Archiv für den Monat Juni 2015

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 39

Regenbogen Regenschirm

Es war etwas mehr als eine Stunde her, dass Flo seine Wohnung verlassen hatte um zum Bahnhof zu laufen und in den Zug zu steigen. Er hatte versucht sich während der Fahrt zu entspannen, vielleicht sogar etwas für die Uni zu tun. Es wäre dringend nötig gewesen aber er konnte sich nicht dazu aufraffen. Er war viel zu kribbelig.

Eigentlich hatte er erwartet, dass es im Laufe der Zeit besser werden würde aber das Gegenteil war der Fall. Mit jedem Treffen mit Kristina wurde er aufgekratzter und hibbeliger. Er hatte für kaum noch etwas anderes einen Kopf. Nicht einmal mehr für Bier. Hätte er noch einen Kopf dafür gehabt, hätte ihm das vielleicht Sorgen bereitet. Seinen Block hatte er auf seinem Schoß liegen, den Blick starr aus dem Fenster gerichtet. Er zwang sich zur Ruhe aber sein Bein wippte trotzdem unkontrollierbar.

Mia hatte ihm wieder einmal einen dieser stummen, kritischen Blicke gegeben, als er ihr gesagt hatte, dass er heute nicht mit lernen konnte. Sie hatte am Ende aber nur gefragt, ob er sich mit Jenny treffen würde. Wieso hätte er das tun sollen und wieso stellte sie solche Fragen? Er hatte seit Wochen, wenn nicht sogar Monaten nichts mehr von Jenny gehört. Vielleicht hätte er dafür wieder zum Sport gehen müssen aber wieso? Er war doch nur für sie dort hingegangen und das war nun Geschichte. Außerdem wusste Mia ganz genau, dass er sich mit Kristina traf. Sie hatte sie sogar schon kennengelernt, konnte sich aber wohl ihr Gesicht und ihren Namen nicht merken. Interessanterweise war Mias Reaktion auf Kristina deutlich freundlicher gewesen, als die zu Jenny. Flo erschien es so, als habe sie ihnen damit ihren Segen erteilt, auch wenn er darauf bisher auch schon immer verzichtet hatte.

Er konnte es jedenfalls kaum abwarten, aus dem Zug zu steigen. Lediglich das Wetter wollte ihm die Vorfreude dämpfen. Schwere Wolken hatten die Mittagssonne in ein trübes Dämmerlicht verwandelt und ein rauer Wind riss an den kahlen Ästen. Die sonst so verhasste Kälte wirkte heute irgendwie gemütlich. Das Vorlesungsskript, welches er lernen wollte, lag unbeachtet auf seinem Schoß, neben der Zeitschrift, mit der er sich vom Lernen abhalten wollte.

Als der Zug in den kleinen Provinzbahnhof einfuhr, hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet. Dichte Regenschleier verwehrten den Blick auf das schmuddelige, alte Bahnhofsgebäude. Vor etwa hundert Jahren musste es der ganze Stolz der Stadt gewesen sein aber in den letzten fünfzig Jahren schien sich niemand mehr darum bemüht zu haben. Heute war der Bahnsteig quasi menschenleer. Ein einziger kunterbunter Regenschirm wartete unter den finstren Regenwolken auf den Zug. Wieso brauchte der verdammte Zug eigentlich so lange, um zum Stillstand zu kommen und seine Türen zu öffnen? Flo konnte es nicht länger abwarten.

Ob er sie nun zum ersten oder zum tausendsten Mal sah, es machte keinen Unterschied. Für ihn war sie die schönste Frau der Welt, wenn nicht sogar des Universums. Wie sie dort stand und ihm entgehen lächelte. Mit ihrem riesigen Regenschirm in allen Farben des Regenbogens, mit ihrem eleganten Filzmantel, über dessen Schultern das weiche, lockige Haar fiel. Der Wind wehte eine einzelne Strähne in ihr makelloses Gesicht, verlieh den warmen, fröhlichen Augen einen mystischen Glanz. Und dieses sagenhafte Wesen stand hier nur für ihn im Regen. Nur für den trotteligen Dauerstudenten, dessen größter Erfolg der letzten Woche darin bestand, an jedem Tag das Bett verlassen zu haben.

