Archiv für den Monat Juni 2016

Die Briten wollen raus und alle so „YEEAAAH!“

Oder etwa doch nicht?

Nachdem die Briten in der EU seit Jahren bei jeder größeren Entscheidung ein Palaver veranstaltet haben und gedroht haben, dem Staatenbund den Rücken zu kehren, haben sie nun Nägel mit Köpfen gemacht. Und die Welt dreht am Rad.

Im Vorfeld war zwar immer wieder über das Vorhaben der Brexit Bewegung berichtet worden, wirklich groß war die Aufmerksamkeit allerdings wohl eher nicht. Selbst die Briten wussten offenbar großenteils nicht, worüber genau sie da eigentlich abstimmen sollen. Wie sonst ist es zu erklären, dass in den Tagen nach dem Referendum die Suchanfragen bei Google für „Was ist die EU“ oder „Was heißt Brexit“ massiv in die Höhe gegangen sind. In Großbritannien, nicht im Rest der Welt, wohlgemerkt. Selbst die führenden Köpfe hinter dem Brexit rudern plötzlich auf allen Fronten zurück. Doch nicht so schnell, doch nicht so viel Geld, was eingespart wird und doch nicht so eine geschlossene Grenze für die Insel. Und die hehren Versprechungen, dass sich auch am Handel mit der EU nichts ändern wird, sind inzwischen kaum noch zu lesen und hören. Katerstimmung macht sich in der Politik breit. Die Bevölkerung hingegen wacht gerade auf und realisiert, wie Demokratie funktioniert. Man muss halt mitmachen.

Die Alten, denen die Zukunft offenbar nicht mehr wichtig ist, will raus und geht dafür auch wählen. Die Jugend, deren Zukunft es ist, realisiert nicht, dass es um etwas geht, und wählt nicht, obwohl sie mehrheitlich in der EU bleiben wollen. In Nordirland und Schottland wollen selbst die Alten lieber bleiben. Sie sehen sich ohnehin eher als Europäer und werden auch eher als solche wahrgenommen.

Für die EU ist die Situation auch klar. Sie darf nicht wanken und muss nun Stärke zeigen. Dazu gehört auch, den Abtrünnigen ihren Ausstieg spürbar zu machen. Geschlossen drängt sie auf einen sauberen und zügigen Austritt, ohne Verzögerungen und vor allem ohne weitere Boni und Sonderrechte. Was später wieder an Zugeständnissen kommen mag, ist offen. Zunächst gilt es, Stärke und Entschlossenheit wenigstens vorzutäuschen.

Für die Presse ist es jedenfalls ein Fest. Mit Begeisterung stürzt sie sich auf jeden Kommentar und jede noch so kleine Meldung. Sei es nun der offen aufflammende Konflikt zwischen Schottland und dem Süden, die niedrige Wahlbeteiligung der Jugend oder dem Druck aus Brüssel. Und plötzlich ist das vorher noch so kleine und unwichtige Thema medial omnipräsent.

Dabei geht das Ganze so viel weiter. Es ist keine politische Ohrfeige für die EU, es ist eine offene Katastrophe für viele Existenzen, für Menschen und Familien. Und Es gibt Menschen den Mut, sich öffentlich auf eine Weise zu äußern, die mit nichts zu rechtfertigen ist.

Die sozialen Medien laufen dieser Tage voll mit Meldungen von Menschen, die offenen Rassismus an den Tag legen. Langjährige Nachbarn mit Migrationshintergrund werden gefragt, ob sie überhaupt englisch sprechen, aufgefordert, ihre Sachen zu packen und in ihre Heimat zurück zu kehren oder nach ihrem Pass gefragt. Es mögen Einzelfälle sein, doch vielen weltoffenen Briten treibt es das blanke Entsetzen ins Gesicht.

Familien mit einem britischen und einem festländischen Elternteil müssen sich Gedanken machen, wie es weiter gehen soll. Bleibt man auf der Insel oder zieht man in die EU? Wo ist es einfacher, ein Visum zu bekommen und wo ist man überhaupt noch erwünscht? Viele haben sich in den Jahrzehnten der EU eine Existenz in Großbritannien aufgebaut, ein Geschäft gegründet. Müssen sie das alles nun aufgeben?

Einzelschicksale, die kaum zur Sprache kommen. Man konzentriert sich lieber mit Spott und Häme auf die großen Ereignisse und Konsequenzen. Die einbrechende Wirtschaft, das schwächelnde Pfund, das Ausscheiden der Engländer aus der EM, auch wenn es nichts damit zu tun hat, aber es passt halt so schön ins Bild.

Und ich frage mich, was aus der europäischen Idee geworden ist. Der Idee, dass wir, statt uns zu bekriegen, lieber gemeinsam unter einem Banner versammeln und das Beste aus den zahllosen Kulturen teilen. Wenn ich meinen Stammbaum betrachte, dann sehe ich in den letzten 150 Jahren fünf verschiedene Nationen. Ich bin damit keine Besonderheit, aber das Verständnis dafür scheint (auch in Deutschland) zu schwinden. In der Biologie bringt Diversität auch immer Stabilität. Ich bin überzeugt davon, dass das auch auf Wirtschaft und Gesellschaft zutrifft. Für die EU gilt nun jedenfalls, dass sie massiv an ihrem Image arbeiten muss und in vielen großen Fragen einen Konsens braucht. Es gibt, wie immer, sehr viel zu tun und das Ziel muss immer das gleiche bleiben: Besser werden!

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 89

Dejavu

Erik, früher Mittzwanziger, dunkelblond mit aktuell etwas ungepflegter, strubbeliger Frisur und einem unsauber rasierten Stoppelkinn, ließ sich auf dem Weg zur Vorlesung noch einmal die letzte Nacht durch den Kopf gehen. Wortwörtlich!

