Archiv für den Monat Februar 2016

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 72

Seifenopern

Das war es, was Erik am Dienstagabend mit Mia am wenigsten leiden konnte. Egal wann, egal wo, egal mit wem, pünktlich um halb sieben hing sie am Fernseher oder dem zugehörigen Webstream. „Alles nur aus Liebe“ hieß das Objekt der Begierde, was sie so völlig in ihren Bann zog. Eine wöchentliche Soap, die ebenso schlecht geschrieben war wie billig produziert. Vermutlich hätte man die Handlung auch so strecken können, dass man täglich Folgen senden konnte. Es würde nicht einmal auffallen, die meisten Folgen, die er gesehen hatte, zeigten sowieso eher den Charakter von Füller-Folgen. Eine große Rahmenhandlung schien es ebenfalls nicht zu geben.

Erik begriff jedenfalls nicht, was Mia so daran fesselte. Sie meinte, man dürfe keine Folge verpassen, weil man ansonsten den Überblick verlieren würde, was passierte. Da mochte etwas dran sein, denn es gab so viele Charaktere und Figuren, dass man schon die Namen leicht durcheinanderbringen konnte.

Die ganze Serie schien ein einziges ‚wer-mit-wem‘ und Gespinst aus Lügen und Intrigen zu sein. Frauen, die wegen banaler Streitigkeiten regelrechte Fehden vom Zaun brachen und Männer, die sich energisch um Frauen stritten, die austauschbar waren wie Blätter Druckerpapier, und deren Charaktere ebenso flach waren. Trotzdem versuchten die Autoren, dramatische Spannung aufzubauen. Ein utopisches Netz von Affären und hier und da einer kleinen Straftat.

Ein junges Pärchen, welches gerade eine gemeinsame Wohnung suchte, wobei Er nicht wusste, dass Sie bereits seit Monaten eine glühende Affäre mit seinem besten Freund hatte und er ihr verheimlichte, dass er nicht erfolgreich im Job war, sondern, statt der Beförderung die Kündigung bekommen hatte. Seitdem verbrachte er seine Arbeitstage mit Schwarzarbeit und in einer Kneipe in der Nachbarstadt. Als Sie das herausfand, ermordete sie ganz nebenbei den Wirt, der in irgendeinem absurd entfernten Verwandtschaftsverhältnis zu ihr stand und ihr doch hätte Bescheid geben müssen. Natürlich kam sie mit einem Mord am helligsten Tage ungesehen und ungesühnt davon. Den einzigen Zeugen verwickelte sie ganz nebenbei in eine schmierige Erpressung. Das Ganze stellte sie dermaßen stümperhaft an, dass der Drehbuchautor allein dafür die Kündigung erhalten musste. Vermutlich war er aber der Einzige, der sich mit solchem Stoff befassen wollte. Doch das ging fast völlig unter zwischen den Szenen, wo ihre klischeehaft blonde und selten-dämliche Cousine das grauenhafte Verbrechen beging, in ihren Vorabiklausuren zu spicken, um den Schnitt zu schaffen, den sie für ihr Medizinstudium brauchte. Das wollte sie natürlich nicht absolvieren, weil sie so begeistert von Medizin war, sondern weil der Mann, denn sie so abgöttisch liebte, das studierte. Und außerdem, weil Papi ihr dann das Studium finanzieren würde und sie auch weiterhin alles, was sie wollte, immer gleich bekommen würde. Und vielleicht einmal seine recht gut laufende Praxis erben konnte.Der Zuschauer wurde damit gelockt, dass sie sich an der Uni, sollte sie ihr Abi jemals schaffen, mit billigem „Durchschlafen“ statt mit guten Leistungen über Wasser halten Würde.

Steinwand in Steinwand

Wer dachte sich eigentlich so etwas aus? Und wie viel Alkohol musste das im Spiel sein? Ganz zu schweigen von anderen, härteren Drogen. Aber Mia liebte die Serie über alle Maßen und ließ bereitwillig alles dafür stehen und liegen. Wieso war ihr eigenes Leben eigentlich so langweilig, verglichen damit?

