Archiv für den Monat März 2017

Der Blick über den Horizont

Vor einiger Zeit habe ich ein Video geschickt bekommen, was mich sehr beeindruckt hat. Es ist eine Reise in unsere Nachbarschaft, ein Blick über unseren Horizont hinweg. Ich bin leicht für solche Sachen zu begeistern aber irgendwo nagt da auch die Frage „wieso zieht es uns dort hinaus?“ Ist es einfach nur Neugier oder vielleicht doch mehr? Oder brauchen wir diesen Blick von außen, um wirklich schätzen zu lernen, was wir hier haben? Ich kann diese Fragen nicht beantworten und eigentlich kannst Du auch direkt zum Video am Ende springen. Oder Du liest dir meinen Senf durch und gibst mir in den Kommentaren Antworten oder Deinen Senf ab. Ich bin gespannt!

Unser kleiner Blauer Planet bietet sehr viele wunderschöne Orte, wenn man sich nur einmal die Zeit nimmt, genau hinzusehen oder die Reise auf sich zu nehmen. Dichte summende Wälder, duftende bunte Blumenwiesen, eifrig pulsierende Städte voller geschäftiger Plätze und beeindruckender Gebäude, beruhigend rauschende Küsten mit beeindruckenden Steilküsten oder sanft geschwungenen Dünen oder auch Gebirge, die sich schroff in den Himmel recken, von ewigem Eis bedeckt und dem, der sie besteigt, eine atemberaubende Aussicht gönnen. Es ist ist gerade so, als sei diese Welt genau für uns gemacht, teilweise auch von uns gemacht. Wir passen hier einfach perfekt hin und wem es nicht gefällt, der muss nur wenige Stunden reisen, um den perfekten Ort dennoch finden zu können.

Ich selbst verfolge gerne den ein oder anderen Reisebericht, -blog oder genieße Dokus über Orte, die ich vermutlich nie mit eigenen Augen sehen werde. Da erstreckt sich eine polare Tundra von Horizont zu Horizont, die ein halbes Jahr schläft und während der anderen Hälfte in geradezu verschwenderisches Leben ausbricht. Scheinbar endlose Wüsten aus Sand oder Fels unter einer brennenden Sonne bieten einen harschen Lebensraum, der faszinierende Überlebenskünstler hervorgebracht hat. Fantastisch bunte Korallenriffe, wie von einer anderen Welt in unsere Meere übertragen oder die noch viel fremderen Wesen ewig finsterer Tiefsee. Tiere, über die wir beinahe nichts wissen und von denen wir noch vor wenigen Jahrzehnten nicht für möglich gehalten hätten, dass sie überhaupt existieren könnten.

Und wir glauben tatsächlich, wir würden außerirdisches Leben gleich erkennen, wenn wir ihm begegnen würden?

Es ist eine Welt voller Abenteuer, voller Möglichkeiten, robust wie Granit und gleichzeitig filigran und zerbrechlich, wie ein hauchzartes Kunstwerk aus Zucker. Und die Menschheit hat kaum an der Oberfläche gekratzt, in ihrem Bemühen, sie zu verstehen. Was verursacht verheerende Erdbeben und wie kann man sie vorhersagen? Was sorgt dafür, dass ein Vulkan mit einer einschüchternden Aschewolke ausbricht, statt sich einfach in sein Umland zu ergießen? Was bringt die Meere dazu, Temperatur und Chemismus zu verändern und die einst so lebendigen Korallenriffe zu einer grauen, toten Einöde zu verwandeln? Und wie können wir sie schützen, unsere Heimat? Unermüdlich arbeiten Wissenschaftler auf der ganzen Welt daran, diesen Schatz, den wir haben, zu verstehen und zu schützen.

Doch so weit unsere Geschichte zurückreicht, war uns das alles nie genug. Die ältesten Zeugnisse der Menschheit richten ihren Blick nicht nur auf den Horizont, sondern auch darüber hinweg. Die ältesten Höhlenbilder zeigen Hände, Tiere und Sterne. Frühe Kunstwerke befassen sich mit Fruchtbarkeit, unserem Spieltrieb und dem Firmament. Die ersten Bauwerke zeugen von einer akribischen Beobachtung des Himmels. In einer Welt voller Wunder wollen wir MEHR! Wir wollen den Mond, die Sterne, fremde Welten und wir wollen alles darüber wissen, sie erreichen, erobern, uns dienlich machen.

Doch während es immer wieder schien, dass uns nicht einmal der Himmel eine Grenze sein würde und einfach alles möglich sei, erkennen wir immer mehr eine andere Wahrheit. Die Reise zu unserem kleinen Bruder, dem Mond (oder der kleinen Schwester, je nach Sprache und Kultur), hat bereits Tage gedauert. Eine Reise zum nächsten Nachbarn, dem Mars, würde uns bereits eineinhalb Jahre kosten! Das Licht braucht für diese Strecke bis zu 21 Minuten, wenn es die äußeren Planeten erreichen will, bereits über einen Tag. Wir sitzen hier fest.

Benachbarte Sterne wie Alpha Centauri oder die kürzlich nachgewiesenen Planeten um Trappist, die größten Hoffnungen, andere Welten zu erreichen, rücken damit in noch unerreichbare Ferne. Sie beflügeln die Fantasie und inspirieren, immer weiter zu suchen und zu forschen, aber bislang bleibt uns der Griff zu den Sternen versagt. Gleichzeitig verstehen wir immer besser, was mit unserer eigenen Welt passiert und dass sie, wenn wir so weiter machen wie bisher, uns nicht mehr ewig ein so traumhaftes Paradies bleiben wird, wie sie es war.