Angekündigt war die Party des Jahrhunderts, schon zum mindestens zwanzigsten Mal dieses Jahr und er war schon wie zu allen anderen davor nicht hingegangen. Was am Ende dabei herumkommen würde, war ein einziges Besäufnis mit billigem Bier, schlechter Musik und zu vielen Leuten, mit denen er nüchtern wohl nie reden würde. Wieso sich also die Mühe machen? Er hatte stattdessen Flo besucht, eine Weile mit ihm geredet, einige Biere getrunken und später in seiner Wohnung alleine mit Schnaps weiter gemacht, bis die Vögel wach wurden.

So kam es, dass Erik nach immerhin drei Stunden Schlaf aus den verschwitzten Laken kroch, um rechtzeitig um Viertel nach acht in der Vorlesung zu sitzen. Wer kam eigentlich auf die glorreiche Idee, schon so früh eine Vorlesung halten zu müssen? Das war absolut widernatürlich, selbst zum absehbaren Ende des Semesters. Aber er hatte die Vorsätze, das laufende Semester nicht völlig vor die Hunde gehen zu lassen. Da mussten schon einmal Opfer gebracht werden. Erik erbrach sich in den Mülleimer vor dem Supermarkt, besorgte sich ein Konterbier und eine fettige Salami, aß dann zuerst die Salami und leerte das Bier, nur um fünf Minuten später beides in den Mülleimer vor dem Hörsaal zu spucken. Während die stinkende Suppe aus dem Korb sickerte, wankte er in den Saal. Von Flo kannte er ein solches Verhalten aber er selbst? Beinahe schämte er sich etwas dafür.

Drinnen sah er sich mit kurzsichtigen Augen um. Fahle, müde Gesichter mit verquollenen Augen und immer wieder ein völlig überdrehtes Schnattermaul und übertrieben freundliche Morgenmenschen. Der Geruch von saurem, billigen Kaffee hätte ihn fast wieder hinausgetrieben. Links und rechts neben ihm tauchten zwei verschwommene Gestalten auf, griffen ihm unter die Arme und schleiften ihn mit in eine leere Reihe.

„Der Erik hat gestern den Absprung verpasst und ein schlechtes Bier erwischt. Ehrlich Junge, wieso kommst du überhaupt noch? Pennen kannst du doch besser zu Hause.“

Flo und Martin. Beide etwa einen halben Kopf kleiner als Erik und jeweils drei Jahre älter. Flo aufgrund eines ungünstigen Starts ins Studentenleben, Martin aufgrund seiner vorherigen Ausbildung zum Feinmechaniker. Beide waren auch nicht für die Party des Jahrhunderts zu begeistern gewesen. Flo, weil er den Abend gemütlich mit Erik in seiner Wohnung verbracht hatte und Martin, weil er seine Freizeit bei Frau und Kind zu Hause genießen wollte. Erik registrierte die beiden nur beiläufig. Für einen Moment hatte er das Gefühl, die Situation so ähnlich schon einmal erlebt zu haben. Ehe er darüber nachdenken konnte, war sein Kopf aber bereits auf den Tisch gesunken.

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„Ich darf Sie dann um Ruhe bitten, damit wir anfangen können. Zunächst einmal habe ich Ihnen einige Probeklausuren online zur Verfügung gestellt. Die können Sie sich einmal ansehen und dann Ihren Wissensstand überprüfen oder mir noch offene Fragen stellen. In der letzten Woche wollten wir ja hierzu eine Fragestunde abhalten. Passt der Termin bei Ihnen allen noch?“

Erik gab seinem inneren Zwang nach, gähnte herzhaft, rieb sich kurz die juckenden Augen und behielt sie nur einen Augenblick geschlossen. Vielleicht wäre er wirklich besser im Bett geblieben aber er hoffte immer noch auf das Wunder, den Stoff durch reines Zuhören aufnehmen zu können. Er atmete tief durch und richtete sich auf. Außerdem war sein Bett in letzter Zeit alles andere als ein Garant für Schlaf geworden. Es fehlte einfach etwas Entscheidendes.

„…was Sie ja auch alles bereits kennen. Das haben wir in den letzten beiden Wochen glaube ich ausführlich genug besprochen. Ich gucke gerade auf die Uhr. Wenn Sie jetzt noch Fragen haben, dann stellen Sie die bitte. Ansonsten würde ich nämlich dann auch für heute Schluss machen. In den letzten drei Minuten das neue Thema anzufangen ergibt wenig Sinn. Bis nächste Woche dann.“

Irritiert sah Erik sich um. Alle packten ihre Taschen zusammen und standen auf. Er wusste nicht, ob er um sein Timing glücklich oder verärgert sein sollte. Er bemerkte jetzt erst richtig, was Mia immer für ihn geleistet hatte, als sie ihn mit in die Veranstaltungen geschleift und ihn zur Aufmerksamkeit gezwungen hatte. Was war er doch ein Narr gewesen, wenn er sich zwischenzeitlich über sie geärgert hatte.

„Vielen Dank, dass ihr mich so ruhig schlafen gelassen habt.“ Der verärgerte Vorwurf ging an Flo und Martin, die bereits neben ihm standen und warteten.

„Bitteschön, gern geschehen. Du hast aber auch geschlafen wie ein Stein. Keine Sorge, es ist nicht aufgefallen. Martin hat dir Kulleraugen aufgeklebt.“

Auf einem Telefon kam ein Foto von seinem Gesicht mit albernen Klebeaugen in sein Sichtfeld. Der Anblick war irgendwie albern und verstörend zugleich und er war sich fast völlig sicher, eine solche Situation schon einmal erlebt zu haben. Er wollte lieber überhaupt nicht daran denken, wann und wo. Flo fixierte ihn mit seinem Blick, als sie in die Sonne hinaus gingen.

„Hast du mit ihr geredet? Du wolltest das noch gestern Abend machen.“

Damit hatte er recht, das war sein Plan gewesen. Aber er hatte sich nicht getraut. Immerhin hätte Mia bei ihrem Standpunkt bleiben können. Er schüttelte niedergeschlagen den Kopf, straffte aber dann dennoch die Schultern.