Sie suchten zwar eine gemeinsame Wohnung, aber er täuschte ihr keinen Job vor, den er nicht hatte und es wäre ihm auch neu, wenn Mia ihm fremdging. Und generell kannte er niemanden, der so durch die Betten hüpfte, wie die Serienfiguren. Klar, jeder handhabte das Thema anders und er kannte Leute, die das Ganze ‚liberaler‘ handhabten, aber dermaßen wild? Und dieses ganze Betrügen und Fremdgehen, wo sollte es das denn bitte geben?

Wobei, wenn er sich recht erinnerte… Tina hatte sich letztes Semester recht auffällig an Flo ran geschmissen. Der war dafür allerdings völlig blind und komplett auf seine Kristina fixiert gewesen. Irgendwann hatte Tina dann aufgegeben, sich kurz bei ihrem eigenen Freund getröstet und dann munter an Erik rangeschmissen. Ihrer Clique gegenüber war ihr die Aussage herausgerutscht, der einfachste Weg ins Herz eines Mannes sei der, über das Bett seines besten Freundes. Erik hatte sie fünf mal abblitzen lassen, ehe er Mia einweihte. Daraufhin hatte sie ganz dezent ihre hölzernen Trainingswaffen mit in die Uni genommen. Weil sie nach der Vorlesung noch eine Prüfung für den achten Dan habe. Erik und Flo hatten noch darüber gespottet, wie plump der Einschüchterungsversuch war, aber er brachte das gewünschte Ergebnis. Wenigstens fürs Erste. Dabei hatte Tina ihn wirklich ins Wanken gebracht. Erik konnte nicht sagen, ob er Tina wirklich toll fand, oder einfach nur das Gefühl genoss, begehrt zu sein, aber sie schien ihm immer anziehender. Dabei wusste er eigentlich zu gut, dass er nicht ihr eigentliches Ziel war. Er bereute nicht, Mia auf sie losgelassen zu haben. Tinas nervöser Blick war im Nachhinein ein wunderbarer Anblick gewesen.

Wenn Erik jetzt so darüber nachdachte, vielleicht war das wahre Leben überhaupt nicht so schrecklich weit von den kitschigen Seifenopern im Fernsehen entfernt. Man musste sie einfach nur als extrem billige, plumpe und überspitzte Realsatiren sehen.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 71

Notenfrust

Erik hatte das Kinn auf die verschränkten Arme gelegt und starrte missmutig auf den Bildschirm. Seit einer Woche kontrollierte er mindestens einmal am Tag seine Notenlisten und wartete auf die jüngsten Klausurergebnisse. Er war enttäuscht gewesen, wie die Prüfungen gelaufen waren. Fleißiges Lernen und viel Vorbereitung hatten ihm eigentlich das Gefühl gegeben, gut gewappnet zu sein, für was dort kommen mochte. Doch dann kamen die Klausuren und er hatte sich bei jeder Einzelnen gründlich in der Zeit verschätzt und war nicht fertig geworden. Dabei hatte er wirklich gehofft, endlich einmal Mia Konkurrenz machen zu können.

Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass das eine schöne Idee, aber nicht viel mehr sein konnte. Wenn es um Klausuren ging, war er noch nie besonders gut gewesen und würde es auch nie sein. Trotzdem gab er sich Mühe, besonders in den letzten paar Semestern. Und er hatte sich der süßen Illusion hingegeben, tatsächlich einmal wirklich gut sein zu können und schöne Noten zu schreiben. Selbst nachdem die Klausuren geschrieben waren, und er wusste, dass sie nicht optimal gelaufen waren, hatte er noch auf halbwegs gute Ergebnisse gehofft. Dabei wusste er es eigentlich hier schon besser, der Gedanke war nur einfach zu verlockend.

