Archiv für den Monat Juli 2015

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 43

Blockade

Der unangenehmste Kater ist der, den man nicht am Tag danach, sondern noch einen Tag später hat. Der untrügliche Beweis, dass man es nicht mehr nur einfach übertrieben hat, sondern auch noch alt wird dabei. Das, was Flo dabei am meisten hasste, war das älter werden. Die neuen Erstis in der Uni erinnerten ihn eh schon jedes Jahr unsanft daran. Dass sich sein liebstes Hobby nun diesem Trend anschloss, gefiel ihm überhaupt nicht.

Dabei hatte er diesen Tag eigentlich fest als Lerntag eingeplant. Obwohl er keine Uni hatte, klingelte der Wecker und er hatte sich fertiggemacht, war sogar in die Uni gefahren, nur um jetzt in der Bibliothek zu sitzen und aus dem Fenster zu sehen. Sein Laptop war noch in seiner Tasche aber seine Papiere lagen ausgebreitet vor ihm. Wenn er schon nicht fleißig war, so sah er doch wenigstens so aus.

Nur sah er schon seit Stunden genau so aus. Jeder, der in den letzten drei Stunden oder mehr durch die Bibliothek gekommen war, konnte das sagen. Da half es auch nichts, dass er in einer etwas ruhigeren Ecke saß. Er starrte nur aus dem Fenster, träumte vor sich hin und beobachtete die Sonne beim Untergehen. Seine Papiere hatte er nicht angerührt, seinen Laptop ebenso wenig. Er belegte einfach einen Arbeitsplatz, während rund um ihn herum ein emsiges Treiben und konzentriertes Arbeiten herrschte.

Auch wenn er es gerne von sich behaupten würde, er träumte nicht einmal einen bestimmten Tagtraum oder eine Fantasie. Er starrte einfach nur leer vor sich hin. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Was dabei im Raum um ihn herum passierte, bekam er nicht mit. Es war ihm auch egal. Wenn er ehrlich war, heute war ihm eigentlich alles egal.

Er hatte auf sein Frühstück verzichtet, weil er zu faul war, sich ein Brot zu schmieren. Er hatte gegen Mittag einige Salzstangen gegessen aber nur, weil er den Eindruck hatte, etwas essen zu müssen. Er war in die Uni gefahren, nachdem er bemerkt hatte, dass er zu Hause nichts erledigen würde, aber hier war er noch weniger produktiv. Seine Flasche Wasser hatte er nicht angerührt, obwohl sein Mund sich trocken anfühlte. Ein alter Witz, der ihm aus irgendeinem Grund wieder eingefallen war, entlockte ihm keine irgendwie geartete Reaktion. Eigentlich hätte er überhaupt nicht aufstehen müssen.

Während draußen auf der Straße die Laternen angingen, versuchte er zum wiederholten Male an seine Aufgaben zu denken. Er las sogar mit einem halben Auge die Fragestellung durch, erfasste aber den Sinn der Worte nicht. Er sah schwarze Zeichen auf weißem Grund aber ohne jeden Zusammenhang und Sinn. Würde ihm jemand das Blatt gegen ein beliebiges anderes austauschen, er würde es nicht bemerken.

Er sollte es einfach sein lassen für den Tag und nach Hause gehen. Er sollte sich in sein Bett legen und den Tag einfach vergessen. Er konnte heute absolut nicht denken, so viel Mühe er sich auch geben wollte und im Moment war das auch echt nicht viel. Nachdem er den halben Tag nur unproduktiv herum gesessen und der Zeit beim Verstreichen zugesehen hatte, war seine Laune auch nicht mehr zwingend die Beste.

Ein junges Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, kam in den Lesesaal und steuerte eine der Arbeitsstationen an. „Die neuen Erstis werden wirklich immer jünger.“ ging es ihm durch den Kopf. Damit beschloss er, es für heute gut sein zu lassen. Während das Mädchen sich zu ihrer Mutter setzte, stopfte er seine Papiere lustlos zurück in den Rucksack. Er hätte sie nicht einmal auspacken müssen, es hätte keinen Unterschied gemacht.