„Hab eine Kopie von ihrer Sicherung gemacht und die Arbeit etwas sortiert und die Formatierung gemacht. Keine Ahnung von dem Inhalt aber wenigstens sieht es jetzt besser aus.“ Er zuckte beiläufig die Schultern. Nüchtern hatte er noch keinen Blick darauf geworfen, aber wenn sein Gedächtnis nicht völlig totgesoffen war, dann sah es nicht einfach nur besser aus sondern regelrecht professionell.

Brexit – moin Senf

Diese Woche möchten die Briten darüber abstimmen, ob sie in der EU bleiben möchten, oder ihr Glück doch lieber alleine finden wollen, und die Welt dreht am Rad. Wieso eigentlich? Ich müsste lügen, würde ich sagen, ich habe Ahnung von Politik. Dennoch kommt man um diese Diskussion nicht herum. Sie wird generell sehr emotional geführt und bei politischen Themen heißt das im Grunde das Gleiche, wie wenn man ein Bauwerk als architektonisch Wertvoll bezeichnet. Im Falle des Bauwerkes heißt das, dass es hässlich wie die Nacht ist. Im Falle der Diskussion, dass sich niemand für Fakten, Streitkultur und Zusammenhänge interessiert.

Die EU ist ein Staatenbündnis, speziell um Handel und Zusammenarbeit zu fördern. Niemand ist gezwungen, beizutreten oder darin zu verbleiben. Es ist rein freiwillig, selbst für die Briten, die am Anfang eine Einladung in die EU noch abgelehnt haben, nur um etwas später selbst einen Antrag zu stellen. Die Vorteile müssen also an irgend einem Punkt die Nachteile überstimmt haben.

Und nun gibt es in Großbritannien Leute, die diesen Beitritt für einen Fehler halten, den es zu korrigieren gilt. Gut, die gibt es in jedem einzelnen Mitgliedsstaat, nur sind sie meistens eher in der Unterzahl. Aber Großbritannien ist ja kein gewöhnliches EU-Mitglied. Dank ihres „Britenrabatts“ zahlen sie geringere Beiträge an die EU und für so ziemlich jede Vereinbarung haben sie sich die Optionen offen gehalten, sich daran zu beteiligen, oder eben nicht. Ein Interesse am Euro haben sie ebenfalls nicht. Wohl aber an der Zollunion und der Reisefreiheit. Und ich bin mir sicher, es gibt eine Tonne an Vor- und Nachteilen, von denen ich nicht einmal weiß. Wie gesagt, ich bin kein Fachmann.

Die EU-Gegner argumentieren mit Selbstkontrolle, Abgaben an die EU, Normen und Regulationen. Über die Kontrolle kann ich nicht viel sagen, aber dank der „opt-in/opt-out“ Regelungen entziehen sie sich dem doch eh bereits.

Die Abgaben sind Steuern. Die Mittel also, mit denen jeder Staat seine Aktionen finanziert. Verwaltung, Subventionen, Aufbau- und Infrastrukturprogramme. Das kostet dann zunächst einmal und wirft in den wenigsten Fällen viel Gewinn ab. Wie würde sich z.B. eine Autobahn finanzieren? Überhaupt nicht auf direktem Wege! Das ist nicht ihre Aufgabe. Der Job von Infrastruktur ist es, sicherzustellen, dass die Wirtschaft der erschlossenen Region aktiv sein kann und Gewinnbringend arbeiten kann. Denn wenn sie das tut, dann kann sie auch ihre Steuern bezahlen, welche wiederum die Infrastruktur in Schuss halten können. Bleiben noch die Normen und Regulationen. Natürlich bekommen auch die Briten einen Anteil aus diesem Steuertopf, auch wenn naturgemäß unterwegs ein Wenig auf der Strecke bleibt.

Bleiben die Normen. Kein einziger der Mitgliedsstaaten ist als EU-Mitglied geboren worden. Alle waren schon vorher funktionierende Staaten mit jeweils ihren eigenen Regelungen und Gesetzen. Und plötzlich sollen all diese Normen miteinander kompatibel sein. Niemand soll ungerecht behandelt oder benachteiligt werden, trotzdem für eine gewisse Qualitätssicherung gesorgt sein. Keine leichte Aufgabe, zieht man die Größe und Wirtschaftskraft dieser Gemeinschaft in Betracht. Die Kopfkissenregelungen, die von den Brexit-Befürwortern so gerne angeführt werden sind schlichtweg falsch. Jemand hat einfach ein Suchprogramm durch die Regelwerke der EU laufen lassen und jedes „Kissen“ herausheben lassen. Das schließt kissenförmige Frühstücksflocken genau so ein wie die Sensorkissen in Autoairbags. Und wer mit der EU handeln will, der muss sich so oder so an die Standards halten, ansonsten kann er seine Wahren nicht einführen. Weder in Großbritannien, noch in Deutschland oder Rumänien.

EU und Brexit-Gegner versuchen nun Druck aufzubauen. „Raus heißt endgültig raus“. Sie sollen sich also sicher sein. Druck in einer Debatte, die von Sturköpfen und emotional überladen geführt wird. Das war schon immer eine gute Idee.

Und was heißt das, wenn die Briten nicht hier bleiben wollen? Dann befindet sich ihre Nation, welche erst vor Kurzem noch Schottland unbedingt im eigenen Verbund halten wollte, nicht mehr innerhalb sondern außerhalb des größten Binnenmarktes der Welt. Die angeblich so starke britische Wirtschaft kann nicht mehr von der Zollunion und Handelserleichterungen profitieren. Die Finanzwelt reagiert jetzt schon reichlich verschnupft auf die ganze Situation und wird sicherlich auch im Falle des Austritts nicht gerade euphorisch auftreten.