Und während wir alle gemeinsam darum kämpfen sollten, unsere Welt so zu erhalten, dass es uns hier gut geht, dürfen wir trotzdem träumen. Und sei es nur, um uns die Hoffnung zu bewahren, überleben zu können, wenn Mutter Gaia unserer überdrüssig wird. Begeben wir uns doch auf eine Reise zu einigen Sehenswürdigkeiten im Sonnensystem, und nicht immer sind sie sehr bekannt. Sonnenaufgang auf dem Mars oder der Blick in den Himmel eines Jupitermondes, das ist ein guter Anfang.

Aber wie wäre es beispielsweise mit einem Sprung von der höchsten Klippe im Sonnensystem auf dem Uranusmond Miranda? Die 20 Kilometer fällt man ungebremst, dank der geringen Gravitation, in sagenhaften 12 Minuten. Der feuchte Traum jedes Skydivers. Oder wieso nicht gleich aus dem passiven Fall in den aktiven Flug übergehen? Der schwache Sonnenwind erlaubt es den äußeren Monden, bei nur geringer Anziehungskraft eine dennoch dichte Atmosphäre zu halten. Es dürfte für Menschen möglich sein, mit den entsprechenden Flügeln, dank eigener Muskelkraft durch die eisigen Winde auf Neptuns Begleitern zu fliegen.

Doch ist es wirklich vergleichbar, auf den Eisbrocken der Saturnringe zu tanzen, sich in gewaltige Asteroiden zu graben und schattige Habitate zu erschaffen, oder den Sonnenuntergang zu beobachten, während das warme Meer einem sanft weißen Korallensand um die Füße spült und der Wind die Haare und keine Maske umspielt? Selbst wenn einige Tausend solche Reisen unternehmen können, bleiben Milliarden zurück. Geben wir also gut drauf acht, auf unsere blaue Kugel. Es ist der einzige Hafen, den wir haben. Selbst wenn es dann soweit ist, und wir tatsächlich nach den Sternen greifen können, wie uns der beeindruckende Kurzfilm von Erik Wernquist verspricht.

 

Exitus XII

Ich kam auf einer harten Holzbank wieder zu mir. In einer Ecke saßen eng umschlungen Marten und Marja, beide mit einem Gesicht, das pures Elend und Resignation ausdrückte. Tom war mit müden Augen und klammen Fingern beschäftigt, Erde aus Lenas Haaren zu kämmen. Den grauen Kasten, in dem wir uns befanden, kannte ich bereits. Es war einer jener Polizeitransporter, nur dass es diesmal leider ein echter war.

„Wir haben es wenigstens versucht und, wie ich das sehe, haben wir ihnen auch ein gutes Rennen geliefert, für ein paar alte Hunde wie uns.“

Tom hatte bemerkt, dass ich wieder bei Bewusstsein war und mich resigniert umgesehen hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos gewesen war, Lena schätzte jedenfalls, dass wir noch keine zwei Minuten im Transporter waren. Draußen waren die Schritte von Polizeidrohnen zu vernehmen, aber noch machte der Transporter keine Anstalten, abzufahren.

„Wenigstens sind wir wieder alle beisammen.“

Es war ein verzweifelter Griff nach dem Strohhalm, der mich zu solchen Sätzen trieb. Natürlich würde die Kabine abgehört werden, wieso also nicht den Verdacht sähen, wir wären vollzählig? Wenn sie die Anderen bis jetzt noch nicht hatten, dann würde es vielleicht auch dabei bleiben. Für einen Moment dachte ich, sie könnten ja überhaupt nicht wissen, mit wem wir denn überhaupt auf der Reise waren. Dann aber erinnerte ich mich an die Nachrichten, und wie darin unser ehemaliges Heim unterhalb des Restaurants präsentiert wurde. Inklusive aller persönlicher Gegenstände und Fotos. Die Behörden wussten viel zu genau, wer alles zur Gruppe gehörte. Dennoch hatte ich die Hoffnung, wenn ich nicht an sie denken würde, könnten meine Gedanken sie auch nicht verraten.

Marten und Marja hätten vielleicht noch eine Überraschung sein können, aber die Bäume waren ein zu schlechtes Versteck gewesen. Die beiden waren als erstes aufgefallen und festgenommen worden. Da hatten wir noch im Schlamm gelegen und gehofft, der Albtraum möge einfach an uns vorüberziehen. Natürlich hatten sie nichts verraten, aber das mussten sie auch überhaupt nicht. Man wusste auch so sehr gut, wonach man suchte.

Daher wunderte es mich umso mehr, dass sich der Wagen plötzlich doch in Bewegung setzte. Die Drohnen mussten über eine Stunde lang einen scheinbar leeren Acker beobachtet haben, nur um sich jetzt mit der Hälfte der Gruppe zufriedenzugeben? Gingen sie davon aus, dass wir uns aufgeteilt hatten? Hatten sie die Anderen erwischt und nur in einem anderen Transporter untergebracht? Hunderte Fragen schossen mir durch den Kopf, während wir über die unebenen Pisten rollten. Es blieb mehr als genug Zeit zum Nachdenken, oder um sich den Schlamm leidlich vom Körper zu kratzen.

Gefühlt stundenlang schlitterten wir über die schlecht befestigten Feldwege und Landstraßen. Hinter uns klang das Rumpeln weiterer Fahrzeuge. Immer wieder döste ich weg und schlief für kurze Zeit ein. Es war nicht mehr aufregend genug für mich, als dass meine Müdigkeit nicht ihren Tribut zollen wollte. Eine seltsam befriedigende Gleichgültigkeit machte sich in mir breit, wo ich doch eigentlich Angst hätte haben sollen. Angst war jedoch so ziemlich das Letzte, was ich fühlte. Was auch immer es was, es war viel mehr sortiert und friedlich.