Wieso war er denn in letzter Zeit so blockiert? Klar, er hatte heute einen leichten Kater aber das sollte doch nicht die Ursache sein. Immerhin war seine Blockade ja der Grund gewesen, wieso er in erster Linie getrunken hatte. Dieses miese Karma, das es sich immer rächen musste.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 42

WG-Leben

„Im Ernst, ich hab langsam echt genug. Wie kann man denn so ignorant sein? Es gibt ja Leute, die was schmuddeliger sind aber dermaßen schlampig?“

Als Flo zu Mia und Erik in die Bibliothek kam hatte Mia offensichtlich sehr schlechte Laune und Erik sich in eine andere Welt geflüchtet. Sein Blick ruhte auf einem imaginären Punkt, irgendwo in weiter Ferne und erweckte lediglich auf den ersten Blick den Eindruck, als würde er aufmerksam zuhören. Flo winkte den beiden kurz zu, wurde registriert, setzte sich schweigend hin, versuchte herauszubekommen, worum es ging und wurde spontan mit eingebunden.

„Ich meine, mal ehrlich, Flo, bei dir ist es auch nicht immer aufgeräumt, aber wenn du dir Müsli machst, landet es wenigstens in der Schüssel und nicht zur Hälfte auf dem Boden. Und selbst wenn, du räumst es wenigstens irgendwann wieder auf. Bei uns kann man nicht einmal ohne Schuhe in die Küche. Selbst der Staubsauger verstopft dabei!“

Flo sah Erik fragend an. Die Beiden überlegten schon eine ganze Weile, zusammenzuziehen. Bisher hatten sie aber noch keine geeignete Wohnung gefunden und Flo hatte den Eindruck, dass es auch nicht die höchste Priorität hatte. „Immerhin sind wir noch nicht einmal ein Jahr zusammen. Das hat noch etwas Luft.“ Aber wirklich glücklich schien Mia mit ihrer WG schon lange nicht mehr zu sein. Mia bemerkte Flos Blick und deutete ihn falsch.

„Doch nicht Erik, der benimmt sich. Aber meine werten Mitbewohnerinnen, ehrlich, ich hätte nie geglaubt, dass Frauen so dreckig sein können. Den Mülleimer im Badezimmer habe ich seit sicher einem halben Jahr nicht mehr angefasst und ich möchte wetten, keine von den Beiden hat den in der Zwischenzeit auch nur ein Mal leer gemacht. Und ich weigere mich, das Teil zu öffnen, solange die da ihre benutzten Tampons und Binden drin schimmeln lassen. Ja, das mein ich ernst. Da brauchst du gar nicht so ungläubig zu gucken, die lassen das Zeug da drinnen ernsthaft verschimmeln! Die sind grün statt rot oder braun oder was auch immer aus denen raus kommt. Das ist Sondermüll, ein Gesundheitsrisiko. Ich fass das nicht an, da hol ich mir doch wer-weiß-was.“

Flo lies Mia ungestört reden und holte seine Lernsachen heraus. Er wollte ihr nicht so sehr glauben, wie er es tat aber Mia übertrieb zu selten, um es jetzt zu tun. Sie hatte offensichtlich eine Menge Frust, den sie sich von der Seele reden musste und jetzt hatte Erik wenigstens etwas moralische Unterstützung.

„Und so geht das überall. In der Küche bin ich auch die Einzige, die den Müll versorgt. Wenn es nach denen geht, dann rottet eher die ganze Küche zu Klump, als dass die den anpacken. Aber kaum hänge ich ein frisches Trockentuch da hin, kommt eine von den Nasen auf die Idee, damit den Tisch abzuwischen, auf dem die ne Woche lang Obstsalat, Quark und Dosensuppen verteilt haben. Wie wäre es mal mit einem Waschlappen? Ach nein, das geht ja nicht. Den kann man nämlich nicht nass machen, weil die ganze, verdammte Spüle seit zwei Wochen mit stinkendem Geschirr voll steht! Hast du eine Ahnung, wie Brokkoli riecht, wenn er seit Tagen mit Fischfiletresten im Wasser liegt? Glaub mal, das willst du nicht wissen. Ich spüle schon eine ganze Weile nur noch in der Badewanne.“

„Oder sie kommt zum Essen und Spülen einfach zu mir.“ Erik war kurzzeitig aus seiner Apathie erwacht. Er blätterte die Seite um, die er schon seit gefühlten zehn Minuten ignorierte, und machte genau damit jetzt weiter.