Aber wer weiß, vielleicht kommt Schottland ja dann auf die Idee sich dennoch abzuspalten um als vollwertiges EU-Mitglied wieder aufgenommen zu werden. Und für die EU wäre das ein deutliches Signal, sich einmal gründlich mit sich selbst befassen zu müssen. Denn auch wenn mir persönlich das Konzept der EU im Großen und Ganzen gut gefällt und ich die Idee mag, perfekt ist sie bei Weitem nicht und es gibt viele Ecken und Enden, an denen kräftig gefeilt werden muss. Dennoch hat sie sehr viel Potential und müsste sich nur trauen, das zu erkennen auch zu nutzen.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 88

Datensicherungen

„Und sie hat es sich nicht noch einmal überlegen wollen?“

„Doch, drei Tage lang. Danach hab ich sie nicht mehr davon abhalten können. Sie ist überzeugt, dass sie mit ihrem Abschluss keine Stelle finden wird.“

„Wenn sie schon nichts finden soll, was muss dann erst mit uns werden? Da kommt ja richtig Freude auf. Es wären doch noch maximal drei Monate, bis sie ihren Abschluss in der Tasche hat, zwei, bis die Arbeit und die Unikurse zu Ende sind. Können die nicht noch so lange auf sie warten oder sie so lange halbtags einstellen?“

„Das ist in Nord Brandenburg, mehr als fünf Stunden mit dem Auto entfernt. Da fährt man doch nicht halbtags hin. Ich habe ihr Home-Office vorgeschlagen, damit sie sich schon einmal einarbeiten, aber trotzdem ihren Abschluss machen kann. Sie war nicht begeistert.“

„Nur wie stellt sie sich das dann mit euch vor? Wir sind wenigstens ein Semester länger hier, versucht ihr es dann solange als Fernbeziehung?“

„Möglicherweise hat sie da überhaupt nicht dran gedacht. Im Augenblick will sie einfach nur weg und um jeden Preis eine Arbeit anfangen. Vielleicht geht sie davon aus, dass alles auf magische weise gut werden wird.“

Erik stocherte lustlos in den Resten seines Mittagessens herum, starrte ins Leere und war niedergeschlagen. Flo saß ihm gegenüber. Sein Teller war leer und sein Gesicht ratlos. Er hatte einiges erwartet aber nicht, dass Mia einfach kurz vor dem Abschluss alles hinschmeißen würde und eine beliebige Stelle irgendwo weit weg anfangen würde. Es hatte ihn schockiert, dass sie dermaßen leicht aus dem Gleichgewicht gekommen war. Besonders, da sie doch gerade erst die neue Wohnung bezogen hatte. Und von heute auf morgen sollte das alles für die Katz sein? Erik und Mia waren seit über einem Jahr ein Paar. Es war natürlich nicht immer leicht gewesen aber sie hatten es bisher noch jedes mal geschafft, eine Lösung für ihre Probleme zu finden. Wieso hatte Mia aufgegeben? Es war ihm ein Rätsel. In all den Jahren, die Flo Mia nun bereits kannte, hatte sie nie auch nur Anzeichen dafür gezeigt, dermaßen zusammenbrechen zu können. Und nun warf sie aus heiterem Himmel einfach alles hin? Das passte nicht zu ihr. Er würde einmal mit ihr reden müssen. Und ein Bier trinken, aber das gebot sich ja von selbst.

„Was würdest du denn wollen? Fernbeziehungen sind anstrengend und das hin und her Fahren ist auch teuer. Besonders, wenn man gerade eine komplette Wohnung schön eingerichtet hat.“

Erik sah Flo etwas irritiert an. Was sollte er schon groß wollen? Er verstand natürlich die Frage. Mia und er hatten in letzter Zeit eine etwas rauere Zeit durchlebt und von vielen seiner Sorgen und Bedenken hatte sie keine Notiz genommen, wenn er sie ihr überhaupt erzählt hatte. Aber wenn er wirklich ehrlich mit sich war, dann liebte er diese Frau einfach. So oft ihm auch in letzter Zeit der Gedanke gekommen war, dass er alleine vielleicht besser dran war, dass er mehr Abstand und die Luft zum Atmen brauchte, eigentlich wusste er doch, dass er sie brauchte und vor allem wollte. Er schluckte die Fritte runter, auf der er seit drei Minuten kaute.

„Wenn es nach mir geht, dann lässt sie diesen Job sausen und macht erst einmal ihren Abschluss fertig. Wenn sie unbedingt weg will, dann kann sie das auch noch in einem halben Jahr. Dann habe ich hoffentlich auch endlich einen Wisch und kann mit ihr mit. Sie würde es auf jeden fall bereuen, wenn sie jetzt einfach abbricht.“

„Das Traurige ist, wenn sie jetzt alles abbricht, ein Jahr arbeitet, dann bemerkt, dass sie doch lieber einen Abschluss haben will und komplett neu anfängt… Selbst dann ist sie wahrscheinlich immer noch jünger, wenn sie ihren Abschluss hat, als ich bei meinem sein werde. Es ist also entweder alles nicht so tragisch oder ich kann selbst ebensogut von der Brücke springen.“

„Du gehst jetzt gleich jedenfalls erst einmal mit mir rüber, Bier kaufen, und dann säufst du dir diesen Schwachsinn aus dem Hirn. So weit kommt es ja noch, dass du mich auch noch hier alleine hängen lassen willst.“

„Oh keine Sorge, ich mach ihn schon noch fertig. Aber ich muss mich natürlich schon fragen, was der denn überhaupt wert sein wird.“

Flo starrte eine Weile vor sich hin und ließ Erik mit seinen Essensresten alleine. Wenigstens so lange, bis er von sich aus den Blick wieder hob und ihn ansah.