Irgendwann wachte ich auf und bemerkte, dass das Fahrzeug ruhig auf einer asphaltierten Straße dahinfuhr. Es hatte uns Stunden, wenn man so wollte, sogar Tage gekostet, weit von der Stadt weg zu kommen. Einen Bruchteil dieser Zeit brauchte es, um diesen ganzen Erfolg zunichtezumachen und wieder direkt vor den Mauern angekommen zu sein. Vermutlich sollte es sich frustrierender anfühlen, als es für mich tatsächlich war. Was mich im Augenblick tatsächlich am meisten störte, war, dass die Bank zu unbequem zum Schlafen war.

Lena und Tom saßen aneinander gelehnt mir gegenüber. Es wäre genug Platz gewesen, als dass auch sie sich hätten ausstrecken können, aber sie hatten sich wohl dagegen entschieden. Lena war ein Mensch, der nicht gerne lag. Zeitweise hatte sie nicht einmal in ihrem Zimmer geschlafen, sondern auf den Sesseln im Wohnzimmer. Dabei hatte sie sogar einen bequemen Ohrensessel in ihrer Kammer stehen gehabt. Doch genauso liebte sie das Kaminfeuer, welches so häufig bei uns gebrannt hatte.

Hier gab es weder Sessel noch Kaminfeuer. Aber es war warm genug gewesen, als dass die Erde in meiner Kleidung getrocknet war. Bei jeder Bewegung knackte und staubte es. Lena und Tom hatten das bereits hinter sich. Ihre Kleidung war nicht sauber, aber die meiste Erde bildete einen ansehnlichen Haufen unterhalb ihrer Bank.

Durch die solide Wand des Transporters drangen die ersten Geräusche der Stadt. Beinahe hätte ich damit gerechnet, dass wir zu irgendeiner zwielichtigen, vielleicht sogar geheimen Anlage außerhalb gebracht werden würden, aber wie es schien, steuerten wir tatsächlich das Polizeipräsidium an, direkt im Zentrum. Waren wir etwa doch nicht völlig vogelfrei?

Genau genommen mochte vogelfrei das genaue Gegenteil von dem gewesen sein, was wir waren. Als die Türen des Transporters sich schlussendlich öffneten, folgten lange kalte Gänge aus nacktem Beton und kleine Räume ohne Fenster oder irgendeine Alblenkung. Nüchterne Edelstahlstühle und -tische, eventuell eine Kamera unter der Decke, Türen aus Stahl, die einem Nashorn in vollem Galopp standgehalten hätten, wenn es denn überhaupt in den engen Flur gepasst hätte. Finstere Gesichter, die uns anstarrten und immer wieder die gleichen Fragen stellten, von denen sie wussten, dass wir sie nicht beantworten konnten.

Von wem hatten wir den Sprengstoff erhalten? Wer waren die Komplizen? Wo waren die Hintermänner? Was war die Motivation? Solche Fragen, Kombinationen oder Abwandlungen davon, vermutlich, um uns mürbe zu machen und uns „den Ernst unserer Lage“ zu verdeutlichen. Es war entsetzlich langweilig und nicht das geringste Bisschen einschüchternd. Vielleicht hatten sie bei Marja oder Marten Erfolg, aber selbst wenn, die beiden waren erst zu uns gestoßen, als eh alles zu spät war. Für die Ermittler waren sie absolut wertlos. Tom konnte zeigen, was wirklich in ihm steckte und Lena konnte so oder so immer noch sagen, sie habe überhaupt nichts gesehen und wisse also von nichts.

Was sie genau gefragt wurden und was sie antworteten, wusste ich nicht. Selbstverständlich wurden wir schließlich getrennt befragt. Ich ging aber davon aus, dass auch sie große Zugeständnisse versprochen bekamen, wenn sie uns andere verrieten. Wieso führten sie diese Scharade überhaupt noch fort? Das war doch überhaupt nicht der Grund, weswegen wir hier waren. Wussten sie das wirklich nicht? War der Polizeiapparat in dieser Stadt wirklich dermaßen inkompetent, dass ihnen das Offensichtlichste entgangen war? Das sollte ich niemals herausbekommen.

Es dauerte eine ganze Weile, und in der Zwischenzeit verloren unsere Beamten reichlich Geduld und Nerven, bis das Klischee an die Tür klopfte und übernahm. Und meine Güte hatte es sich Mühe gegeben, auch wirklich dem Klischee gerecht zu werden.

„Gehen Sie sich einen Kaffee holen, wir übernehmen ab hier. Vielen Dank für ihre Hilfe.“

Die emotionslose Stimme gehörte zu einem ebenso emotionslosen blassen Gesicht, das zum großen Teil von einer geradezu lächerlich großen Sonnenbrille verdeckt war. Schwarze Haare, kurz rasiert und mit reichlich Gel glatt nach hinten gekämmt. Ein hochgeschlossener schwarzer Anzug mit lediglich einem weißen Rand, welcher der Länge nach vom Kragen aus über die Brust hinab führte und die Knopfleiste verdeckte. Keine Kennungen, keine Rangabzeichen, nur ein kurzer Blick auf ein ebenfalls schwarzes Hemd, als er widerwillig einen für mich unsichtbaren Ausweis aus der Innentasche zog, als danach verlangt wurde.

Ich konnte mir nicht vorstellen, was im Gehirn der Orakelwache vorging, als er dem Beamten nachsah, der mürrisch den Raum verließ. Vermutlich war er es nicht einmal gewohnt, sich ausweisen zu müssen. Niemand zweifelte eine Orakelwache an und niemand würde jemals so dreist sein, sich fälschlich als eine solche auszugeben. Sie waren der nicht nur der Arm des Gesetzes, sondern rechte und linke Hand gleich mit. Die persönliche Exekutive des Orakels, Gegenstand von zahlreichen Filmen, Geschichten und auch Legenden. Und sie hatten die Macht. Nicht irgendeine Macht oder die Macht, dieses oder jenes zu tun, nein. Die Macht! Sie hatten sich einzig und allein dem Orakel zu verantworten. Für ihre Aufgaben hatten sie absolut freie Hand.