Mit nichts in der Welt konnte er sich erklären, womit er sie verdient hatte und wie er es schaffte, sie derart zum Strahlen zu bringen. Er betete zu allen vergessenen und toten Göttern, an die er trotzdem nicht recht glauben konnte, dass sie es nie realisieren würde. Wenn er dieser Frau einen Wunsch erfüllen konnte, dann würde er es mit Begeisterung tun. Mit ihr an seiner Seite fühlte sich einfach alles so ungleich schöner an. Selbst dieser dichte Regen hatte eine traumhaft romantische Note.

Er verfluchte sich im Stillen dafür, keinen großen Strauß Rosen dabei zu haben. Es wäre nicht sein Stil gewesen aber es hätte die romantische Stimmung auf jeden Fall untermauert, auch wenn er es falsch gefunden hätte. Eine Pflanze zu züchten, nur um ihr dann den schönsten Teil abzuschneiden und den sterbenden Kadaver als Beweis der eigenen Liebe zu überbringen. Das erschien ihm grausam und kein Stück romantisch. Eine lebende Rose, im Blumentopf und mit Knospen, die sich noch entfalten konnten, das war etwas ganz anderes. Nächstes Mal würde er daran denken und das umsetzen. Der Bonus war, dass diese Pflanze mit etwas Zuneigung und Pflege genau wie ihre Liebe wachsen konnte.

Wobei, konnte seine Liebe eigentlich noch wachsen? Kristina streckte sich, um ihm einen Kuss zu geben und, um ihn mit unter den großen Regenschirm zu lassen. Als er sie in die Arme schloss, hätte er am liebsten nie wieder losgelassen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie man Liebe noch intensiver spüren konnte als mit diesem Herzrasen. Er fühlte sich so leicht, der erste Windhauch müsste ihn davon tragen. Ihr Blick war seine Ankerkette, ihre Augen schienen direkt in sein Herz zu sehen und es weiter anzutreiben. Sie besaß absolute Macht über ihn und es gefiel ihm so.

So und nicht anders musste es sein.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 38

Seminar

Eine goldene Spätherbstsonne strahlte durch das Fenster und blendete Flo. Der Start des Seminars verzögerte sich heute geringfügig, da die beiden Vortragenden es nicht schafften, ihren Laptop an das System der Uni anzuschließen. Es war noch früh, gerade einmal zehn Uhr. Verträumt starrte er in die helle Scheibe, die aus einem wolkenlosen Himmel hinab schien. Es war kalt geworden und selbst bei schönem Wetter wie heute, wollte man nicht mehr auf eine dicke Jacke verzichten. Für Flo war das perfekt. Er hasste es zu schwitzen, und wenn es so kalt war, konnte ihm das einfach nicht passieren. Allerdings war es vielleicht langsam Zeit, das Fenster wenigstens nachts zu schließen. Raureif auf dem Teppich machte es nicht unbedingt leichter, zu früh aufzustehen.

Die beiden Vortragenden hatten sich dazu durchgerungen, eine Sparversion ihres Vortrags auf einem anderen Rechner laufen zu lassen. Die Formatierung war zwar zerstört, der halbe Text verschwunden und die Bilder von grauen Rahmen überlagert aber es war das Beste, was sie gerade bekommen konnten. Ärgerlich, aber mit einem guten Vortrag durchaus ein Stück weit auszugleichen.

Wenn er ehrlich war, dann musste Flo zugeben, dass ihn das aber alles nicht interessierte. Er war unausgeschlafen und die Sonne machte ihn nur noch müder, statt ihn zu wecken. Er träumte vom Sommer. Davon, in der Sonne zu liegen, ein Eis zu essen und schönen Mädels nach zu sehen. Auch wenn sie in letzter Zeit in seinem Kopf alle gleich aussahen. Die werte Dame aus der Bahn war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen und er war regelrecht daran verzweifelt, dass keine Nachricht kam. Sie raubte ihm buchstäblich den Schlaf. Selbst jetzt, Wochen, nachdem er die erste Mail von ihr bekommen hatte.

