh den warmen, fröhlichen Augen einen mystischen Glanz. Und dieses sagenhafte Wesen stand hier nur für ihn im Regen. Nur für den trotteligen Dauerstudenten, dessen größter Erfolg der letzten Woche darin bestand, an jedem Tag das Bett verlassen zu haben.
Mit nichts in der Welt konnte er sich erklären, womit er sie verdient hatte und wie er es schaffte, sie derart zum Strahlen zu bringen. Er betete zu allen vergessenen und toten Göttern, an die er trotzdem nicht recht glauben konnte, dass sie es nie realisieren würde. Wenn er dieser Frau einen Wunsch erfüllen konnte, dann würde er es mit Begeisterung tun. Mit ihr an seiner Seite fühlte sich einfach alles so ungleich schöner an. Selbst dieser dichte Regen hatte eine traumhaft romantische Note.
Er verfluchte sich im Stillen dafür, keinen großen Strauß Rosen dabei zu haben. Es wäre nicht sein Stil gewesen aber es hätte die romantische Stimmung auf jeden Fall untermauert, auch wenn er es falsch gefunden hätte. Eine Pflanze zu züchten, nur um ihr dann den schönsten Teil abzuschneiden und den sterbenden Kadaver als Beweis der eigenen Liebe zu überbringen. Das erschien ihm grausam und kein Stück romantisch. Eine lebende Rose, im Blumentopf und mit Knospen, die sich noch entfalten konnten, das war etwas ganz anderes. Nächstes Mal würde er daran denken und das umsetzen. Der Bonus war, dass diese Pflanze mit etwas Zuneigung und Pflege genau wie ihre Liebe wachsen konnte.
Wobei, konnte seine Liebe eigentlich noch wachsen? Kristina streckte sich, um ihm einen Kuss zu geben und, um ihn mit unter den großen Regenschirm zu lassen. Als er sie in die Arme schloss, hätte er am liebsten nie wieder losgelassen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie man Liebe noch intensiver spüren konnte als mit diesem Herzrasen. Er fühlte sich so leicht, der erste Windhauch müsste ihn davon tragen. Ihr Blick war seine Ankerkette, ihre Augen schienen direkt in sein Herz zu sehen und es weiter anzutreiben. Sie besaß absolute Macht über ihn und es gefiel ihm so.
So und nicht anders musste es sein.