Doch nun flackerten die Ergebnisse hier vor ihm auf dem Bildschirm, Schwarz auf Blassblau. Unmissverständlich. Vielleicht war ja etwas übersehen worden und nicht jede Aufgabe bei der Wertung gezählt worden. Um das herauszufinden, würde er in die Einsicht gehen müssen. Und schon wieder war sie da, die leise Hoffnung, irgendwoher doch noch einige Punkte holen zu können, um den Schnitt minimal zu heben. Die Korrekturen waren in der Regel sehr gründlich und in der Einsicht noch Punkte zu finden eigentlich kaum möglich. Das wusste er genau und deswegen war es ihm selbst nicht begreiflich, wieso er sich gleich wieder an solche Hoffnungen klammerte.

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Es war einfach an der Zeit, sich die Resultate einzugestehen. Die Noten standen fest und waren verbucht. Sie waren nicht gut aber immerhin bestanden, und wenn er sich noch so lange wünschte, besser durchgefallen zu sein. Es waren weitere Punkte auf seinem Punktekonto und dem Weg zum Abschluss, der immer näher rückte und ihm ebenso Sorgen bereitete. Nun, wenigstens diese konnte er noch eine kleine Weile auf die lange Bank schieben.

Er seufzte schwer und scrollte durch die Liste. In den letzten Semestern waren seine Noten im Schnitt wenigstens ein wenig besser geworden. Schlechter als seine ersten Hochschulsemester konnte er auch nicht werden. Damals hatte er alles zu sehr auf die leichte Schulter genommen und feststellen müssen, dass sich die Uni doch massiv von der Schule unterschied. Plötzlich hatte er aktiv viel machen müssen, um Kurse zu bestehen. Nur das hatte er nicht getan. Das Ergebnis waren durchgefallene Klausuren in Großserie. Wenn er sich jetzt daran erinnerte, war er beinahe amüsiert. Wie leichtsinnig er an das Studium herangegangen war und wie verbissen er sich an der Idee des faulen Studentenlebens mit vielen Partys und wenig Aufwand geklammert hatte. Wenigstens bis zu dem Punkt, an dem er sah, was noch alles ausstand und er drauf und dran war, einfach alles hinzuschmeißen.

Wieso hatte er das eigentlich nicht getan? Vielleicht wäre ein anderer Lebensweg tatsächlich leichter für ihn gewesen. Er wusste bis heute nicht einmal wirklich, wieso er damals angefangen hatte zu studieren. Persönlicher Ehrgeiz konnte es jedenfalls nicht sein, den hatte er noch nie besessen. Vielleicht war es wirklich die Vorstellung des entspannten Lebens gewesen.

Entspannung war eine gute Idee. Er schloss die Notenliste und goss sich einen großen Schnaps ein. Es wäre ihm zwar lieber gewesen, sich im Bett zu verkriechen, dicht an Kristina gekuschelt, und einfach für eine Weile die Augen zu und den Kopf aus zu machen, aber das Leben ist halt nicht perfekt.

Wieso waren ihm die Noten überhaupt so wichtig geworden? Wer würde sich dafür interessieren? Klar, ein Personalchef, der ihn erstmalig einstellen wollte. Aber danach? Wie unüberwindbar sollte diese Einstiegshürde am Ende wirklich sein? Das war doch etwas, was zu schaffen sein müsste. So viele Menschen vor ihm hatten das schon geschafft, mit teils deutlich schlechteren Abschlüssen, als er schaffen konnte. Irgendwie musste es doch möglich sein. Und trotzdem hatte er das Gefühl, dass Noten zum Maß aller Dinge im Studium avanciert waren. Der ultimative Index für erlerntes Wissen.

