Hörsaalgetuschel – Ausgabe 41

Abendstunde

Zuerst war es Mia überhaupt nicht aufgefallen. Sie saß an ihrem Schreibtisch wie jeden Abend und versuchte den Tag aufzuarbeiten und den kommenden vorzubereiten. Erik leistete ihr Gesellschaft und tippte eifrig in seinem Laptop. Er wollte ihr nicht sagen, was er dort tat aber es nahm ihn voll und ganz ein. Zuerst hatte sie den Verdacht gehabt, er würde mit einer anderen Frau chatten, da er immer wieder Pausen machte und auf etwas zu warten schien. Irgendwann hatte sie aber einen kurzen Blick auf seinen Bildschirm werfen können und hatte gesehen, dass er nur ein Textprogramm offen hatte. Sie war neugierig aber stellte keine weiteren Fragen. Es fiel ihr sehr schwer, aber sie wollte seinen Wunsch respektieren.

Mit dem Klackern der Tastatur im Hintergrund wühlte sie sich durch ihre ungeordneten Aufzeichnungen auf der Suche nach einem verlorenen Übungsblatt. Die letzten zehn Minuten hatte sie abwesend aus dem Fenster gestarrt und einem blassen Tagtraum nachgehangen. Sie konnte sich kein Stück mehr daran erinnern, als habe er nie existiert. Ihrem Gehirn schien die Pause dennoch sehr gut getan zu haben. Sie erinnerte sich wieder daran, was sie suchte, warum und wo sie ungefähr damit rechnen konnte. Sie hatte jeden Tag den Plan, einmal alle Mitschriften zu ordnen und sauber abzuheften. Dann wäre es kaum mehr Aufwand, an das zu kommen, was sie brauchte.

Es blieb am Ende bei der Situation und sie behielt ihr geplantes Chaos bei. Als kleinen Mutmacher hatte sie eine Postkarte über ihrem Fernseher hängen. „Aufräumen kann jeder. Das Genie aber beherrscht das Chaos“ stand dort über dem Bild eines Schreibtisches, der angeblich Albert Einstein gehörte. Sie fand den Anblick zwar schrecklich, aber es spiegelte ziemlich genau ihren eigenen wieder. Auf eine unbestimmte Weise beruhigte sie der Anblick jedes Mal wieder.

In ihrem Block fand sie das gesuchte Aufgabenblatt endlich. Sie beneidete Erik um seine Fähigkeit, Ordnung halten zu können und Flo um seine Ignoranz, mit der er nicht erledigte Aufgaben bedenken konnte. Die Sonne war längst untergegangen und abgesehen von der Schreibtischlampe und einigen Kerzen war die Straßenlaterne einige Meter die Straße hinunter die einzige Lichtquelle. Eine dumpfe Stille schien sich über die Stadt gelegt zu haben. Selbst das ewige Rauschen der Autobahn erschien heute leiser.

Mia störte diese Ruhe gerne mit hektischem Rascheln. Stille machte sie nervös und die Papiere sollten sie motivieren, über ihren Schatten zu springen und doch noch fleißig zu werden. Nur aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht aufraffen. Solche Phasen hatte sie selten, aber es kam vor, und sie kamen immer im ungünstigsten Moment.

Im Augenblick wären zum Beispiel Vorbereitungen für die Prüfungen dran. Erik fand, dass es dazu noch viel zu früh war, aber er war bei solchen Dingen eh immer zu spät. Inzwischen war selbst Flo zuverlässiger als ihr Freund. Das zuzugeben fiel ihr nicht leicht. Sie liebte Erik, auch wenn er ihre Geduld immer wieder auf eine harte Probe stellte. Er war vielleicht nicht der perfekte Freund, vergaß Daten, die ihr wichtig waren, war faul und hatte einen entsetzlich kindischen Humor. Trotzdem konnte sie sich keinen anderen vorstellen und wünschen.

Die Laptoptastatur war schon seit einigen Minuten ruhig. Mia bemerkte es erst, als sie realisierte, dass sie selbst auch schon wieder nur ihren Tagträumen nachhing. Erik sah verträumt aus dem Fenster, war mit seinen Gedanken aber offensichtlich sehr weit weg. Ein diffuses Glühen drang von draußen durch die dünnen Vorhänge. Kaum genug, um den Sichtschutz zu durchdringen aber doch ausreichend, um tanzende Schatten an die Wand zu werfen. Neugierig zog sie den Stoff etwas zur Seite.

Die ganze Stadt lag friedlich, still und ruhig vor ihr. Der dunkle Nachthimmel reflektierte dasDSC00170 Licht der Fenster und Straßenlaternen, gebrochen und zurückgeworfen von unzähligen dicken Schneeflocken. Es musste schon eine ganze Weile schneien denn eine dicke Schicht bedeckte die Dächer und Straßen. Keine feine Puderschicht, eine handfeste, dicke Schneeschicht. Eine kindliche Aufregung durchfuhr sie. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, warf sich einen Pullover über, sprang in die Pantoffeln und stürzte Richtung Tür.

Erik sah ihr verwundert nach. Von der Straße klang ein gedämpftes Kichern hinauf. Er legte seinen Laptop beiseite, wühlte sich durch den Vorhang und öffnete das Fenster. Während einige Blocks weiter der Kirchturm Mitternacht schlug, tanzte seine Freundin durch das Schneegestöber und freute sich wie ein Kind. Ein melancholisches Lächeln umspielte seinen Mund. Er liebte es, sie so glücklich zu sehen. Was hätte er dafür gegeben, sich selbst so darüber freuen zu können. In solchen Momenten fühlte er sich entsetzlich alt und verbittert.

Wieso eigentlich? Was hinderte ihn daran, sich über den Schnee zu freuen? Eigentlich ja nichts. Kurz darauf stand auch er auf der Straße, den Kopf in den Nacken gelegt, und sah den Schneeflocken entgegen. Gelegentlich landete einen auf seinem Gesicht oder sogar in seinen Augen. Sie waren geschmolzen, ehe es unangenehm werden konnte. Ein Bus rumpelte über die Kreuzung und in der Ferne heulten Polizeisirenen. Für eine kleine Schneeballschlacht musste der Schnee doch reichen, wenn man schon einmal wieder Kind sein wollte.

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