Das Handout wurde rundgereicht. Flo nahm sich eins, warf einen kurzen Blick darauf und überflog die Stichpunkte. Ohne das Referat war das Blatt leider völlig wertlos, die Stichpunkte sagten genau gar nichts aus. Dem Dozenten würde das so egal sein wie alles andere auch. Er saß nur seine Zeit ab, hing seinen eigenen Gedanken nach oder schlief einfach. Er hatte sich nicht ganz freiwillig für diesen Job gemeldet. Es war einfach eine unumgängliche Pflicht für Doktoranden, auch in der Lehre aktiv zu sein. Selbst für die Promotion hatte er sich nicht einmal selbst entschieden. Er hatte sich von seiner Freundin überreden lassen, diesen Schritt gemeinsam mit ihr zu machen, nur an einem anderen Lehrstuhl. Man sah ihm an, wie sehr er diesen Schritt bereute und wie lustlos er sich durch seine Dissertation quälte. Entsprechend verlief das Seminar.

Das blonde Mädchen, welches sonst immer in der letzten Reihe saß und permanent redete, begann stotternd ihren Vortrag. Sie war unsicher in ihrem Text und hatte ihn wahrscheinlich bis eben noch nicht einmal gesehen. Es war kein Thema, in dem sie sich auskannte, das war deutlich. Dabei lag es nun schon etliche Wochen zurück, dass sie das Thema bekommen hatte. Selbst Flo, der sich zeitweise fühlte, als wäre er zu faul zum Atmen, hatte nur wenig Verständnis. Hätte er zugehört, wäre ihm trotzdem nicht mehr aufgefallen, als ihr zusammenhangloses Gefasel. Der Vortrag war dünn und in jeder Hinsicht schwach. Wie Butter, die auf zu viel Brot verstrichen wurde.

Wäre der Vortrag gut gewesen, müsste er jetzt nicht darum kämpfen, mit dem Kopf auf dem Tisch aufzuschlagen. Es war zu früh, um bis drei Uhr in der letzten Nacht Mails zu beantworten. Die geheimnisvolle Dame aus der Bahn, welcher er nur einen Zettel mit Adresse zugesteckt hatte, hatte sich tatsächlich gemeldet. Für den Verlauf der Geschichte wäre es auch sehr witzlos gewesen, wenn es bei diesem einen Stück Papier geblieben wäre. Die Vernunft hatte Flo dennoch davon abgehalten, sich direkt Hals über Kopf in ein neues Abenteuer zu stürzen. Er musste gestehen, er war etwas vorsichtiger geworden und er fühlte sich entsetzlich alt dabei.

Das alles hatte ihn aber nicht davon abgehalten, auf ihre Mails zu antworten. Und wie er antwortete. Egal zu welcher Tageszeit, ohne Wartezeiten und immer mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Er war glücklich und bis über alle Haarspitzen verschossen. Sie hatte ihm ein Foto geschickt, als Beweis, dass es auch wirklich sie war, die ihm schrieb. Das einzige Selfie des Jahres, das hatte sie ihm versichert. Ein Ausdruck davon befand sich auf seinem Nachttisch und er schlief keine Nacht, ohne es nicht für wenigstens eine viertel Stunde wie ein Irrer anzugrinsen.

Ich bin doch wirklich zu Nichts mehr zu gebrauchen. Und das alles auch noch im nüchternen Zustand.

Es war schon vor beinahe zwei Wochen gewesen, als er realisiert hatte, dass er nicht nur nüchtern war, sondern auch überhaupt kein Bedürfnis hatte, zu trinken. Er war erschrocken gewesen, wenn nicht sogar leicht verstört. Erik mochte Verdacht geschöpft haben, aber er ließ sich nicht viel anmerken. Es musste ihm aber aufgefallen sein, dass Flo ihn immer wieder vertröstete, wenn es an eines der üblichen Saufgelage ging. Auf der anderen Seite war Erik aber auch fast fünf Jahre jünger als Flo und vertrug es einfach besser.

So sehr er es auch wollte, er konnte sich heute einfach nicht auf seine Gedanken konzentrieren. Die Sonne wollte einfach nicht weit genug steigen, um ihm aus den Augen zu gehen und das Gestammel von vorne war so abgehackt, dass man es nicht einmal überhören konnte. Das einzig Gute daran war, dass er sich nur bis zum Wochenende retten musste. Der Unterschied war diesmal nur, dass nicht er in den Zug steigen würde, sondern Kristina. Sie hatten den kompletten Samstag gemeinsam, wenn auch nur den Samstag. Aber es war doch besser als Nichts, oder? Und es fühlte sich einfach so sagenhaft an, sie zu sehen.