Und eben diese Orakelwache stand auf einmal hier vor mir im Verhörzimmer. Vor mir, einem Untoten, der vor einem Jahr aus einem völlig unaufgeregten und durchschnittlichen Leben in ein Leben nach dem Tod übergegangen war, das in erster Linie aus Verstecken bestanden hatte. Drei Greise und zwei Mitgefangene waren den Besuch der Orakelwache bei der Polizei wert. Entweder ihnen war schrecklich langweilig oder hier wartete doch noch etwas Interessantes auf uns.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 124.

Abgabefristen

Es war einer dieser Tage, an denen Flo sich selbst verfluchte und für seine grenzenlose Faulheit hasste. Dabei war „Tage“ bereits seit acht Stunden gelogen, wie der Blick auf die Uhr unbarmherzig offenbarte. Drei Uhr nachts war bereits vergangen und er saß immer noch am Schreibtisch und versuchte irgendwie sein Semester zu retten. Die Abgabefristen rollten heran und er hatte andere Dinge für wichtiger befunden, als die Arbeiten für die Uni zu schreiben.
Wieso hätte er das auch tun sollen? Seine Wohnung schön wohnlich und gemütlich zu gestalten brachte wenigstens Fortschritte. Hausarbeiten wurden im Idealfall einmal flüchtig gelesen und landeten dann in irgendeiner Schublade, um nie wieder angesehen zu werden. Weniges war so sinnlos, wie Hausarbeiten zu schreiben und abzugeben. Er hatte das Konzept noch nie verstanden und das würde er wohl auch nie. Wenn er ehrlich war, dann wollte er das auch nicht einmal.
Aus der Ferne, irgendwo vor dem Fenster, hallte das Rumpeln eines Güterzuges hinüber. Seine Musik war schon lange aus, er hatte es sogar bemerkt, aber beschlossen, es dabei zu belassen. Es war schon schlimm genug, dass der Stuhl bei jeder Bewegung laut knarzte. Es war wohl sein Glück, dass Kristina so einen tiefen Schlaf hatte, sonst würde er wohl seines Lebens nicht mehr froh werden. Und sie auch nicht.
Gehetzt überflog er Paper und Abstracts, immer auf der Suche nach nur einigen Stichworten, die er, zu halbwegs stimmigen Sätzen verarbeitet, in seine Arbeit einfließen lassen konnte. Das Internet bot im Grunde das gesamte Wissen der Menschheit, lieferte es freihaus an den heimischen Schreibtisch. Nur in dieser Masse das Richtige zu finden war alles andere als leicht. Er erinnerte sich noch an eine Vorlesung vor zwei Semestern, in der das Thema seiner Arbeit in Teilen sogar besprochen wurde. Die spannenden Teile tauchten nur in der zugehörigen Literatur nicht mehr auf. Dafür hatte er eine Dissertation gefunden, welche in einem Nebensatz darauf einging. Ein fünffaches Hoch auf die Suchfunktion für digitale Texte. Die betreffende Arbeit hatte nur einen Schönheitsfehler. Sie war älter als er selbst und damit eine Quelle, die nur sehr ungern gesehen war.
Unter seiner Schädeldecke lief sein inneres Ich Amok. Aus voller Lunge brüllend rannte es von Ohr zu Ohr, sprang gegen die Augen und stampfte in den Nacken. Bilder von grellen Explosionen und spritzende Fetzen einer namenlosen organischen Masse breiteten sich aus. Das Verlangen machte sich breit, den Kopf mit aller Kraft gegen die Betonwand zu schlagen. Von außen war davon nichts zu erkennen und manches Mal fragte Flo sich, ob ihn das nicht dazu qualifizierte, ein sehr sehr gestörter Mensch zu sein. Gesund oder normal konnte das jedenfalls nicht sein.
Inzwischen war es kurz vor vier, ohne, dass er die Zeit bemerkt hätte. Selbst wenn die Erschöpfung seinen Geist verworren machte, er war regelrecht hysterisch aufgekratzt. In nicht einmal zwei Stunden würde Kristina aufwachen und zur Arbeit gehen müssen. Wenn er bis dahin eingeschlafen sein wollte, dann würde er wohl jetzt dringend ins Bett gehen müssen. Er speicherte und lies ansonsten einfach alles offen. Solange der Laptop am Strom hing, war es kein Problem, ihn einfach in den Ruhemodus zu schicken. Dann könnte er auch morgen gleich weiter machen in der Hoffnung, nicht doch noch seinen Kopf an der Wand zerschellen zu lassen.

Schwarzes Moor

Drabble Parade

Das nächste Lauffeuer lief durch WordPress und diesmal bestand es aus der Drabble Parader, welche Tuschenputtel gestartet hat. Bei mir ist es dank des Beitrags von Jette angekommen. Vielen Dank dafür!

Ein Drabble besteht aus exakt 100 Worten, was den besonderen Reiz und die Herausforderung stellt. Gegeben sind für die Parade jeweils drei Wörter, die im Text verbaut sein müssen. Hier waren es Biene, Hoffnung und Luft

Ich habe letztens einen Test gemacht, der mir sagen sollte, in welchen Bereichen meine Stärken liegen. Daraus sollte dann der perfekte Job abgeleitet werden. Das Ergebnis: Ich bin wissenschaftlich analytisch, nur ein kleines Bisschen kreativ und so gut wie überhaupt nicht sozial begabt. Du kannst ja mal dieses Drabble hier als Leitfaden nehmen und mir sagen, ob du dem Ergebnis vom Test zustimmst.