„Ja, wahrscheinlich komme ich bald nach Hause, und die Wanne ist auch voll. Würde die ja nicht stören, die brauchen die ja eh nur alle paar Tage mal. Deswegen stinken die auch so sehr, dass die keinen Kerl abbekommen. Hat ja einen Grund, dass niemand was mit denen zu tun haben will.“

„Alle paar Tage nur? Also ich fühle mich echt fies, wenn ich ungeduscht aus dem Haus gehe und die Haare bekommst du dann auch zu keiner guten Frisur.“

„Flo, nichts für ungut aber, so viel Gel wie du manchmal benutzt sehen deine Haare auch schon ziemlich schleimig aus. Aber trotzdem, mehr als einmal Haarewaschen pro Woche ist ja ach so schlecht für die Kopfhaut. Angeblich hab ich deshalb auch so strohige Haare. Hallo? Geht’s noch?! Nur weil man bei mir noch die einzelnen Haare erkennen kann und nicht nur ölige Strähnen. Da könnte ich ja manches Mal so rein schlagen. Ich schaffe die Uni, habe einen Freund und Sex. Drei Dinge, die sie alle beide nicht haben und auch nicht haben werden. Sollen sie halt neidisch sein.“

„Und du siehst gut aus und riechst lecker.“

„Dankeschön, Schatz, aber das tut doch nichts zur Sache jetzt.“

„Finde ich schon, aber gut. Hast du noch mal versucht, mit ihnen zu reden? Du hattest das doch vor.“

„Wann denn? Die verlassen ihre Zimmer ja nie, was ich ja nicht verstehen kann, so nen Saustall wie das da ist. Und an den Wochenenden sind sie eh zu Hause. Das sind dann die einzigen Tage, wo ich ins Bad kann, ohne über deren dreckige Wäsche steigen zu müssen. Immerhin ist das der einzige Raum, den die nicht auch noch mit Straßenschuhen betreten. Inzwischen bin ich echt froh, dass ich nicht auch noch eine Waschmaschine gekauft habe.“

Die Furie hatte sich ihren gröbsten Zorn von der Lunge gehustet. Nun wirkte Mia zusammengesunken und wenigstens einen Kopf kleiner. Mit einem absolut elendem Gesichtsausdruck starrte sie auf ihr Buch. Als Flo sie vor einigen Monaten einmal besucht hatte, hatte sie ihm zum ersten Mal gebeten, die Schuhe bis zu ihrer Zimmertür anzulassen. Da hatte sie das Putzen bereits aufgegeben. Irgendwo war er überrascht, wie lange sie trotzdem durchgehalten hatte. Nur jetzt schien sie mit ihrer Geduld endgültig am Ende zu sein. Es fehlte nicht mehr viel, um sie völlig aufzulösen.

Erik war durch die plötzliche Ruhe aus seiner eigenen kleinen Welt in die Realität zurückgerissen worden. Erschrocken zuckte er zusammen, als er seine Freundin ansah, und nahm sie hastig in den Arm. Mia wäre beinahe von ihrem Stuhl gefallen, konnte sich gerade noch halten und ließ sich dann doch noch in seinen Schoß sinken. Er sah Flo teils Hilfe suchend, teils fragend an.

