Den ersten Teil von Offenschreibens Schreib mit mir findest du hier.
Ich wurde in einem kleinen Kellerraum wach. Es gab keine Fenster aber ein kleines und doch gemütliches Bett, eine Schreibnische und einen Stuhl. Auf dem Stuhl lag, zusammengefaltet, ein Anzug für mich bereit. Er passte erstaunlich gut und beim Blick in den Spiegel an der Türe musste ich zugeben, dass er mir ausgesprochen gut stand. Ich musste mich nur erst wieder etwas in Form bringen. Tom hatte mir noch vor dem Schlafengehen das Bad gezeigt, wo ich mich frisch machen konnte.
„Du bist also endlich wieder wach.“
Beim Frühstück hatte ich noch in Erfahrung bringen können, dass die alte Frau, welche mich auch jetzt wieder kichernd begrüßte, als ich das Wohnzimmer betrat, Lena hieß. Sie saß in einem Sessel, der Platz für drei von ihrer Sorte geboten hätte und strickte. Jedenfalls glaube ich, dass es stricken war. Sie war der erste Mensch, den ich jemals wirklich handfest hatte stricken sehen, aber ich kannte die Abbildungen aus alten Kinderbüchern. Ich hatte sie selbst als Kind gelesen, später von meinen Eltern übernommen und meinen eigenen Kindern und Enkeln vorgelesen. Das Papier war alt und abgegriffen und vieles darin kannte ich selbst nur noch vom Hörensagen. Ausgestorbene Wörter und Tätigkeiten, es war wie ein Ausflug in eine fremde Welt, dabei war es nur eine andere Zeit gewesen. Eine Zeit, aus der Lena vielleicht sogar noch selbst kam.
„Komm, ich möchte mir etwas die Beine vertreten. Inzwischen sollte es etwas abgekühlt sein draußen, du hast immerhin den ganzen Tag verschlafen. Etwas Bewegung wird dir auch gut tun und immerhin musst du dich im neuen Viertel zurechtfinden lernen.“
Sie führte mich durch die Straßen, zeigte mir, wo ich welche Geschäfte finden konnte, erzählte mir, welches Lokal schon seit wann an welche Familie vergeben war, wo der Park war und was das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens des Zentrums war. Ich kannte die Gegend sogar, erkannte einige Sachen wieder. Früher war ich ab und an mal hindurch gefahren, aber hatte nie einen Bezug dazu gehabt.
Wir schlenderten die Hauptstraße eines Viertels entlang, von dem ich niemals gedacht hätte, dass es einmal meine Heimat werden könnte. Vor allem nicht auf diese Weise. Gesichter kamen uns entgegen, gingen an uns vorbei, ohne uns zu bemerken. Die Masse bot Schutz, denn niemand interessierte sich für Individuen. Was ist eine einzelne Welle für den Ozean? Nur wir beobachteten die Gesichter und dachten uns Geschichten dazu aus. Der Spaß alter Leute, welche die Ruhe und die Zeit haben, sich ihre Umwelt anzusehen. Müde Augen von Menschen, die nach einem langen Arbeitstag auf dem Heimweg waren. Konzentrierte Gesichter auf der Suche nach Dingen, die sie noch zu besorgen hatten. Fröhliche Münder, in denen sich die Vorfreude auf das Treffen mit einem lieben Menschen widerspiegelte.
Und dann kam der nächste Schreck auf mich zu, diesmal in der Gestalt von Marten. Er war erst vor zwei Tagen auf meinem Abschied gewesen, wir hatten gemeinsam Kuchen gegessen und uns an ein halbes Jahrhundert guter Freundschaft erinnert. Jetzt war sein Blick nach innen gerichtet und er wirkte besorgt. Liebend gerne hätte ich ihn angesprochen und gefragt, was los sei, doch ich konnte mich nicht rühren. Steif vor Schock stand ich da, unfähig auch nur den Arm zu heben. Er kam direkt auf mich zu, ich hätte wetten können, dass er mich direkt angesehen hat, aber er ging vorbei. Erst an der nächsten Ecke hielt er inne und drehte sich mit erstauntem und zweifelndem Blick um. Doch da waren wir bereits um die nächste Ecke verschwunden und versteckt. Zu gerne hätte ich seine Gedanken erfahren.