Wobei schon das allein glatt gelogen war. Klausurnoten waren kein Indikator für das Wissen des Prüflings. Sie waren nicht einmal ein Indikator für die Fähigkeit, Wissen abzurufen. In vielen Fällen waren sie einfach nur ein Zeugnis darüber, wie gut einige Personen mogeln konnten. Die Macht der Noten regte die Kreativität vieler Kommilitonen zu ungeahnten Höchstleistungen an, wenn es darum ging, in Prüfungen zu pfuschen. Er hatte es selbst auch probieren wollen, aber dann festgestellt, dass er dafür einfach nicht taugte. Das war allerdings auch schon wieder eine ganze Weile her.

Vielleicht sollte er es einfach mal wieder versuchen. Das System einfach ändern konnte er schließlich nicht. Dafür müsste er in die Köpfe der Menschen hinein. Vielleicht zu allererst in seinen Eigenen.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 70

Wohnungsbesichtigung

„Schöne, sanierte Altbauwohnung in zentraler Lage“ hatte es in der Anzeige geheißen. Es war heute schon die dritte Wohnung, durch die Mia ihn schleifte und es schien ihm immer unwahrscheinlicher, dass sie jemals etwas finden würden. Saniert war die Wohnung sicher einmal. Wenigstens kurz nach dem Krieg, vielleicht sogar nach der Wende, wahrscheinlicher aber davor. Die Fenster waren zugig, die Wände zeigten dunkle Flecken von Wasserschäden oder Schimmel und die Stuckdecke zeigte Risse entlang der Verzierungen, die wahrscheinlich aus Schaumstoff waren. Erik lehnte sich gegen die Wand, die ihm am standsichersten erschien, und stellte fest, dass er entweder betrunken, oder aber die Wand schief war. Die Wohnung wäre vielleicht sogar schön gewesen, wenn sie nicht so schrecklich heruntergekommen wäre. Hohe Decken, schöner (wenn auch leider sehr lauter) Holzboden und große Fenster. Auch die Fassade der Gründerzeitvilla hatte durchaus Stil, wenn auch mehr Potenzial als tatsächlichen Charme.

Bei der zentralen Lage hatte die Anzeige nicht gelogen. Die Wohnung lag im zweiten Obergeschoss direkt auf der Ecke zu der Kreuzung, an der die drei innerstädtischen Hauptverkehrsadern zusammenliefen. Einen Block weiter, in Sichtweite, begann das Kneipenviertel, wo das gesellschaftliche Herz der Stadt schlug. Zwanzig Meter neben dem Hauseingang war die Bushaltestelle, von der aus man die ganze Stadt erreichen konnte, unter anderem in jeweils zehn Minuten die Uni oder den Bahnhof.

Zentraler konnte man wirklich nicht sein. Bei diesen dünnen, zugigen Fenstern war es für ihn allerdings indiskutabel. Er liebte seine Ruhe, verkroch sich gerne mit seinem Laptop ins Bett und wollte von der Welt nichts mehr mitbekommen. Hier konnte er allerdings jeder Unterhaltung an der Bushaltestelle Wort für Wort folgen. Das größte Rätsel war für ihn gerade, wieso Mia sich trotzdem noch im beige-braun gekacheltem Bad und der bunt zusammengewürfelten Küche umsehen wollte. Er würde hier auf keinen Fall einziehen, egal ob ohne oder mit ihr. Das war es ihm nicht wert.

Die letzte Wohnung war definitiv ruhiger gelegen. Ein Plattenbau aus den Siebzigern, allerdings tatsächlich recht frisch renoviert. Die Lage war ruhig, jedenfalls, wenn gerade keine Bahn fuhr. Dafür drang ein penetranter, unangenehmer Geruch aus der Kanalisation unter dem Balkon. Mia hatte entsetzt die Nase gerümpft und es war nicht besser geworden, als plötzlich ein lauter Streit von den Nachbarn, eine Etage höher, das ganze Haus unterhielt. Erik war froh, sich keine Argumente ausdenken zu müssen, wieso die Waschbetonromantik für ihn nicht infrage käme. Er hatte sich einfach auf Anhieb unwohl hier gefühlt. Und dabei war es nicht einmal der Plattenbau, mit dem er ein Problem hatte. Es war einfach der Gesamteindruck, den er hatte, ohne einen Grund dafür nennen zu können. Das war es jedenfalls, was er sich eingestehen wollte.