Flo aber war in Gedanken. Hinter seiner Stirn keimte ein Plan. Er wollte Mia das Leben erleichtern, solange sie noch nicht ausziehen konnte. Vielleicht wollte er sich auch einfach nur noch einmal richtig gepflegt daneben benehmen. Durch seine Neuronen wanderten Bilder von Mias Wohnung, gepaart mit viel Spüli, einem Gartenschlauch, sehr viel Wasser, großen Müllsäcken und sehr nassen Mitbewohnerinnen. Er musste unwillkürlich grinsen und fühlte sich dabei herrlich grausam und erfrischend gnadenlos. Oh, wie sehr würden die Beiden ihn hassen und oh, wie sehr freute er sich darauf.

Zwei Tage später wunderten sich Mia und Erik über den Einkaufszettel, den Flo ihnen per Mail geschickt hatte.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 41

Abendstunde

Zuerst war es Mia überhaupt nicht aufgefallen. Sie saß an ihrem Schreibtisch wie jeden Abend und versuchte den Tag aufzuarbeiten und den kommenden vorzubereiten. Erik leistete ihr Gesellschaft und tippte eifrig in seinem Laptop. Er wollte ihr nicht sagen, was er dort tat aber es nahm ihn voll und ganz ein. Zuerst hatte sie den Verdacht gehabt, er würde mit einer anderen Frau chatten, da er immer wieder Pausen machte und auf etwas zu warten schien. Irgendwann hatte sie aber einen kurzen Blick auf seinen Bildschirm werfen können und hatte gesehen, dass er nur ein Textprogramm offen hatte. Sie war neugierig aber stellte keine weiteren Fragen. Es fiel ihr sehr schwer, aber sie wollte seinen Wunsch respektieren.

Mit dem Klackern der Tastatur im Hintergrund wühlte sie sich durch ihre ungeordneten Aufzeichnungen auf der Suche nach einem verlorenen Übungsblatt. Die letzten zehn Minuten hatte sie abwesend aus dem Fenster gestarrt und einem blassen Tagtraum nachgehangen. Sie konnte sich kein Stück mehr daran erinnern, als habe er nie existiert. Ihrem Gehirn schien die Pause dennoch sehr gut getan zu haben. Sie erinnerte sich wieder daran, was sie suchte, warum und wo sie ungefähr damit rechnen konnte. Sie hatte jeden Tag den Plan, einmal alle Mitschriften zu ordnen und sauber abzuheften. Dann wäre es kaum mehr Aufwand, an das zu kommen, was sie brauchte.

Es blieb am Ende bei der Situation und sie behielt ihr geplantes Chaos bei. Als kleinen Mutmacher hatte sie eine Postkarte über ihrem Fernseher hängen. „Aufräumen kann jeder. Das Genie aber beherrscht das Chaos“ stand dort über dem Bild eines Schreibtisches, der angeblich Albert Einstein gehörte. Sie fand den Anblick zwar schrecklich, aber es spiegelte ziemlich genau ihren eigenen wieder. Auf eine unbestimmte Weise beruhigte sie der Anblick jedes Mal wieder.

In ihrem Block fand sie das gesuchte Aufgabenblatt endlich. Sie beneidete Erik um seine Fähigkeit, Ordnung halten zu können und Flo um seine Ignoranz, mit der er nicht erledigte Aufgaben bedenken konnte. Die Sonne war längst untergegangen und abgesehen von der Schreibtischlampe und einigen Kerzen war die Straßenlaterne einige Meter die Straße hinunter die einzige Lichtquelle. Eine dumpfe Stille schien sich über die Stadt gelegt zu haben. Selbst das ewige Rauschen der Autobahn erschien heute leiser.

Mia störte diese Ruhe gerne mit hektischem Rascheln. Stille machte sie nervös und die Papiere sollten sie motivieren, über ihren Schatten zu springen und doch noch fleißig zu werden. Nur aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht aufraffen. Solche Phasen hatte sie selten, aber es kam vor, und sie kamen immer im ungünstigsten Moment.