Im Anschluss an dieses Ereignis erklärte Lena unseren Ausflug für beendet. Ich bräuchte Ruhe, sagte sie, und müsse mich erst noch an die neue Situation gewöhnen. Vielleicht hatte sie recht, vielleicht auch nicht. Ich vertraute ihr in dieser Sache aber einfach mal, denn sie hatte wesentlich mehr Erfahrung mit Leuten, die gestorben waren und doch weiter lebten, als ich.
Diesmal betraten wir das Restaurant über dem Unterschlupf nicht durch die Verladeluke, sondern durch den Haupteingang. Lena wurde offenbar schon erwartet, denn der Eigentümer hatte einige Tüten mit warmen Dosen und Schachteln bepackt, die er uns gleich in die Hand drückte. Lena bezahlte das Abendessen und verabschiedete sich freundlich. Ich hatte noch nicht herausgefunden, wie genau sich unsere Gruppe eigentlich finanzierte. Niemand von uns hatte eine offizielle Arbeitsgenehmigung oder konnte Rente beziehen. All dies erlosch mit dem Tod.
Die nächsten zwei Tage verbrachte ich hauptsächlich damit den Unterschlupf zu erkunden, aufzuräumen, im Haushalt zu helfen und zu lesen. Ich gewöhnte mich an den Gedanken, wohl noch eine Weile zu leben und lernte meine Mitbewohner kennen. Lena war tatsächlich die Älteste hier, mit inzwischen über zweihundert Jahren. Sie erinnerte sich sogar noch an die Zeit vor dem Orakel. An die Zeit, als das Sterbedatum noch rein genetisch ermittelt worden war. Damals war es noch möglich gewesen, dass sich das Datum irrte und man durch Unfälle oder Krankheiten früher starb. Nur Lena war einfach nie gestorben.
Die meisten der Untoten hier waren nie gestorben. Es kam nur selten vor, dass doch noch jemand später verstarb. Für solche Fälle waren einige Kontakte in die Behörden geknüpft worden, zu Stellen, wo Leute saßen, denen es möglich war, unauffällig nicht mehr registrierte Körper verschwinden zu lassen. Ein solcher Fall aber war ausgesprochen selten. Waren wir insgeheim unsterblich und wussten selbst nichts davon? Lena war alt, aber zeigte keine Anzeichen von Schwäche. Hattie hätte bereits vor dreißig Jahren sterben sollen, und hatte sich seitdem kaum mehr verändert. Lukas war gerade vierzig, als seine Zeit ablief. Jetzt war er knapp über hundert und niemand würde ihn älter als sechzig schätzen. In dieser Runde fühlte ich mich regelrecht jugendlich.
Und dann kam der Tag, an dem ich herausfand, was an mir anders war. Es war Donnerstag und wie jeden Donnerstag hatte Selime den Tag mit ihrer Tochter verbracht und sie dann zum Bahnhof gebracht. Sie sehnte sich danach, sie einmal in ihrer Stadt besuchen zu können aber der Zug war dafür Tabu. Ohne ihren Ausweis konnte sie keine Bahn betreten und weg fahren. Das war eine Grenze unserer Freiheit.
Aber was ihr aufgefallen war, war ein Polizist, der am Bahnhof Leute befragte. Der Roboter zog scheinbar ziellos durch die Menge der Reisenden und fragte hier und da nach, ob jemand diese Person gesehen habe. Dabei hielt er ihnen eine kleine Abbildung von mir vor. Ich sei vermisst gemeldet, hieß es, und man hoffe, auf diese Weise einen Hinweis auf meinen Aufenthaltsort zu bekommen. Kein Wort darüber, dass ich verstorben war.
