Oder etwa doch nicht?
Nachdem die Briten in der EU seit Jahren bei jeder größeren Entscheidung ein Palaver veranstaltet haben und gedroht haben, dem Staatenbund den Rücken zu kehren, haben sie nun Nägel mit Köpfen gemacht. Und die Welt dreht am Rad.
Im Vorfeld war zwar immer wieder über das Vorhaben der Brexit Bewegung berichtet worden, wirklich groß war die Aufmerksamkeit allerdings wohl eher nicht. Selbst die Briten wussten offenbar großenteils nicht, worüber genau sie da eigentlich abstimmen sollen. Wie sonst ist es zu erklären, dass in den Tagen nach dem Referendum die Suchanfragen bei Google für „Was ist die EU“ oder „Was heißt Brexit“ massiv in die Höhe gegangen sind. In Großbritannien, nicht im Rest der Welt, wohlgemerkt. Selbst die führenden Köpfe hinter dem Brexit rudern plötzlich auf allen Fronten zurück. Doch nicht so schnell, doch nicht so viel Geld, was eingespart wird und doch nicht so eine geschlossene Grenze für die Insel. Und die hehren Versprechungen, dass sich auch am Handel mit der EU nichts ändern wird, sind inzwischen kaum noch zu lesen und hören. Katerstimmung macht sich in der Politik breit. Die Bevölkerung hingegen wacht gerade auf und realisiert, wie Demokratie funktioniert. Man muss halt mitmachen.
Die Alten, denen die Zukunft offenbar nicht mehr wichtig ist, will raus und geht dafür auch wählen. Die Jugend, deren Zukunft es ist, realisiert nicht, dass es um etwas geht, und wählt nicht, obwohl sie mehrheitlich in der EU bleiben wollen. In Nordirland und Schottland wollen selbst die Alten lieber bleiben. Sie sehen sich ohnehin eher als Europäer und werden auch eher als solche wahrgenommen.
Für die EU ist die Situation auch klar. Sie darf nicht wanken und muss nun Stärke zeigen. Dazu gehört auch, den Abtrünnigen ihren Ausstieg spürbar zu machen. Geschlossen drängt sie auf einen sauberen und zügigen Austritt, ohne Verzögerungen und vor allem ohne weitere Boni und Sonderrechte. Was später wieder an Zugeständnissen kommen mag, ist offen. Zunächst gilt es, Stärke und Entschlossenheit wenigstens vorzutäuschen.
Für die Presse ist es jedenfalls ein Fest. Mit Begeisterung stürzt sie sich auf jeden Kommentar und jede noch so kleine Meldung. Sei es nun der offen aufflammende Konflikt zwischen Schottland und dem Süden, die niedrige Wahlbeteiligung der Jugend oder dem Druck aus Brüssel. Und plötzlich ist das vorher noch so kleine und unwichtige Thema medial omnipräsent.
Dabei geht das Ganze so viel weiter. Es ist keine politische Ohrfeige für die EU, es ist eine offene Katastrophe für viele Existenzen, für Menschen und Familien. Und Es gibt Menschen den Mut, sich öffentlich auf eine Weise zu äußern, die mit nichts zu rechtfertigen ist.
Die sozialen Medien laufen dieser Tage voll mit Meldungen von Menschen, die offenen Rassismus an den Tag legen. Langjährige Nachbarn mit Migrationshintergrund werden gefragt, ob sie überhaupt englisch sprechen, aufgefordert, ihre Sachen zu packen und in ihre Heimat zurück zu kehren oder nach ihrem Pass gefragt. Es mögen Einzelfälle sein, doch vielen weltoffenen Briten treibt es das blanke Entsetzen ins Gesicht.
Familien mit einem britischen und einem festländischen Elternteil müssen sich Gedanken machen, wie es weiter gehen soll. Bleibt man auf der Insel oder zieht man in die EU? Wo ist es einfacher, ein Visum zu bekommen und wo ist man überhaupt noch erwünscht? Viele haben sich in den Jahrzehnten der EU eine Existenz in Großbritannien aufgebaut, ein Geschäft gegründet. Müssen sie das alles nun aufgeben?
Einzelschicksale, die kaum zur Sprache kommen. Man konzentriert sich lieber mit Spott und Häme auf die großen Ereignisse und Konsequenzen. Die einbrechende Wirtschaft, das schwächelnde Pfund, das Ausscheiden der Engländer aus der EM, auch wenn es nichts damit zu tun hat, aber es passt halt so schön ins Bild.
Und ich frage mich, was aus der europäischen Idee geworden ist. Der Idee, dass wir, statt uns zu bekriegen, lieber gemeinsam unter einem Banner versammeln und das Beste aus den zahllosen Kulturen teilen. Wenn ich meinen Stammbaum betrachte, dann sehe ich in den letzten 150 Jahren fünf verschiedene Nationen. Ich bin damit keine Besonderheit, aber das Verständnis dafür scheint (auch in Deutschland) zu schwinden. In der Biologie bringt Diversität auch immer Stabilität. Ich bin überzeugt davon, dass das auch auf Wirtschaft und Gesellschaft zutrifft. Für die EU gilt nun jedenfalls, dass sie massiv an ihrem Image arbeiten muss und in vielen großen Fragen einen Konsens braucht. Es gibt, wie immer, sehr viel zu tun und das Ziel muss immer das gleiche bleiben: Besser werden!