Im Augenblick wären zum Beispiel Vorbereitungen für die Prüfungen dran. Erik fand, dass es dazu noch viel zu früh war, aber er war bei solchen Dingen eh immer zu spät. Inzwischen war selbst Flo zuverlässiger als ihr Freund. Das zuzugeben fiel ihr nicht leicht. Sie liebte Erik, auch wenn er ihre Geduld immer wieder auf eine harte Probe stellte. Er war vielleicht nicht der perfekte Freund, vergaß Daten, die ihr wichtig waren, war faul und hatte einen entsetzlich kindischen Humor. Trotzdem konnte sie sich keinen anderen vorstellen und wünschen.

Die Laptoptastatur war schon seit einigen Minuten ruhig. Mia bemerkte es erst, als sie realisierte, dass sie selbst auch schon wieder nur ihren Tagträumen nachhing. Erik sah verträumt aus dem Fenster, war mit seinen Gedanken aber offensichtlich sehr weit weg. Ein diffuses Glühen drang von draußen durch die dünnen Vorhänge. Kaum genug, um den Sichtschutz zu durchdringen aber doch ausreichend, um tanzende Schatten an die Wand zu werfen. Neugierig zog sie den Stoff etwas zur Seite.

Die ganze Stadt lag friedlich, still und ruhig vor ihr. Der dunkle Nachthimmel reflektierte dasDSC00170 Licht der Fenster und Straßenlaternen, gebrochen und zurückgeworfen von unzähligen dicken Schneeflocken. Es musste schon eine ganze Weile schneien denn eine dicke Schicht bedeckte die Dächer und Straßen. Keine feine Puderschicht, eine handfeste, dicke Schneeschicht. Eine kindliche Aufregung durchfuhr sie. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, warf sich einen Pullover über, sprang in die Pantoffeln und stürzte Richtung Tür.

Erik sah ihr verwundert nach. Von der Straße klang ein gedämpftes Kichern hinauf. Er legte seinen Laptop beiseite, wühlte sich durch den Vorhang und öffnete das Fenster. Während einige Blocks weiter der Kirchturm Mitternacht schlug, tanzte seine Freundin durch das Schneegestöber und freute sich wie ein Kind. Ein melancholisches Lächeln umspielte seinen Mund. Er liebte es, sie so glücklich zu sehen. Was hätte er dafür gegeben, sich selbst so darüber freuen zu können. In solchen Momenten fühlte er sich entsetzlich alt und verbittert.

Wieso eigentlich? Was hinderte ihn daran, sich über den Schnee zu freuen? Eigentlich ja nichts. Kurz darauf stand auch er auf der Straße, den Kopf in den Nacken gelegt, und sah den Schneeflocken entgegen. Gelegentlich landete einen auf seinem Gesicht oder sogar in seinen Augen. Sie waren geschmolzen, ehe es unangenehm werden konnte. Ein Bus rumpelte über die Kreuzung und in der Ferne heulten Polizeisirenen. Für eine kleine Schneeballschlacht musste der Schnee doch reichen, wenn man schon einmal wieder Kind sein wollte.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 40

Advent

Es war schon seit Jahren eine allgemein hingenommene Unsitte des Einzelhandels, Weihnachtsartikel schon im Spätsommer ins Sortiment zu nehmen. Es galt schließlich den Radiostationen zuvor zu kommen, welche erst im Herbst die ersten Weihnachtslieder spielten. Pünktlich zum Advent war dann jeder bereits dermaßen vom nahenden Weihnachtsfest genervt, dass es nur eine Katastrophe werden konnte. Trotzdem war Flo reichlich überrascht, als er auf seinen Kalender sah und feststellte, dass genau heute der erste Advent sein sollte. Das konnte doch unmöglich stimmen.

Aber der Kalender log nicht, er war immer genau so ehrlich, wie Flo, wenn er Termine darin eintrug und das gnadenlos. Er war schon so unzuverlässiger, als er es gerne gewesen wäre, also wollte er bei seinem Kalender wenigstens ehrlich und möglich genau sein. Nun hatte ihn aber nicht nur sein Organisationstalent verlassen, sondern auch sein Zeitgefühl. Vor Kurzem war es doch noch Sommer gewesen, und was für einer.