Der Dozent hatte die Referentin unterbrochen und einige Fragen in den Raum gerufen. Er hatte nicht auf eine Pause gewartet oder eine Frage angekündigt sondern einfach hineingerufen. Mit hochrotem Kopf stand das arme Mädel vor dem Kurs und war nicht nur aus dem Konzept gebracht, sondern auch völlig verunsichert. Ihr Gesicht schien sagen zu wollen „Das habe ich doch eben erst gesagt, oder?“ Stattdessen stammelte sie eine halbe Antwort, drehte sich unvermittelt um und stürmte aus dem Raum. Sie ließ Ratlosigkeit und Verwirrung auf den Gesichtern ihres Kollegen und des Dozenten zurück.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 37

Die Leiden der jungen J.

Es war eine Katastrophe. Nein, das traf es nicht richtig. Es war die Katastrophe! Seit Tagen, wenn nicht sogar Wochen versucht sie Flo zu erreichen, aber er ignoriert sie. Zum Volleyball kam er auch schon lange nicht mehr. Darüber war sie nicht weiter verwundert. Sie wusste schließlich, dass er ursprünglich nur für sie dort hingekommen war. Und nun, wo sie so dringend mit ihm reden wollte, da war er nicht mehr da. Sie hatte versucht ihn in der Uni zu finden, auf seinem Weg zum Bus gewartet und hatte lange Umwege gemacht, nur um in seinen üblichen Supermärkten einkaufen zu gehen, in der vagen Hoffnung, ihn zufällig zu treffen. Auf Mail und Anrufe antwortete er auch nicht. Es fehlte nicht viel, und sie würde vor seiner Türe auf ihn warten, und wenn es den ganzen Tag dauern würde.

Wie konnte er sie einfach so ignorieren? Wie konnte er sie so schnell vergessen und mit ihr abschließen und wieso fühlte sich das so entsetzlich an? Es war doch eigentlich ihr Part, eine Beziehung abzuschließen und zu vergessen. Und mit Flo war sie ja nicht einmal offiziell zusammen gewesen. Es war eher eine Art Liebschaft gewesen, eine Affäre, ein Ausbruch von Leidenschaft, ein aufregendes Spiel. Eigentlich hatte sie das ablegen müssen wie ein schmutziges Kleid.

Ihr war bewusst gewesen, dass Flo die Situation anders eingeschätzt hatte. Sein Ziel war eine Beziehung gewesen aber eine solche Bindung ging ihr zu weit. Sie hatte es ihm sagen wollen aber die Situation dazu hatte sich nie ergeben und der Sex war einfach viel zu gut gewesen, um ihn zu verscheuchen. Wieso hatte sie gezögert, Klartext mit ihm zu reden? Sie hatte es nicht gekonnt und nicht verstanden wieso.

Sie hatte andere Männer nebenher getroffen und war entsetzt, dass es sich zum ersten Mal in ihrem Leben einfach falsch angefühlt hatte. Sie hatte mit einem Kerl, den sie vor einer Stunde in einer Bar getroffen hatte, im Bett gelegen, an Flo gedacht und sich entsetzlich elend gefühlt. Wieso hatte sie das getan? Wieso hatte ihr Flo nicht gereicht? Vielleicht hatte er das ja sogar und es war nur die Macht der Gewohnheit gewesen.

Sie hatte erkannt, dass das, was sie getan hatte, Flo verletzten würde. Panik hatte sie erfasst und sie war vor ihm davongelaufen. Die Macht, die er über sie bekommen hatte, hatte Entsetzen in ihr ausgelöst und sie hatte versucht, sich in fremden Betten abzulenken. Befriedigung hatte sie dort aber nicht gefunden, im Gegenteil. Wie ein Verdurstender, der seinen Durst mit Salzwasser zu stillen versucht, war es immer schlimmer geworden, bis sie begann, sich selbst zu verabscheuen.