Warmes Sonnenlicht wärmt die summenden Flügel der Biene. Voller Hoffnung saust sie durch die schwüle Luft über der Wiese, immer auf der Suche nach neuen frischen Blüten, voll mit süßem Nektar und leckeren Pollen. Die zahllosen anderen Arbeiterinnen aus ihrem Stock begleiten sie auf dieser Reise. Es waren die ersten warmen Tage nach einem langen kargen Winter und die Waben waren leer. Neues Futter musste herbeigeschafft werden, auch um die kommende Generation ins Leben zu bringen. Warmer Wind weht süße Düfte durch die Luft, wie leuchtende Wegweiser, unwiderstehlich für die emsigen Bienen denn die Blumen brauchen die Insekten ebenso nötig.

Zum Abschluss sollen drei neue Begriffe gewählt werden und andere Blogs nominiert werden. Üblicherweise würde ich sagen, wer den Wunsch verspürt, der möge sich gerne beteiligen aber diesmal ringe ich mich tatsächlich mal zu handfesten Nominierungen durch. Die Begriffe: Raumschiff, Wärme, Bademantel.

Klabauterfrau

Luna

Missy

Ich würde mich freuen, wenn ich von Euch etwas zu diesen drei Worten lesen würde, auch wenn es nicht zwingend ins Portfolio passt 🙂

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Exitus XI

Ein leises Zischen veranlasste mich dazu, dennoch die Augen zu öffnen. Ich hatte bereits bemerkt, dass der Boden angefangen hatte zu vibrieren, und das Brummen der Feldmaschine lauter geworden war. Wir waren etwa in ihrer Fahrtrichtung losgegangen, mit etwas Glück würde sie also so an uns vorbei kommen, dass wir uns Jay und Tom anschließen, und in ihrem Schutz zum Feldrand gelangen konnten.

Das leise Zischen stammte von Tom, der hektisch aber unauffällig versuchte, unsere Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich sah ziemlich schnell, was der Grund für seine Aufregung war. Der Feldroboter fuhr nicht in der Richtung, die ich in Erinnerung hatte, sondern direkt auf uns zu. Ich versuchte Mimir zu erspähen und fand ihn mit offenen Augen aber ruhig in seine Ackerfurche gepresst daliegen. Jay sah kurz von einem kleinen Terminal auf, welches er am Roboter gefunden hatte, spähte zwischen den Ketten hindurch, bedeutete uns, ruhig und flach liegen zu bleiben und zog dann auch Tom auf den Boden.

Rote Laserstrahlen der Messraster schossen über das Feld hinweg. Wir waren bemerkt worden. Ob als bestätigtes Signal oder nur als Messinterferenz, das konnte ich nicht sagen. Wieder und wieder krochen die Messungen über das Feld, verharrten mal hier, mal dort länger. Und währenddessen kam der Feldroboter immer näher und näher. Wären wir aufgestanden, wären wir entdeckt worden. Blieben wir liegen, rollte die Maschine über uns hinweg und tat mit uns, was sie nun einmal mit dem Acker tat. Ich wusste es nicht und wollte es auch eigentlich überhaupt nicht herausfinden.

Zwischen das Rumpeln der Ketten und den Geräuschen aus dem Inneren der Maschine mischte sich ein dumpfes, rhythmisches Schlagen. Meine Fantasie malte Bilder von Dolchen und Säbeln, welche die Erde zerschlugen und umwühlten. Mit jedem Schlag wollte ich weniger wissen, was da auf uns zukam, es erschien mir so oder so wie der sichere Tod. Um es heraus zu bekommen, hätte ich den Kopf heben müssen, bis auf die Ebene, wo ich in das Messraster hinein geragt hätte.

Das Sirren einer Drohne zog über uns hinweg, ein aufgeschreckter Hase schoss quer an uns vorbei, ehe er genau wie wir in einer Ackerfurche Deckung suchte. Ich sah ihm mit wachsender Verzweiflung nach und fragte mich, wie um alles in der Welt wir mit einem so kleinen Tier verwechselt werden sollten. Das wäre sicherlich unsere Rettung gewesen, aber wohl so wahrscheinlich wie ein Sonnenaufgang zu Mitternacht. Das Letzte, was ich von Jay sah, war sein beruhigendes Nicken und eine Geste, die unmissverständlich deutlich machte, wir mögen schön flach liegen bleiben. Dann verschwand er im Sichtschatten der Maschine.

Thump, thump, thump…

Das Hämmern der Maschine war inzwischen bei mir angelangt. Es kostete mich allen Mut, die Augen zu öffnen, und mich danach umzusehen. Das Messraster der Polizei konnte den Kettenschutz der Maschine zum Glück nicht durchdringen, sodass wir halbwegs sicher waren.

Thumprr, thumprr, thumprr…

Da war es. Blitzende, spitze Metalllanzen, welche aus dem Bauch der Maschine geschossen kamen, sich tief in den Boden bohrten und dann wieder zurückzogen.

Thumprrrz, thumprrrz, thumprrrz…

An den Spitzen der Lanzen waren kleine Öffnungen zu sehen. Die Art, wie sich der Boden hier bewegte, legte nahe, dass sie irgendetwas in den Boden injizierten. Aber was viel wichtiger war, war für mich, wo sie es taten.

Thumprrrz, thumprrrz, thumprrrz…

Zuverlässig trafen die Lanzen immer den Kamm der aufgeschütteten Erde. Links und rechts von meinen Füßen schlugen sie ein, brachten den Untergrund zum Beben, wanderten dann einen halben Meter weiter hinauf.