Das erste Mal seit Jahren hatte es das Thermometer wieder über 40°C geschafft. Nachts war es selten kälter als 25 Grad geworden. Flo hatte geschwitzt wie ein Berserker und war glücklich gewesen. Er hatte den Sommer vermisst, mit all seinen schlaflosen Nächten und rot verbrannten Armen und Nasen. In der Hitze war man träge, hatte also die perfekte Ausrede, etwas gemächlich und langsam zu tun.

Im Winter galt dieses Argument nicht. War es zu kalt, musste man sich halt dicker anziehen und kräftiger arbeiten, um den Kreislauf anzuregen. Und eigentlich war doch noch der Herbst dran. Was war denn mit der Phase, in der man zwar kein Hemd mehr tragen konnte, aber auch noch keine dicke Jacke brauchte? Wo war die Übergangsphase hin?

Vermutlich hatte die ominöse globale Erwärmung sie gefressen. Die war doch ohnehin an allem schuld, was man nicht gleich erklären konnte. Der Sommer war trocken gewesen, angeblich wegen der Erwärmung. Der letzte Winter war sehr kalt gewesen und es hatte viel geschneit. Angeblich auch wegen der Erwärmung, wie auch immer das zusammenpassen sollte. Irgendjemand versuchte da doch, kräftig Gewinn in die eigenen Taschen zu schaufeln, indem er die Fakten etwas zurechtbog.

Und diese Temperaturdifferenzen. Ganze zwei Grad sollte es wärmer werden! Das war doch lächerlich. In seinem Lieblingsbuch aus Kindertagen stand, dass es zu Zeiten der Dinosaurier dreiundzwanzig Grad wärmer gewesen war. Das hatte die Welt doch auch überlebt, ganz ohne X- und Z-Promis, die durch fadenscheinige Talkshows torkelten und dazu aufriefen, die Welt zu retten. Besonders jetzt, zum Advent, würde es wieder besonders schlimm werden. Nun galt es nämlich nicht mehr nur die Welt zu retten, sondern sich auch als guten Christen zu zeigen und die armen Mitmenschen auf der anderen Seite der Welt ebenfalls zu retten.

Das gehörte irgendwie zur Vorweihnachtszeit wie die erzwungene gute Laune, Leichtigkeit und Harmonie, Weihnachtsmärkte voller schäbiger Glühweinbuden, unsäglich kitschigem Gedöns und Rentnergruppen im Reisebusformat. Wie gut er doch auf all dies verzichten konnte.

Er wollte kein Gutmensch sein, wollte nicht mit pseudo-besinnlichem Gedudel den Gehörgang geschmiert bekommen, bis er nicht mehr genug saufen konnte, um es zu ertragen, wollte keine pappigen Kekse backen und Grußkarten an Verwandte schreiben, an die er bestenfalls einmal zu genau solchen Anlässen dachte und die ihn ansonsten genau so gekonnt ignorierten wie er sie. Nichts an diesem Fest und seinem Vorspiel erschien ihm in irgendeiner Form ehrbar und achtenswürdig.

Er holte einen Edding aus seinem Federmäppchen und schwärzte die Zeile in seinem Kalender. Für ihn war heute kein Advent. Er hatte noch genug Zeit, sich damit zu befassen, was für welchen Teil der Familie ein angemessenes Geschenk war. Angemessen hieß dabei gut genug, um kein schlechtes Gewissen haben zu müssen und niemanden zu kränken aber bedeutungslos genug, um seine grenzenlose Verachtung für diesen Zirkus von Fest zum Ausdruck zu bringen.

Flo packte den Stift zurück in die Mappe. Mit einem Schmollmund setzte er sich vor seinen Fernseher in den Sessel, sah sich einen Cartoon an und knabberte missmutig an den Lebkuchen, die er gestern gekauft hatte. Er hätte besser die Dominosteine nehmen sollen, oder das Marzipanbrot, dachte er sich. Wie verrückt mussten eigentlich die Leute sein, die schon im August Glühwein und Christstollen kauften? Ein Glück, das er dabei nicht mitmachte.