Auf einmal konnte sie verstehen, wieso Mia sie so herablassend behandelt hatte. Nicht, weil sie so eingebildet war, sondern weil sie Jenny für ihr Verhalten offen verachtete. Es war die Art gewesen, wie sie mit Flo umging, die bei Mia auf Ablehnung gestoßen war. Dabei stritt diese sich mit ihrem eigenen Freund auch oft genug. Mia und Erik stritten sich aber nur über Kleinigkeiten und nie wirklich intensiv. Im Grunde ihres Herzens beneidete Jenny die beiden, um ihre harmonische Beziehung.

Dann, vor ein paar Wochen, hatte eine ihrer Freundinnen Flo von einer Party mit nach Hause genommen. Nadja behauptete, sichergehen zu wollen, dass er auch heile ankam. Diese miese Schlampe, als hätte sie nicht versucht, ihr den Freund auszuspannen. Es tat ja rein gar nichts zur Sache, dass sie nicht zusammen waren. Das Schlimmste war ja, dass sie nun schon allein deswegen mit ihm Schluss machen musste, um ihr Gesicht zu wahren. Dabei war das genau das, was sie am allerwenigsten wollte. Gerade jetzt brauchte sie einen Mann an ihrer Seite mehr als je zuvor. Und sie wollte nicht irgendeinen, sondern diesen Mann.

Inzwischen verfluchte sie den Sonntagmorgen. Unter der Woche musste sie aufstehen und zur Uni, samstags einkaufen und putzen. Nur für den Sonntag blieb ihr keine Ausrede und keine Energie mehr zum Aufstehen. Mit verheulten Augen lag sie im Bett und hasste sich dafür, ihre Gedanken nicht zum Schweigen bringen zu können. War sie nicht eine starke, erwachsene, unabhängige Frau? Wieso konnte sie es dann nicht verhindern, dass sie von Selbstzweifeln zerfressen wurde? Ihr Selbstmitleid gefiel ihr überhaupt nicht.

Es war schon eine Weile her, dass Elly ihr einen Schwangerschaftstest in der Apotheke gekauft hatte. Die Schachtel lag noch immer ungeöffnet auf ihrem Nachttisch. Sie hatte sich noch nicht getraut, ihn zu befragen. Sie konnte ja nicht einmal sagen, von wem es war, wenn sie wirklich schwanger war. Sie wusste nur, dass Flo es nicht sein konnte und er selbst musste das auch wissen. Sie konnte es ihm also nicht einmal unterschieben und ihn so an sich binden.

Zu allem Überfluss ging Elly zwei Mal die Woche mit der unsäglichen Mia zum Schwimmtraining. Obwohl sie mit Erik zusammen war, hatte Jenny den Eindruck, dass sie nicht zögern würde, mit ihrem Flo etwas anzufangen. Und nach allem was Elly so erzählte, war Flo wohl im Moment verliebt und das sicher nicht in Jenny. Es war wirklich die Katastrophe.

Auch wenn sie sich so gerne bemüht hätte, wenn sie ehrlich war, konnte sie niemandem sonst die Schuld zuschieben. Sie hatte es selbst versaut und konnte nun nicht einmal mehr mit ihm reden. Es sei denn, sie setzte sich wirklich vor seine Tür und lauerte ihm auf. Oder Elly konnte mit Mia reden und ihm so eine Nachricht überbringen. Die Beiden würden es ohnehin irgendwie erfahren. Sie wollte doch nur mit ihm reden, wissen, ob alles in Ordnung war und es ihm gut ging. Und was wollte sie ihm dann sagen? Sie wusste es nicht genau.

Träge rollte sie sich aus dem Bett. Mit geröteten Augen sah sie auf die Schachtel auf ihrem Nachttisch hinab. Sie hatte sie schon so oft geöffnet, nur um sie wieder zu schließen und beiseitezuschieben. Diesmal nahm sie ihn mit ins Bad. Irgendwann brauchte sie sowieso Gewissheit.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 36

Herbstfest

Das war es also, das berühmte Herbstfest. Eine volle Woche hatte Mia Erik bearbeitet, er müsse unbedingt mit ihr dort hin. Die Party des Jahres sollte es sein, die Stimmungsbombe der Saison. Und außerdem ging jeder hin, da konnte er sie auf keinen Fall alleine hingehen lassen. Wenigstens was das anging, hatte sie gelogen.