„Du willst also mit ihr reden? Sie wird dir sagen, dass es nun eh zu spät ist. Sie hat ihre Abschlussarbeit bereits gelöscht und ihre ganzen Daten dazu. Einfach den ganzen Ordner.“ Er schob Flo eine Speicherkarte über den Tisch zu. „Aber was sie nicht weiß, ist, dass ich konsequent alle meine Daten sicher. Und einen Teil von ihren gleich mit. Sie wird mich dafür töten wollen, aber wenigstens gehe ich dann mit einem Knall.“

Eine kleine, schwarze, völlig unscheinbare Speicherkarte lag einsam in der Mitte des Tisches und ignorierte effektiv die erstaunten Blicke, die stumm auf ihr lasteten. In Ermangelung eines weiter reichenden Bewusstseins war sie sich nicht einmal der wichtigen Daten in ihrem Inneren bewusst. Für Flo hingegen war die Sache deutlich gewichtiger.

„Oh ja, sie wird dich töten. Vielleicht ärgert sie sich ja mehr darüber, dass sie sich ihre Daten hat klauen lassen aber wenn du dich so schön als Zielscheibe anbietest, wird sie das auch annehmen. Willst du es ihr anbieten oder warten, bis sie deswegen ankommt?“

„Wie soll sie das denn tun, wenn sie nichts davon weiß? Ich bin mir aber noch nicht sicher, wie genau ich das mache. Im Augenblick sitzt sie nur zu Hause und sucht eine Wohnung. Wenn ich Glück habe, dann ist sie davon bald so genervt, dass Uni doch wieder eine Option wird.“

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde aber ich drücke euch die Daumen, dass sie nichts findet.“

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Ronja Räubertochter – Buchtipp

RonjaRonja Räubertochter ist für mich der Inbegriff meiner Kindheit. Ich habe das Buch damals zu Weihnachten bekommen und mich hoffnungslos in die Welt verliebt. Diese unglaublich dichte Welt, in der man noch beim wievielten Lesen noch neue Details entdeckt. Dieses Gemälde, was vor dem inneren Auge entsteht und wächst. Ein kleiner Wald, der sich doch wie eine ganze Welt anfühlt.

Dieses Buch ist voll von Fabelwesen, die so selbstverständlich in der Welt umherlaufen, als würden sie in jedem Wald der Welt leben. Sie gehören einfach dazu und sind mit all ihren Eigenschaften und Wesenszügen nie einfach nur schwarz-weiß. Nur Menschen gibt es in diesem Wald kaum welche.

Die Protagonistin ist, wie für Astrid Lindgren typisch, ein Mädchen, dass sich nichts sagen lassen will. Sie ist eine starke Figur, eine Spur trotzig und auf jeden fall wagemutig. Als einziges Kind wächst sie alleine bei der Räuberbande ihres Vaters im Wald auf. Ständig bemüht, ihre Grenzen aus zu testen, kann sie doch immer in ein behütetes Heim zurückkehren. Mit ihren Eltern wohnt sie in einer Burg, die offenbar viel zu groß für die Räuberbande ist und seit einem Blitzeinschlag bei Ronjas Geburt in zwei Teile gespalten ist.

Als sich in der zweiten, abgetrennten Hälfte, eine konkurrierende Räuberbande einnistet, ist es vorbei mit der Harmonie in der behüteten Burg. Für Ronja aber beginnt nun das Abenteuer erst recht. Fast schon nebenbei zwingt sie ihr unbestechlicher Sinn für Gerechtigkeit in eine Vermittlerrolle zwischen den beiden verfeindeten Clans.

Unterstützt werden die Geschichten von detaillierten, liebevoll gestalteten Bildern. Gleich im Einband findet sich eine Zeichnung der gesamten Welt. Einen Großteil der Schauplätze findet sich dort schon und erlaubt es, einfach den Überblick herzustellen. Für mich war es immer ein herrliches Wimmelbild, welches die Fantasie anregt, die Welt mit eigenen Geschichten zu füllen.

Ronja Räubertochter ist auf jeden fall ein sehr lesenswertes Kinderbuch. Ob zum Vorlesen oder selber lesen, junge Bücherfreunde dürften sicher viel Spaß an diesem Buch haben. Ich hatte es jedenfalls und habe es sehr lieb gewonnen.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 87