Die Information, dass nach mir gesucht wurde, sorgte für einiges an Verwirrung und Wirbel. Eine solche Situation war irgendwie noch ungewöhnlicher, als jemand, der nicht an seinem Todesdatum starb. Selbst meine Gastgeber waren mit solchen Ereignissen überfordert.
Um der Frage auf den Grund zu gehen, unternahmen wir einen kleinen Ausflug in die Bibliothek. Die Terminals dort sind öffentlich und frei zugänglich, was es ein wenig einfacher macht, anonym zu bleiben. Zwar war das nicht die ideale Situation für uns, aber das Beste, was wir bekommen konnten. Die Suchen nach meiner Person ergaben sämtlich das erwartete Ergebnis: Ich war tot, nicht länger aktiv. Es war nicht, wie bei der mythischen Unperson, welche gänzlich aus der Geschichte getilgt worden war. Ich hatte existiert, wurde von Arbeitgebern und meinen Vereinen lobend erwähnt, es gab Veröffentlichungen von mir und Nachrufe auf mich. Ganz genau so, wie es zu erwarten gewesen war. Auch auf den Portalen der Behörden gab es keine Hinweise, keinen Eintrag bei Vermisstenanzeigen oder Gesuchen.
Und doch war es keine Einbildung gewesen, dass die Polizeidrohnen nach mir gesucht hatten. Selbst ein Kontakt bei den Behörden hatte inzwischen die Verbindung zu uns aufgenommen und uns darüber informiert, dass eine Order von ziemlich weit oben an die Polizeiroboter ausgegeben worden war. Er selbst konnte keinen Einblick darin erhalten, aber es schien einen Zusammenhang zwischen dieser Order und der Suche nach einer vermissten Person zu geben, welche nicht im Register aufgeführt wurde.
Lena sorgte dafür, dass er nur das Nötigste erfuhr und nichts auf meine Existenz und einen Zusammenhang zur Gruppe der Überlebenden hinwies. Es war mir nicht deutlich, woher sie so viel Übung in solcherlei Dingen hatte. Sie versprach aber, dass sie und die ganze Gruppe die Augen offen halten wollten. Ihr lag ein enger Kontakt zu ihren Informanten sehr am Herzen, wollte immer wissen, was wann und wo geschah und die Anderen unterstützten sie dabei. Es war wohl meiner besonderen Situation geschuldet, dass mir bei dem Gedanken aktuell etwas mulmig war.
Ich entschied mich, fürs Erste ein Versteckspiel zu wagen. Ich hatte nie Beziehungen zu Personen in höheren Verwaltungsebenen gehabt, konnte mir also auch nicht vorstellen, dass es dort jemanden gab, der mir gegenüber einen Grund hatte, wohlwollend zu sein. Ich nahm eine Arbeit in der Küche des Restaurants oben an, bewegte mich nur mit Bedacht in der Öffentlichkeit und verbrachte ansonsten viel Zeit im Unterschlupf. Mein Leben im Untergrund begann und würde so lange anhalten, wie es eben brauchte, um an weitere Informationen zu kommen. Auch wenn ich meine Familie vermisste, es ging mir gut und ich konnte gut leben. Ich hatte keinen Grund, daran etwas zu ändern.
Dieses „Ende“ kam auch für mich hier halbwegs überraschend. Es ist mir eigentlich zu offen, aber ich bin nicht ganz sicher, 1. ob es überhaupt spannend ist und Spaß macht, zu lesen und 2. wie es denn weiter gehen soll. Verschwinde ich aus der Stadt? Gehe ich doch zur Polizei? Versuche ich mich im Untergrund durch zu schlagen? Suche ich mir einen Arzt meines Vertrauens, der mich untersuchen soll? Stoße ich in der Bücherei auf vergessene Hinweise darauf, was uns Überlebende erschaffen hat? Und wie bekomme ich wieder etwas Schwung in meine Erzählung?
Wenn du eine Idee hast, dann bist du, wie immer, herzlich dazu eingeladen, mir einen Kommentar zu hinterlassen. Ich freue mich über Kommentare und Anregungen.