Auch wenn das Festzelt dicht gedrängt war, Erik kannte kein einziges der Gesichter, die er sehen konnte. Er hätte das von Mia gekannt, aber das war nicht mehr zu finden. Sie waren noch keine zehn Minuten im Zelt gewesen, da hatte sie alte Freundinnen aus ihrer Schulzeit gesehen und war verschwunden. Inzwischen hatte er es sogar aufgegeben, sich nach ihr umzusehen, oder nach einem anderen bekannten Gesicht.

Jeder hier schien jeden zu kennen, als wäre es alles eine Dorfgemeinschaft. Erik passte hier nicht hinein, er war ein Fremdkörper. Er kam ja nicht einmal aus der Region! Seine nächsten Verwandten wohnten eine zweistündige Bahnreise entfernt und Kontakte hatte er hier auch nie wirklich gefunden. Klar, er hatte Mia und Flo aber Mia war verschwunden und Flo hatte nur gesagt, er habe bereits etwas anderes vor. In letzter Zeit was der Gute irgendwie recht abwesend, körperlich wie geistig. Und plötzlich stand Erik mitten in einem vollen Festzelt und fühlte sich ganz schrecklich allein gelassen.

Mia hatte ihn zu diesem Fest überredet, weil er im Moment eine kleine Tiefphase hatte. Allgemeine Lustlosigkeit, Motivationsverlust, ein permanenter Erschöpfungszustand und Müdigkeit. Wofür stand er morgens auf? Sie wollte ihm hiermit einen Grund dafür geben aber gerade wollte er eigentlich nur in sein Bett zurück. Sie konnte ja gerne hier bleiben und sich mit ihren Freunden vergnügen. Er konnte darauf gut verzichten. Sein Bier war ohnehin leer, es bot sich also noch mehr an. Wenn es nur ums Betrinken ging, das konnte er auch zu Hause. Da stand er dann auch niemandem im Weg.

Eine Gruppe viel zu junger und viel zu betrunkener Halbstarker drängte sich an ihm vorbei. Drei Meter weiter stießen sie auf eine zweite Gruppe ähnlichen Kalibers an denen sie sich auch mit lautem Gefluche nicht vorbei schieben konnten. Die beiden Gruppen bauten sich voreinander auf, bereit weder aneinander vorbei noch aufeinander zu, dafür aber aufeinander los zugehen. Wie eine Horde Affen standen sie da und keiften einander an. Die beiden Rudelführer kamen offensichtlich zu keinem Ergebnis mit ihrem Wettstreit, wer lauter die Mutter des jeweils anderen beleidigen konnte. Stattdessen holten sie aus.

Erik erwischte das Handgelenk, dessen Faust gerade Anlauf nehmen wollte, um sein Gegenüber zu treffen. Der Jugendliche wirbelte ein Stück durch die Luft, ehe Erik ihn bäuchlings in den Staub drückte und mit dem Fuß fixierte. Als er wieder aufsah, stellte er fest, dass auch der zweite Streithahn nicht mehr auf den Füßen stand. Er kniete vor einer jungen Frau und rieb sich den Kopf. Wäre die Welt ein Cartoon, aus dem Kopf des Mädels würden Dampfwolken schießen und ihre Zähne wären nur noch scharfe Dreiecke.

Der Rest der zwei Gruppen war vor Schreck wie erstarrt. Von Streit war plötzlich keine Rede mehr. Als dann auch noch vier Türsteher auftauchten, verschwanden sie eiligst im Getümmel. Die vier Schränke sahen sich mit müden Augen und unendlich langsam um. Erik hätte schwören können, ihre Gehirne arbeiten hören zu können. Sie rangen darum, ihre Autorität wieder herstellen zu können.

„Alles klar, wir übernehmen ab hier dann mal. Vielen Dank für eure Hilfe.“

Um die Situation nicht peinlich werden zu lassen. Hoben sie die beiden Halbstarken eilig auf und verschwanden Richtung Ausgang.

„Diese Trottel sind zu Nichts zu gebrauchen. Sie kommen immer erst zu spät und spielen sich dann auch noch groß auf. Du bist offensichtlich besser in dem Job. Die da schlagen sich offensichtlich genau so gerne wie die Kleinen.“ Sie nickte den Türstehern hinterher, ohne die Augen von ihm zu nehmen.