Entscheidungen

„So eine verdammte Scheiße! Das klappt alles vorne und hinten nicht! Wieso tu ich mir das eigentlich noch an?“
Mia war restlos frustriert, schmiss ihre Bücher durch den Raum und zerriss die Blätter. In einem Regen aus Konfetti und Tränen warf sie sich auf das Bett. Erik kam aus der Küche herüber, die Schürze um den Bauch gebunden und einen Pfannenwender in der Hand. Er neigte den Kopf von einer auf die andere Seite, lehnte kurz unschlüssig im Türrahmen, legte dann den fettigen Pfannenwender auf eine freie Stelle des Nachttischs und setzte sich zu Mia ins Bett. Er überlegte kurz, ob er sie in den Arm nehmen oder streicheln sollte, zog dann aber sicherheitshalber den Arm wieder zurück. Es war besser, zunächst einmal einen Überblick über die Situation zu bekommen.
„Was ist denn los? Läuft deine Arbeit so schlecht oder macht der Rechner Ärger?“
Sie grub sich tief in Decken und Kissen ein, brummte irgendetwas in die Matratze, was Erik nicht verstehen konnte, und wurde von bitterlichen Weinkrämpfen geschüttelt. Es dauerte eine Weile, bis er aus den Lauten schlau wurde, welche aus dem Kissen drangen.
„Alles ist los. Nichts funktioniert. Das Programm macht nur Mist, meine Quellen widersprechen sich gegenseitig, die Grafiken werden nicht sauber in das Dokument geladen. Alles ist scheiße! Ich lass es bleiben. Es hat doch alles keinen Sinn, ich werde das nie schaffen. Ich habe zu wenig Zeit, als dass ich es auch noch in dieser Zeit schaffen könnte. Und selbst wenn es klappt, dann kommt eine miese Note raus und ich kann das ganze Studium vergessen. Ich brauch doch eine gute Note.“
Erik wusste, was Mia unter guten und schlechten Noten verstand. Schlecht war das, was in seiner Liste die beste Note war. Gut war entsprechend die beste mögliche Note, welche ihr gerade gut genug war. Sein Bedürfnis, sie zu trösten, war schlagartig geschrumpft. Er fühlte sich schlecht, hatte miese Laune bekommen und war entmutigt. Wenn Mia sich schon Sorgen um ihre Jobchancen machte, was sollte dann erst auf einen eher schlechten Studenten wie ihn warten? Glanz und Glorie jedenfalls nicht, soviel war sicher. Dennoch, er konnte sie nicht einfach liegen lassen, auch wenn sie inzwischen so tief im Bett vergraben war, dass sie den Lattenrost von unten sehen musste.
„So schlimm kann es doch gar nicht sein. Gestern Abend warst du doch schon halb fertig und du hast die Arbeit vor gerade einmal einer Woche angemeldet. Du hast noch mehr als sechs Wochen. Kannst du es nicht irgendwie nutzen, dass die Autoren sich widersprechen?“
„Halb fertig mit den Nerven und einem großen Haufen Scheiße. Ich kann es genau so gut alles wieder löschen, es macht keinen Unterschied. Die Arbeit ist schlecht und daran kann ich auch nichts mehr ändern.“
Es folgte eine längere Pause in dem dumpfen Brummen aus der Matratze. Erik suchte fieberhaft nach einem Strohhalm, irgendetwas, womit er seine Freundin aufbauen konnte und sie wieder aus der Decke zu locken. Er hatte seine Hand tröstend auf den bebenden Haufen aus Decken und Kissen gelegt. Er hob und senkte sich inzwischen ruhiger, es half also wenigstens ein wenig. Tiefes Durchatmen und ein ausgedehnter Seufzer drang aus dem Kissen, dann erschien ein aufgequollenes, rotes Gesicht.
„Es hilft nichts. Ich lass es bleiben. Ich habe eine Stelle gefunden, an der ich auch ohne den Abschluss arbeiten kann. Die haben mir beim Vorstellungsgespräch über Skype schon zugesagt, ich muss nur noch unterschreiben.“
„Was für eine Stelle? Welches Vorstellungsgespräch? Wieso willst du denn jetzt plötzlich alles hinschmeißen? Du hast dir solche Mühe gegeben bis hierhin zu kommen und willst jetzt so kurz vor Schluss nicht wirklich hinschmeißen.“
„Doch, Erik. Ich lass es bleiben. Es ergibt keinen Sinn, hier weiter zu machen. Der Abschluss würde nichts wert sein.“
„Dein Abschluss ist besser als meiner, selbst wenn ich meine Punkte mit Flo zusammen schmeißen würde.“
„Ihr habt aber beide auch andere Qualifikationen. Da müsst ihr euch weniger Sorgen drum machen als ich.“
Mia war aufgestanden und druckte ein Dokument aus. Drei Seiten spuckte der Drucker aus, Erik erkannte das Logo darauf nicht, Mia unterschrieb auf der letzten. Er hatte ein seltsam mulmiges Gefühl bei der Sache. Mia aber war unbeirrbar.
„Was ist das überhaupt für eine Firma? Und wo sitzen die? Ich hab den Ortsnamen noch nie gehört.“
„Vor fünf Jahren waren die noch ein kleines StartUp, inzwischen sind sie relativ etabliert im Bau und der Wartung von Hausbooten. Die sitzen in Brandenburg, an den Seen dort.“
„Nicht gerade um die Ecke. Ich dachte eigentlich, wir wohnen hier jetzt eine Weile zusammen aber offenbar willst du nach dem Abschluss gerne wieder ausziehen? Hausboote also. Wenn ich mit einigem gerechnet habe, damit nicht.“
Mia kaute eine Weile verlegen auf ihrer Lippe und zeigte dann mit dem Finger nur zaghaft auf ein Datum im frisch unterschriebenen Vertrag. Ihre Augen waren nicht länger verzweifelt oder aufgequollen. Sie strahlten Zuversicht und Entschlossenheit aus. Dafür fühlte sich Erik, als wäre er geradewegs von einem Güterzug in voller Fahrt getroffen worden.
„Verstehst du nicht? Ich kann diesen Abschluss nicht machen. Ich fange in drei Wochen da oben an. Ich werd mir wohl da eine kleine Wohnung suchen.“
„Du hast Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit wir beide zusammen ziehen können und nach nicht einmal einem Monat lässt du mich alleine hier sitzen und verschwindest in den Osten? Du brichst dein Studium ab, welches du als Jahrgangsbeste abschließen würdest, selbst wenn deine Abschlussarbeit total daneben gehen würde…“

Laterne

Ihm fehlten einfach die Worte. Er hätte noch eine Frage auf dem Herzen gehabt. Aber was ist mit uns? Er traute sich nicht einmal, sie auszusprechen, wollte die Antwort nicht hören. Der Mund war ausgedorrt und trocken, ihm war schwindelig, die Augen tränten und die Nase biss ihm. Ein feiner Nebel waberte aus der Küche heran und er erinnerte sich. Die Pfanne hatte er noch vom Herd geschoben, ehe er rüber gekommen war. Der Reis aber stand seit sicher einer viertel Stunde unbeaufsichtigt auf dem Herd und brannte bei voller Hitze an.

Pilzexperimente die Zweite

Seit einer Woche steht nun in der schattigen aber warmen Nische unter meinem Fenster und hinter meinem Drucker ein alter Joghurteimer, in dem sich eine Pilzkultur entwickeln sollte. So war der Plan, auch wenn ich nicht übermäßig zuversichtlich war. Ich habe mich möglichst präzise an die Anleitung gehalten aber habe halt einfach kein biochemisches Labor zur Verfügung. Nur was für ein Grund wäre das schon, sich vom Ausprobieren abzuhalten?

Eine Woche ist für Pilze durchaus viel Zeit und man kann tatsächlich einen Fortschritt erkennen. Wenn es das Ziel war, eine Pilzkultur zu züchten, dann war ich erfolgreich. Nur bei der Art der Pilze habe ich so meine Zweifel. Ich hätte mich natürlich über eine Überraschung gefreut, tatsächlich zeigen sich die Pilze im Eimer eher als Schimmelpilze und definitiv nicht als Kräuterseidling.