Thumprrrz, thumprrrz, thumprrrz…

In der Furche nebenan konnte ich sehen, wie Mimir sich auf den Bauch gedreht hatte. Sein Rücken schien nur noch aus Erde zu bestehen und ragte nur so gerade eben nicht hervor. Aber er brachte mich damit auf eine Idee. Ich suchte die Unterseite der Maschine ab und fand, wonach ich suchte. Ein Träger spannte sich der Breite nach unter dem Roboter entlang. Ich streckte die Hand danach aus und griff zu. Auch wenn ich mich etwas strecken musste, ich erreichte ihn. Das scharfe Metall schnitt sich in meine aufgeweichten Handflächen, kleine Steinchen scheuerten rau, als sich die Spannung aufbaute.

Thumprrrz, thumprrrz, thumprrrz…

Langsam aber stetig zog mich die Feldmaschine nun mit sich mit. Mit der freien Hand hatte ich Lena am Kragen gegriffen und so wurden wir von der Maschine in Richtung Feldrand gezogen. Mimir in der Furche nebenan robbte ebenfalls langsam mit der Maschine mit. Endlos lange Minuten ging das so, während draußen immer noch das Sirren der Drohnen zu hören war und das Flackern ihre Messungen leuchtete.

Thumprrrz, thumprrrz, thumprrrz…

Ich konnte nicht sagen, wie die Anderen es geschafft hatten, dem Suchraster zu entgehen, aber offenbar hatten sie genau das geschafft. Die Dämmerung war bereits in eine nur vom Mond erhellte Dunkelheit übergegangen. Wir ließen uns wieder in die Furchen zurücksinken, als die Maschine sich dem Ende ihrer Bahn genähert hatte. Es war noch kein Grund zur Entwarnung, immerhin hatten wir noch keine Reifengeräusche hören können. Andererseits, die Feldmaschine war reichlich laut, es war gut möglich, dass wir es einfach überhört hatten. Dennoch konnte es sich lohnen, auf Nummer sicher zu gehen.

Es hatte aufgehört zu regnen. Als der Roboter zum Wenden angesetzt hatte, waren Tom und Jay ebenfalls in Mulden verschwunden. Hier lagen wir nun, und niemand traute sich, auch nur zu laut zu atmen. Helle Sterne und ein Halbmond lächelten auf uns herab und ihr kaltes Licht schien uns regelrecht zu verhöhnen. Die schwärzeste Finsternis wäre uns lieber gewesen, als dieser silberne Schimmer. Es hätte uns zwar nichts geholfen, denn Infrarotaugen und Restlichtverstärker funktionierten so oder so noch, aber wir hätten uns wenigstens sicherer fühlen können.

Irgendwo in der Ferne rief eine Eule, kleine Tiere raschelten in den Hecken nur wenige Meter von uns entfernt. Irgendwo dort mussten sich auch die anderen verstecken, zu sehen war aber niemand. War das nun gut oder schlecht? Ich versuchte mir einzureden, dass es gut sei. Der Feldroboter war inzwischen wieder weit weg, Stille hatte sich über uns gelegt. Außer dem entfernten Rumpeln der Maschine war kein künstliches Geräusch zu vernehmen.

Wir lagen schon so lange hier, dass meine Schlammkruste inzwischen getrocknet und rissig war. Das änderte nur nichts daran, dass immer mehr Kälte in meine Knochen kroch und die Gelenke steif machte. Würde ich noch lange liegen bleiben, könnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich beschloss also, das Risiko einzugehen und als Erster in Richtung der Hecken zu kriechen. Nichts deutete noch darauf hin, dass wir beobachtet wurden.

Sehr langsam und sehr vorsichtig robbte ich mich die Furche entlang bis zur Hecke. Die Bewegung war ein regelrechter Segen, aber dennoch wollte ich nichts riskieren. Erst als ich die Hecke erreicht hatte, sah ich mich etwas unschlüssig um. Sollte ich hineinkriechen, und Lärm riskieren, oder doch einfach liegen bleiben?

Tom nahm mir die Entscheidung ab. Er hatte mich beobachtet, so gut er es im dünnen Mondlicht konnte, und die Lage für sicher befunden. Auch er war sichtlich steif gefroren, als er sich aus seinem Versteck erhob, um Lena stützend unter die Arme zu greifen. Strauchelnd und mit unsicheren Schritten kamen sie auf meine Position zu. Ich stand auf, um ihnen zu helfen, doch kaum stand ich, bereute ich meinen Entschluss.

Als hätte jemand glühende Nägel in meine Augen geschlagen, brannte sich schmerzhaft grelles, weißes Licht auf die Netzhaut. Das ganze Feld war eine einzige weiße Fläche, ohne Konturen, ohne Ende und Anfang. Lena und Tom waren lediglich noch als weniger helle Schemen vor dieser weißen Wand zu sehen. Für mein Gehirn war das alles zu viel. Es gab die Kontrolle über meinen entkräfteten Körper auf und alles, was ich noch spürte, war, wie ich fiel, und vor dem Aufschlag gefangen wurde.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 123.

Blumen

„Schatz, was ist in der Küche passiert?“

Mia hatte bereits mit dem Einwand gerechnet und wusste genau, was Erik meinte. Sie war noch nicht dazu gekommen, wieder alles sauber zu machen. Eigentlich wollte sie das geschafft haben, bevor Erik nach Hause gekommen war. Er war in letzter Zeit so reizbar und Schmutz in seiner Küche würde er nicht nachvollziehen können. Dabei hatte sie doch nur etwas Frühling in die Wohnung holen wollen, aber für so etwas hatte er noch weniger Verständnis. Er mochte es sauber und aufgeräumt und hatte keinen Sinn für Dekoration. Aber dies hier war ihre gemeinsame Wohnung, hier musste auch sie sich wohlfühlen und das würde er akzeptieren müssen.