„Du kennst die also alle schon? Worum ging es überhaupt?“ Erik war irritiert. Die ganze Situation lief ihm viel zu schnell ab und dieses, zugegebenermaßen ausgesprochen ansehnliche Mädchen, musterte ihn mit unverhohlenem Interesse.

„Die brauchen keinen Grund, um sich zu schlagen. Sich zu begegnen reicht da leider völlig aus. Und ja, ich kenne sie. Der, den du von den Füßen geholt hast, ist ein Cousin von mir und der, den ich zwischen hatte, ist mein Onkel.“

„Dein Onkel. Aber der war doch sicher zehn Jahre jünger als du, wie haut das denn hin?“

„Etwa vierzehn Jahre, um ehrlich zu sein. Genau wie meine Mutter vor mir bin ich ein Unfall. Zu meiner Geburt war meine Mutter vierzehn und meine Oma noch nicht einmal dreißig. Als meine Mutter dann ihre Lehre abgeschlossen hatte und wir in eine eigene Wohnung ziehen konnten, war es meinen Großeltern wohl zu ruhig. Das Ergebnis ist dieses kleine Arschloch, was du eben kennengelernt hast, und was nur auf Streit aus ist.“

Es gibt Geschichten, die sind so unglaublich, dass sie unmöglich wahr sein können. Andererseits sind sie so absurd, dass sie genau so wahr sein müssen, weil sich niemand so etwas ausdenken kann. Was davon war jetzt dieser Fall? Ohne darüber nachzudenken, rutschte Erik eine andere Frage heraus.

„Und wie viele Kinder hast du dann jetzt schon?“

Sie lächelte. Sie wirkte dermaßen nüchtern und ehrlich, dass Erik ihr instinktiv Glauben schenken musste.

„Noch überhaupt keine, da passe ich schon auf. Mit etwas Glück bin ich die Erste aus der Familie, die einen Abschluss an der Uni schafft. Die wollen zwar eigentlich lieber, dass ich den Viehhof übernehme, der bis dahin eh bankrott ist, aber ich werde Elektrotechnikerin. Irgendjemand muss ja Ahnung von der Melkmaschine haben.“

Was genau wollte sie ihm mit dem Zwinkern mitteilen? Sie trug Stöckelschuhe mit respektablem Absatz und trotzdem war sie mehr als zwei Köpfe kleiner als er. Ihr Selbstbewusstsein alleine machte sie dafür vier Köpfe größer. Erik fühlte sich trotz seiner Größe plötzlich winzig. Dieses kleine Wesen hatte sich aus denkbar merkwürdigen Familienverhältnissen und entgegen vieler Wahrscheinlichkeiten zu einem Ingenieursstudium entschieden und ließ keinen Zweifel daran, dass sie es auch schaffen würde. Erik kam selbst aus einer Ingenieursfamilie und hatte immer das Gefühl gehabt, ebenfalls in diese Richtung gehen zu müssen. Seine Schulnoten hatten ihn davor bewahrt und insgeheim war er froh darum.

Trotzdem, im Augenblick hatte er das Gefühl, die Welt erwartete mehr von ihm. Mehr als er leisten konnte und wollte. Ein einfaches Leben, das wünschte er sich. Vielleicht eine Familie, um die er sich kümmern konnte und Fußball. Wenn er Mia heiraten sollte, dann würde sie sicher für die Kinder keine Pause einlegen, sondern ihm dieses Feld überlassen. Ein wenig freute er sich darauf, nur um gleich wieder die Sorge zu haben zu versagen. Von Kindererziehung hatte er doch keine Ahnung im Gegensatz zu Fußball. Reichte der Instinkt vielleicht? Eine kleine Hand griff nach der seinen.

„Na komm, Träumer. Wenn ich dich nicht zu sehr verjagt habe, dann tanz‘ eine Runde mit mir.“

Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu. Erik konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Dieses Mädchen hatte irgendwie einen viel zu beruhigenden Einfluss auf ihn. Ohne Protest ließ er sich von ihr auf die Tanzfläche ziehen. Der Abend war noch jung und zuhause wartete im Augenblick auch nichts auf ihn.