Schade, vielleicht habe ich ja mit dem nächsten Experiment mehr Erfolg. Was das werden soll ist noch offen. Vorschläge sind willkommen.

2016-06-08 16.40.19

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 86

Eisenbahnbrücke

Mit hellem Quietschen und lautem Rumpeln ratterte der Güterzug unter der Brücke am Bahnhof entlang. Die letzte Abenddämmerung und die Lichter der Stadt warfen einen dezentes Licht auf die Bahnanlagen. Zwei Gleise weiter links fuhr gerade eine Regionalbahn ein, hinter den hell erleuchteten Fenstern drängten sich die Schatten vieler Fahrgäste. Von der Brücke aus war kaum zu erkennen, wer welcher Tätigkeit nachging oder emsig seine Sachen zusammen räumte, um am Bahnhof diese Etappe seiner Reise zu beenden. Lediglich die Bewegung hinter den Fenstern war zu erkennen.

Auf der Brücke stand Flo, die Ellenbogen auf das Geländer gestützt, ein verträumtes Leuchten in den Augen, den Wind in den Haaren, Fernweh im Herzen. Er hatte den Abend nichts Besseres mehr vor, als hier zu stehen, die Kälte der hereinbrechenden Nacht zu ignorieren und den Zügen hinterher zu sehen. Ruhe kehrte in ihn ein, entspannte ihn und trug seinen Geist davon. Wie jedes Mal, sobald er sich etwas Leerlauf gönnte, begann sein Gehirn auch diesmal Geschichten und Bilder zu malen.

Eine junge Frau in der Regionalbahn. Sie hat die Haare bunt gefärbt, ihre Kleidung ist löchrig und alt, aber sauber, an den Händen hat sie Schwielen von der harten Arbeit im Handwerksbetrieb ihrer Eltern. Der Betrieb ist zu ihrem Leben geworden. Mit zwölf Jahren hat sie angefangen, dort auszuhelfen, bis zu ihrem Abschluss mit sechzehn hat sie immer mehr Aufgaben dort übernommen. Inzwischen ist das Geschäft ihre ganze Welt geworden und sie hasst es. Es raubt ihr die Luft zum Atmen, den Raum zum Denken und die Kraft zum Träumen. Heute Abend ist sie weggelaufen. Einfach weg von ihrer Heimat und dem gierigen Betrieb. Hinein in den Zug. Egal wohin er sie bringen wird. Überall kann es nur besser sein als daheim.

Die Nacht wird sie an einem Bahnhof verbringen, in einer Stadt, die sie nie vorher gesehen hat. Morgen wird ihre Reise weiter gehen. Ein fröhlicher Geschäftsmann wird sie auf seiner Fahrkarte mitnehmen und am Nachmittag wird sie das erste Mal in ihrem Leben das Meer sehen. Sie wird mit einem Brötchen in den Dünen sitzen, den Wellen lauschen und das Tanzen der Schaumkronen beobachten. Sie wird ihre Füße in die Brandung halten und das Salz auf ihren Lippen schmecken. Sie weiß nicht, ob sie wieder nach Hause fahren wird oder bei einem Betrieb in einer anderen Stadt neu anfängt. Sie wird keine Schwierigkeiten haben, etwas zu finden. Auch wenn sie es noch nicht weiß, sie ist in ihrem Bereich die Beste weit und breit.

Der Geschäftsmann, der sie mitgenommen hat, wird zu dieser Zeit bereits wieder in seiner Wohnung sein. Das Schicksal meint es zurzeit sehr gut mit ihm. Sein Vater hat eine schwere Krankheit überwunden, er selbst ist auf der Arbeit befördert worden ohne wirklich zu wissen wieso und zu allem Überfluss ist er frisch verliebt. Er hat seine absolute Traumfrau gefunden. Die, nach der er seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, gesucht hat. Außerdem ist er seit dieser Woche endlich schuldenfrei, das erste Mal in seinem Erwachsenenleben. Er kann sich nicht vorstellen, wie sein Leben im Moment noch perfekter werden könnte.

Im ICE, der gerade die Stadt Richtung Süden verlässt, sitzt ein alter Mann. Er ist aufgeregt wie ein Schuljunge vor seinem ersten ernsthaften Date. Durch Zufall hat er im Internet seine Jugendliebe wieder gefunden, nun fährt er sie besuchen. Beim Blick aus dem Fenster wird er wehleidig, ein Güterzug mit Kohlewagen fährt vorbei. Als sie noch jung waren, da ist er mit ihr, also seiner Jugendliebe, immer wieder auf Güterzüge aufgesprungen. Sie sind dann in die umliegenden Städte gefahren und haben tolle Sommertage genossen. Wenn er in seinem Leben eines wirklich bitterlich bereut, dann, dass er ihr seine Liebe nie gestanden hat. Sie war seine erste und auch einzige große Liebe, doch damals war er zu ängstlich, so wie jetzt auch wieder.

Im Abteil dem alten Mann gegenüber sitzt eine Richterin. Ihr schlichtes Kostüm und die straffe Frisur harmonieren mit dem finsteren Gesicht. Sie wirkt, als habe sie seit Jahren nicht mehr gelacht. Die Beziehung zu ihren beiden Kindern droht zu zerbrechen, ihre Ehe sowieso. Sie wird das Bedauern des alten Mannes noch gut nachempfinden können, wenn sie einmal realisiert, dass die Karriere nicht alles im Leben ist und es Wichtigeres gibt. Ihre Tochter und ihr Sohn werden dann keine Zeit mehr für sie haben, weil sie ihre Vision der perfekten Familie in ihren eigenen Leben realisieren werden. Und ihr Mann? Der wird in seiner Rolle als liebevoller Opa völlig neu aufgehen. Er wird ihr dadurch nur noch fremder erscheinen und sie sich selbst noch einsamer.