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Wohlgefühlt hatte er sich bisher in nur einer Wohnung. Es war ein ziemliches Loch gewesen. Dunkel und eigentlich auch viel zu klein. Auch wenn die komplette Wohnung in kaltem Weiß gestrichen war, hatte es sich für ihn irgendwie warm angefühlt. In der kleinen Wohnküche hatte es sogar einen offenen Kamin gegeben. Das war für ihn ein sehr gutes Argument und für Mia ein sehr gutes Gegenargument. Vor allem wohl deswegen, weil dann kaum noch Raum für einen Fernseher blieb. Auf den bestand sie vehement, obwohl sie ihren Aktuellen kaum nutzte. Für Erik war das absolut unbegreiflich, aber er war an einem Punkt angekommen, wo er sogar schon bereit war, sich selbst einzugestehen, dass er sich keine Mühe gab, sie zu verstehen. Mit ihr zu streiten war sowieso sinnlos.

Um dem Streit gleich vorzubeugen, hatte er die Auswahl der Wohnungen auch komplett ihr überlassen. So konnte sie ihm wenigstens hinterher keinen Vorwurf machen und gleichzeitig bekam er selbst auch ein kleines Argument in die Hand. Wenigstens dieses eine Mal wollte er auch einen Vorteil haben, den er nutzen konnte. Auch wenn er es am Ende wohl eh nicht tun würde. So sehr sie es auch zu lieben schien, er hasste es, wenn sie stritten. Sie suchte laufend nach Gründen oder Ansätzen und fand auch beinahe immer etwas, worüber sie einen kleinen Streit losbrechen konnte.

Vielleicht war es schon allein deswegen keine gute Idee, mit ihr in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Auch wenn sie im Augenblick relativ zahm war und es so aussah, als könnten sie wirklich einmal gut harmonieren. Er hatte den Verdacht, dass es die ungewöhnliche Stresssituation war, die ihr keine Energie zum Zanken ließ. Immerhin zerrte der ganze Umzugsplan sie weit aus ihrer Komfortzone heraus.

Die dünnen Scheiben klapperten im Rahmen, als auf der Straße ein Bus die Haltestelle anfuhr. Mia kam aus dem Bad und wirkte positiv eingestellt und glücklich. „Mit ein wenig frischer Farbe und Arbeit kann man es doch recht hübsch gestalten.“ Hoffentlich meinte sie damit nicht, dass sie das komplette Bad herausreißen wollte. Auch wenn das in seinen Augen das einzig Sinnvolle war, so viel Aufwand wollte er auf keinen Fall in eine Wohnung stecken. Die Zeit wollte er sich nicht nehmen. Auf dem Weg hinaus fiel ihm auf, dass Mia ziemlich kräftig Blinzelte. Der Stress musste ihr kräftig zusetzen.

„Was für eine schreckliche Wohnung! Ich meine, sie ist schon hübsch, aber diese Farben gehen gar nicht und die Fenster müssten auch dringend neu gemacht werden. Willst du wirklich hier einziehen?“

Mit dieser Frage hatte er gerechnet. Wortlos hielt er ihr die Türe auf, in dem Versuch, sie möglichst elegant zu ignorieren und kam sich dabei tollpatschig wie ein junger Hund vor. Langsam gewöhnte er sich an dieses Gefühl.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 69

Nachtschicht

Es war doch jedes mal das Gleiche. Erik nahm sich vor, den Tag über fleißig zu sein und mit Mia gemeinsam zu lernen und dann frühzeitig ins Bett zu gehen. Aber vielleicht war es allmählich an der Zeit, sich einzugestehen, dass dies einfach nicht seinem Biorhythmus entsprach. Tagsüber hatte er noch nie wirklich viel geschafft, das war schon zu Schulzeiten so gewesen. Wenn er auf seine Geschwister hörte, dann hatte er generell noch nie etwas geschafft, aber damit würde er sich bei ihnen in guter Gesellschaft befinden. Das war aber eine ganz andere Geschichte. Die Uhr tickte und lief unerbittlich auf halb drei zu und inzwischen bekam er sogar wieder Hunger.