„Das mach ich nachher noch sauber, ich bin noch nicht ganz fertig. Du bist früher als gedacht. Ist alles okay?“

Sie begrüßte ihn mit einem extra liebevollen Kuss, auch in der Hoffnung, damit die Wogen etwas glätten zu können. Erik sah sich stirnrunzelnd im Wohnzimmer um und fand auch spontan den Grund für die Verschmutzung in der Küche. Bunte Übertöpfe, aus denen die jungen Blüten von Narzissen und Hyazinthen steckten. Ihr schweres Aroma lag nur unterbewusst wahrnehmbar in der Luft. Für Mia war dies seit ihrer frühesten Kindheit ein Geruch, den sie untrennbar mit dem Wort „Frühling“ verknüpft hat. Wenn die Natur aus ihrem tiefen Schlaf erwacht, bunte Blüten auf Bäume, Sträucher und Wiesen zaubert und das Grün endlich wieder satter wird. Wenn man wieder überlegen darf, ob es die schwere Winterjacke sein muss, oder ob es nicht sogar komplett ohne geht. Wenn die Sonne nach dem langen, schattigen Winter, wieder mehr Kraft bekommt und den Duft der Blumen in ihren warmen Winden durch die offenen Fenster trägt.

Für Erik war es der Geruch von Blütenstaub auf der frisch gewaschenen Hose, braunen Flecken von herabgefallen Blütenblättern auf den hellen Sofakissen und faulenden Blütenstängeln. Blumen sollten nicht in der Wohnung stehen, wo sie in Vasen nur Schimmel ansetzen und vergehen. Sie gehörten auf Wiesen, in Wälder oder auch auf Balkone.

Doch ihre Wohnung hatte weder Garten noch Balkon. Er sah ihr in die Augen und sah, was darin passierte. Die Freude über das bessere Wetter. Das Verlangen, in die Sonne zu kommen. Er seufzte innerlich und rang sich etwas Geduld und eine Entscheidung ab. Wenigstens war sie vor vorausschauend gewesen, keine Schnittblumen zu holen, sondern lebendige, mit Wurzeln und Erde. Sie hatten eine Chance zu leben, und wenn alles nichts nützte, könnte man sie immer noch in den Park pflanzen.

„Blumen also. Das erklärt jedenfalls die Erde in der Spüle. Und ja, es ist alles okay. Wir haben nur etwas früher Schluss gemacht mit dem Referat. Krissi musste noch weg, sie hat spontan einen Babysitterjob bekommen. Und weil es auch so fertig geworden ist, dachte ich mir, ich komme doch einfach früher nach Hause.“

„Oh okay, du musst mir auch nicht beim Aufräumen helfen, ich mach das schon. Geht es Krissi denn gut? Sie hatte doch letztens noch so Stress.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte Mia los in die Küche, um sauber zu machen. Erik war sich nicht sicher, ob sie erwartete, dass er ihre Frage in den Raum hinein beantwortete oder mit kam. Er entschied sich dazu, erst einmal Jacke und Schuhe auszuziehen und sich für einen Moment auf dem Sofa niederzulassen. Etwas zögerlich musste er sich dann doch eingestehen, dass die Blumen im Sonnenlicht auf der Fensterbank doch gut aussahen.

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Momente IV

Schummrige Schreibtischlampe, klackernde Tastatur, raschelndes Papier, irgendwo darunter vibriert das Smartphone. Nur eine E-Mail, der Spambericht des Kontos, welcher immer kurz nach Mitternacht versendet wird. Blumenversandt, bei dem seit inzwischen fünf Jahren nichts mehr bestellt wurde, Werbung des Telefonanbieters und die üblichen Verdächtigen wie „heiße Frauen in Deiner Nachbarschaft“ und „jetzt alles noch länger!“

Auf dem Monitor Fachbücher, Paper und die Hausarbeit, die bis nächste Woche fertig geschrieben sein will. Die Literatur ist dafür eigentlich nutzlos, denn das meiste wird aus dem Kopf geschrieben, aber trotzdem muss zu jedem Fremdwort eine Quelle angegeben sein. Dezente Musik plätschert im Hintergrund, so leise, dass sie fast nur noch ein einheitliches Rauschen ist.

Vor dem Fenster ist es ruhig geworden. Eine sternlose Nacht, leichter Regen, längst ist kaum noch eine Menschenseele unterwegs. Stille, bis auf das entfernte Rauschen der Autobahn und gelegentlich dem Rumpeln der Güterzüge auf der Trasse hinter dem nächsten Häuserblock.

Und in diese Stille hinein singt eine Amsel. Mitten im Februar. Mitten in der Nacht. Ganz allein, im kahlen Baum unter der Straßenlaterne. Als würde für sie bereits die Sonne am Horizont stehen und den Frühling gleich mit sich bringen. Ein magischer Glanz geht von dem kleinen Wesen aus, das so ungeduldig den Sommer herbeiruft.

Dann biegt das Pizzataxi in die Straße ein und der Moment verliert seinen Zauber. Nur ein einsamer Vogel sitzt zwischen Ästen wie knochige Finger. Er ruft ein letztes mal, breitet die Schwingen aus und gleitet majestätisch fort.

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Exitus X

Um uns herum blühten die Felder auf. Der Frühling hatte sich in der Zwischeneiszeit in seiner vollen Schönheit entfaltet und das war auch der einzige Anhaltspunkt für die Zeit, der mir noch verblieben war. Ich hatte irgendwann einfach aufgehört, den Kalender zu beobachten oder Tage zu zählen. Ein Tag war für mich genau so gut wie der andere. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem ich ein Jahr verstorben war. Vielleicht war er auch schon gewesen, ich konnte es nicht sagen und es war mir auch egal. Es war nicht einmal, dass ich lethargisch geworden wäre, sicherlich nicht. Mir war nur einfach die Zeit egal geworden.