Bei dem Gedanken daran läuft Flo ein eisiger Schauer über den Rücken. Die perfekte Familie. So viele Leute streben sie an, jeder hat seine eigene Vorstellung davon und doch arbeiten so viele Menschen sehenden Auges weit daran vorbei. Sie verpassen die Momente, die wirklich zählen, die wirklich wichtig sind, während sie einen Kompromiss suchen, wo überhaupt keiner gefragt ist. Es ist doch nicht die Zeit, die man nicht hat. Es ist die Zeit, die man sich nicht nimmt. Melancholie keimt auf und der nächste Zug rollt heran. Die bunten Schatten darin sind unverkennbar. Dankbar greift er das Bild auf, in der Hoffnung, auf ein fröhlicheres Bild.

Es sind Fußballfans auf dem Heimweg. Am frühen Abend haben sie ihre Mannschaft in einer fremden Stadt angefeuert, mit viel Herzblut und Begeisterung. Viele kennen sich nicht einmal doch das Erlebnis, gemeinsam ihre Helden zu feiern schweißt zusammen. Besonders, da das Spiel mit einem spektakulären Sieg für die eigene Mannschaft endete. Ein tolles Spiel, fair, sauber gespielt und spannend bis zum Schluss. Was für einen besseren Grund zum ausgelassenen Feiern kann es denn geben? Nun muss Flo doch noch lächeln. Vielleicht sollte er einfach mal in einen Zug steigen und sehen, wohin er ihn bringen würde. Von dem Blickwinkel aus musste es doch noch ganz andere Geschichten geben.

Pilzexperimente

Meine Fensterbank steht dieses Jahr ausgesprochen voll. Paprika, Tomaten, Salat, Basilikum. Alles selbst gezogen und da ich mich nicht davon trennen konnte in einem Blumenkasten und einer ganzen Serie von leeren Joghurteimern (1l) gepflanzt. Alles zusammen bildet eine hübsch grüne Sichtschutzgardine vor meinem kleinen Fenster. Nun ist das Problem, ich bin neugierig geworden, was ich alles pflanzen und züchten kann, aber habe keinen Platz mehr am Licht. Was also verträgt einen schattigeren Platz?

Einen dezenten Hinweis gibt es bei einem Spaziergang über den Markt… oder in der Überschrift. Mir kam jedenfalls die Frage:

„Wie schwer ist es eigentlich, Pilze zu züchten?“

Also mach ich mich auf die Suche nach der Antwort.

Die erste Idee war, einfach einen Pilz zu nehmen, eventuell in Teile zu schneiden und in Erde zu legen. Allerdings sind mit Pilze im Kühlschrank auch noch nie gekeimt sondern immer nur verschimmelt. Wen auch immer ich gefragt habe, eigentlich waren sich alle einig, dass es nicht klappen dürfte. Also mache ich mich lieber auf die Suche nach einer Alternative.

2016-05-27 23.53.28

Man kann im Internet fertige Mycelblöcke bestellen oder Sporendübel, um sich seinen Baumstamm oder sonstiges Substrat zu „infizieren“. Aber das ist doch witzlos. Es muss auch anders gehen. Auf Pilzzucht.eu wird eine Methode beschrieben, wie man sich aus Champignons selbst Sporenpräparate herstellt. Nur habe ich das Material dafür überhaupt nicht und habe auch nicht vor, mir Laborgeräte für ein Hobbyexperiment zuzulegen. Eine andere Methode erscheint mir auf den ersten Blick etwas unkritischer: Pilze „klonen“, auch wenn es dem Namen nur mäßig gerecht wird. Ich habe zwar auch hier nicht das nötige Material, will es aber trotzdem einfach versuchen.

Die Anleitung verlangt eine völlig sterile Umgebung, einen völlig sterilen Nährboden und eine völlig sterile Pilzprobe. Ich habe eine Küche, noch keinen Nährboden und eine Pilzprobe, die noch im Stumpf eines Kräuterseitlings auf ihre Bergung wartet.

Der erste Schritt für mich ist der Nährboden. Ich entscheide mich für einen auf Kartoffelbasis. Hierzu werden Kartoffeln gekocht und mit dem Wasser zu Brei zerstampft. Dieser Püree wird nun durch ein Küchentuch gedrückt, so dass ein milchiger Kartoffelsud abtropft. Dieser Sud soll mit Agar Agar aufgekocht werden und dann in Petrischalen abgefüllt werden.

Ich besitze keine Petrischalen, sondern nur noch einen weiteren leeren Joghurteimer. Ich versuche es also damit und damit es nicht ganz so sehr zum Scheitern verurteilt ist, versuche ich ihn vorher mit Rum zu desinfizieren. Etwas Besseres habe ich leider nicht. Auch sollen die Petrischalen im Dampfdrucktopf noch einmal abgekocht und desinfiziert werden. Ich habe auch keinen Dampfdrucktopf, abgesehen davon, dass der Eimer das auch nicht überleben würde. Wie gesagt, etwas Besseres habe ich gerade nicht und ich wollte schließlich einfach experimentieren.

Also landet der frisch gekochte Nährboden im Eimer und ein kleines Stückchen Pilz dazu. Deckel drauf und warten. Der Rest des Pilzes landet natürlich nicht im Eimer sondern in der Pfanne. Ich muss gestehen, ich bin wenig zuversichtlich aber will es dennoch wissen. Der Vorteil am Joghurteimer ist, dass man einfach den Deckel drauf machen kann. Dann ist die Probe halbwegs geschützt und wasserdicht. Außerdem verdunstet keine Flüssigkeit. Ich habe eine Frischhaltefolie zwischen Eimer und Deckel gespannt und ein kleines Guckloch in den Deckel geschnitten. So kann ich nachsehen, was der aktuelle Stand ist. Also ab in eine dunkle, warme Ecke mit dem Eimer und Geduld zeigen.