Dabei hatte Erik sich sogar vorgenommen, den späteren Abend in seinen Lernplan mit aufzunehmen. Dieser Lernplan hätte allerdings um Mitternacht enden sollen. Stattdessen war er erst dann wirklich produktiv geworden. Mia lag schon seit fast vier Stunden im Bett und schlief friedlich. Er hoffte nur, dass sie tief genug schlief, um nichts mehr mitzubekommen, wenn er dazu kroch. Andernfalls dürfte er sich morgen einen kleinen Vortrag anhören, wieso es denn nicht gesund war, so lange wach zu bleiben.

Schlafen gehen könnte er aber so oder so gerade nicht. Gegen zehn Uhr war er noch müde gewesen, aber inzwischen fühlte er sich wie nach einer guten Nacht voll Schlaf. Frisch und ausgeruht, obwohl er genau wusste, dass es nicht so war. Es gab keine Ablenkungen mehr, außer dem gelegentlichen Rascheln der Bettdecke, wenn seine Freundin sich umdrehte. Das wäre vielleicht eine Idee für die gemeinsame Wohnung: Ein Arbeitszimmer. Dann bräuchte er sich auch nicht damit zurückhalten, mit den Papieren zu rascheln. Aktuell klang jedes Umblättern in seinen Ohren wie Gewitter. Außerdem sirrte die kleine Schreibtischlampe wie eine Mücke. Vermutlich würde sie bald durchbrennen.Gneis

Trotzdem war das alles nicht Ablenkung genug, um ihn vom Lernen abzuhalten und obwohl er sich fest vorgenommen hatte, allerspätestens um zwei Uhr ins Bett zu kriechen ging er inzwischen dazu über, Fehler in den Vorlesungsfolien zu korrigieren. Im Hinblick auf die Klausur machte es ihm Mut, dass er den Stoff offenbar gut genug verstanden hatte. Er ging probeweise eine Altklausur durch. Bei einigen Fragen setzte er ein kleines Fragezeichen daneben. Nicht, weil er sie nicht beantworten konnte, sondern weil er sich bei einzelnen Formulierungen und Details unsicher war, die für die Fragestellung uninteressant waren. Er war durchaus zufrieden mit dem Ergebnis.

Die Uhrzeiger überschritten die drei Uhr Position. Komme was wolle, aber morgen früh würde ein durchaus anstrengender Morgen sein. Vielleicht sollte er einfach einmal liegen bleiben und akzeptieren, dass das nun einmal die Art und Weise war, wie er funktionierte. Wobei, wenn er ehrlich mit sich war, er fühlte sich wohl auf diese Weise. Das, was ihn störte, war Mias Reaktion daraus. Sie war damit offenbar nicht zufrieden und bemühte sich, ihn in dieser Hinsicht zu ändern. Sie war ein Kontrollfreak und das führte regelmäßig zu Streit zwischen den beiden. Der Unterschied war nur, dass sie es ein oder zwei Tage später für sich selbst abgehakt hatte und als erledigt ansah. Für ihn selbst war das deutlich weniger einfach.

Für heute hatte er seine Sachen zusammengelegt und sich bettfertig gemacht. Inzwischen war er sogar tatsächlich müde. Wenigstens hatte er das Gefühl, sich seinen Schlaf heute wirklich verdient zu haben und wenn er sich morgen noch an alles erinnerte, dann konnte er vielleicht einfach einen Tag etwas ruhiger angehen lassen. Er konnte es sich zwar eigentlich nicht leisten aber letzten Endes war er halt einfach viel zu faul.