Lange Nacht
Die ausdauernde Sommersonne war schon vor langer Zeit untergegangen. Es konnte nicht mehr ewig dauern, bis auf der anderen Seite der dicken Gardinen die ersten Anzeichen der Morgendämmerung auftauchten und die hoch treibenden Federwölkchen sanft rot färbte. Mia lag auf dem Rücken, die Hände vor dem Bauch verschränkt und starrte an die dunkle Decke über ihr. Wenigstens war das der Ort, an den ihre Augen gucken würden, wenn das Gehirn ihre Informationen nicht aktuell ignorierte. Mia war mit sich selbst beschäftigt, der Blick nach innen gekehrt.
Sie hatte ihre Zeit genutzt, seit die Vorlesungen zu Ende waren. Die ganze Woche hatte sie am Schreibtisch verbracht und war wieder und wieder ihre Abschlussarbeit durchgegangen. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie noch daran arbeitete. Es fühlte sich ja kaum noch wie ihre eigene Arbeit an, nachdem Erik sie restauriert und in eine elegante Form gegossen hatte. Er hatte wirklich ganze Arbeit bei der Formatierung geleistet. Übersichtlich, sauber, einfach zu lesen, professionell und nicht zu sehr gestreckt. Sie war verblüfft gewesen und reichlich neidisch auf diese Fähigkeiten. So verblüfft, dass sie beinahe vergaß, sich zu wundern, wieso er ihr ihre Arbeit geben konnte. Warum hatte er sich diese Arbeit gemacht? Mit seinem eigenem Studium kam er nicht aus dem Quark aber ihre Abschlussarbeit erledigte er mal eben nebenher?
Sie hatte zügig wieder in das Thema gefunden und die restlichen Kapitel geschrieben. Dennoch war sie nicht glücklich damit. Sie konnte nicht sagen, welcher Teil ihrer eigenen Feder, und welcher aus Eriks entsprungen war. Eigentlich sollte sie das nicht stören, versuchte sie sich einzureden. Solange sie es niemandem auf die Nase band, würde es ihr Geheimnis bleiben. Selbst Erik konnte sie sagen, sie habe alles noch einmal umgeschrieben. Er konnte sich wahrscheinlich kaum noch daran erinnern, was der Inhalt, geschweige denn der Wortlaut der Arbeit war. So etwas war ihm nie wichtig gewesen. Er ging so leichtfertig mit dem Vergessen um.
Und sie selbst bemühte sich verzweifelt, so wenig wie möglich zu vergessen. Die Arbeit rannte in ihrem Kopf auf und ab, dass an Schlaf nicht zu denken war. Selbst die Augen schienen nicht müde zu sein, nach all den langen Stunden am Rechner. So sehr sie sich auch bemühte und so sehr die Arbeit doch wieder Produkt ihrer eigenen Anstrengungen war, sie war nicht zufrieden. Von morgens früh bis abends spät bemühte sie sich, nur unterbrochen von der obligatorischen Pause am Nachmittag, wenn „Alles nur aus Liebe“ lief. Erik versuchte sich um sie zu kümmern, wenn er denn da war.
Einen Teil des Tages verbrachte er selbst in der Bibliothek und lernte mit Flo für die anstehenden Klausuren. Vermutlich war auch Tina dabei, aber das war Mia inzwischen nicht mehr wichtig. Dieses blondierte Schmalspurweib würde ihr ihren Freund nicht streitig machen, wenn sie nicht restlos dumm war. Der eigentliche Grund hinter ihrer Ruhe hatte sie zunächst kräftig erschreckt und ihr sehr viel Selbstbeherrschung abverlangt, ihn sich selbst einzugestehen: Sie vertraute Erik.
Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, klang es fast banal. Vertrauen, die notwendige Basis jeder Beziehung. Es hatte fast zwei Jahre Beziehung gebraucht, bis sie sah, dass sie ihm vertraute. Im Umkehrschluss hieß das, dass sie ihm vorher nicht vertraut hatte? Wie war da überhaupt eine Beziehung möglich gewesen? War überhaupt eine Beziehung möglich gewesen? Sie hatte begonnen, sich selbst und ihre Beziehung mit Erik zu reflektieren. Während am Horizont der erste helle Streifen mit dem dunklen Nachthimmel rang, fielen ihr immer mehr und mehr Details, kleine und große Gesten und Worte ein und auf. Wie sehr Erik sich immer wieder bemüht hatte. Die allgegenwärtige Abschlussarbeit drang in ihr Gedankengebäude ein und mischte sich unter die Erinnerungen.
Auf einmal fühlte sie sich wieder wie ein kleines Kind. Das kleine Mädchen, welches unter dem Baum im Garten stand und, so sehr sie sich auch bemühte, es nicht einmal schaffte, auf den unteren Ast zu kommen. Sie hatte aufgeben müssen, weil sie nicht groß und nicht stark genug war. Jetzt war sie groß und stark genug. Aber war sie auch gut genug? Sie hatte nicht das Gefühl. Nicht bei ihrer Arbeit, nicht in ihrer Beziehung. Sie gab sich so viel Mühe und hatte trotzdem immer nur das Gefühl, nutzlos zu sein, ein Taugenichts. Es verdarb ihr die Laune und machte sie reizbar und mürrisch und was noch viel schlimmer war, herrisch. Sie hatte bisher nicht einmal realisiert, wie sie mit ihrer Umwelt umgesprungen war und wie sie sich verändert hatte. Jetzt tat es ihr entsetzlich leid.
Noch vor zwei Wochen war sie der Überzeugung gewesen, ihr ganzes Leben umkrempeln zu müssen. Sie hatte alleine nach einer Wohnung gesucht, in einer fremden Stadt, einer fremden Umgebung für einen Job, von dem sie nicht überzeugt war, aber den sie hätte haben können. Jetzt lag sie wieder neben Erik in ihrem gemeinsamen Bett und es fühlte sich einfach so viel richtiger an. Er sah so friedlich aus, wie er schlief, strahlte so viel Ruhe aus. Er war ihr Anker in diesem turbulenten Leben und wusste nicht einmal etwas davon. Er war die Konstante, die Regelmäßigkeit und er stand immer hinter ihr, so schwer sie es ihm auch machte. Wieso hatte sie ihm das noch nie gesagt?
Für eine Weile beobachtete sie ihn einfach, wie er dort lag und schlief, streichelte ihm vorsichtig über den Kopf und die Schultern. Irgendwas veranlasste sie dazu, ihn wach zu rütteln. Er war darüber überhaupt nicht glücklich, öffnete nur ein Auge so weit wie eben nötig und brummte sie mürrisch an. Sie erwiderte es mit einem Lächeln, gab ihm einen Kuss und sagte es nun doch einmal.
„Danke, dass du immer für mich da bist. Für alles einfach.“
Dann war sie eingeschlafen und hinterließ einen reichlich verwirrten und irgendwie beunruhigten Erik.