Welchen Wert hatte es für mich, zu wissen, ob wir nun seit einer oder seit acht Wochen auf einer alten Farm irgendwo im Nirgendwo vor den Toren der Stadt waren? Klar, irgendwann musste ein Inspekteur kommen, um die Maschinen zu warten. Spätestens dann würden wir auffliegen. Aber wir hatten uns ja eh darauf geeinigt, uns zu den Inseln durchzuschlagen. Ohne, dass wir uns auf einen festen Tag oder Zeitpunkt geeinigt hätten, hatten wir alle am gleichen Tag irgendwann unsere Taschen gepackt und waren bereit zur Abreise.

Es war wenig, was wir besaßen. Gerade einmal so viel, dass wir es problemlos in Rucksäcken oder Taschen verstauen und bequem tragen konnten. Im Grunde genommen war es immer noch dasselbe, mit dem wir auch unser Versteck in der Stadt verlassen hatten. Lena hatte mit Hatties Hilfe eine alte Kommunikationsleitung angezapft und nahm ein letztes mal Kontakt zu ihren Vertrauten in den Behörden auf. Es war ihr wichtig, nicht einfach nur zu verschwinden, sondern sich zu bedanken und ordentlich abzumelden. Nur was sie hörte, begeisterte sie überhaupt nicht.

„Ich nehme an, ihr wollt nach Südwesten, zu den Longinius Inseln? Von hier aus wäre das der logischste Schritt. Aber ich warne euch, seid auf der Hut. Wenn ich schon auf diesen Gedanken komme, dann können das auch die Leute in der Sicherheit und die haben ganz andere Möglichkeiten, die Route zu überwachen.“

So hatte sich nicht nur einer von Lenas alten Freunden geäußert und damit einen Punkt angesprochen, den wir alle schlicht vergessen hatten. Wenn das der logische Schritt war, dann würde die Grenze überwacht sein. Und plötzlich gerieten unser Aufbruch und der ganze Plan gehörig ins Wanken.

Tom kratzte sich in seinem immer länger werdenden Bart und schlug vor, den Polizeitransport zu nutzen, der noch immer im Silo stand. Auf den ersten Blick wirkte das zwar logisch, bereitete mir aber Bauchschmerzen. Und offenbar nicht nur mir, denn Mimir widersprach ihm, da das sehr viel Aufmerksamkeit auf uns lenken würde. Stattdessen schlug er vor, mit den Feldmaschinen zunächst in Richtung Nordwesten zu fahren, und von da aus bis zur Grenze zu laufen. Er hatte die Hoffnung, dass die Route nördlich der Sümpfe schlechter überwacht werden würde.

Man merkte, wie sehr es Tom ärgerte, sich nicht geschickter an der Debatte beteiligen zu können. Er kannte einfach die Gegend nicht gut genug, war selten außerhalb der Stadt gewesen und selbst dann auch immer nur in einer anderen Region. Hier waren wir alle komplett Mimir ausgeliefert, denn er war der Einzige, der sich hier auskannte. Das Einzige, was wir bisher hatten tun können, war, die Feldmaschinen zu beobachten und ihre Routen und Zeitpläne zu notieren. Jedenfalls so weit, wie wir sie von der Farm aus sehen konnten.

Am Ende siegte Mimirs Erfahrung im Gelände. Es war ein herrlicher Tag mit strahlend blauem Himmel, dem süßen Duft der Blumen in der warmen Luft, als wir auf eine der großen Maschinen kletterten, die uns zum Nordrand der Sümpfe bringen sollte. Niemand würde dem Roboter besondere Aufmerksamkeit schenken, sie fuhren schließlich in großer Zahl überall im Umland herum. Es war jedenfalls unendlich unauffälliger als der Polizeitransporter, ob wir nun direkt beobachtet wurden oder nicht.

Hasen nahmen eilig Reißaus, als sich unser Gefährt über die von Kräutern bedeckten Äcker näherte. Auf Vögel wirkten wir hingegen anziehend. Ob nun die Ketten den Boden zerdrückten und Leckereien freilegten, oder ob sie schmackhaftes Saatgut oder sonstige gute Sachen hinter sich zurückließen, für die Tiere war es ein gedeckter Tisch. Wenn zwischen den Hügeln und Hecken ein Roboter unterwegs war, erkannte man dies meist schon an den Vogelschwärmen darüber. Wenn die Ernte eingefahren wird, sind sie meistens noch von der Stadt aus gut zu sehen.

Und auch wenn wir bei traumhaftem Wetter gestartet waren, je länger wir fuhren, umso mehr zog es zu, bis schließlich ein leichter Regen einsetzte. Feldmaschinen besitzen keinen Innenraum für Passagiere. Wieso auch? Wir saßen einfach auf dem unförmigen Rumpf und versuchten, nicht herunterzurutschen. Für Wartungszwecke bot zwar eine Reling Halt, aber sie war nicht für eine Gruppe von zehn Köpfen ausgelegt, die wir zusammenbekamen. Uns blieb nur übrig, uns so gut wie möglich gegen den Regen zu schützen und nicht den Halt auf dem immer glitschiger werdenden Dach zu verlieren.

Links zogen inzwischen die knorrigen, verwachsenen Bäume der Sümpfe an uns vorbei. Gemeinsam mit den finsteren, tief hängenden Wolken bot es einen regelrecht gespenstischen Anblick. Selbst die Vögel hatten sich in ihre Nester zurückgezogen, bis auf einige wenige extra hartnäckige Ausnahmen. Die Silotürme unserer Farm waren bereits vor Stunden hinterm Horizont versunken und damit war jeder Schritt wieder völliges Neuland für uns. Einige Male hatten wir bereits das Gefährt gewechselt, wenn das aktuelle Modell seine Zielfläche erreicht hatte.

Neben der Kälte und der unangenehmen Nässe brachte der Regen auch einen weiteren Nachteil mit. Die Feldwege waren nun nass und keine Staubwolke konnte uns vor etwaigen Fahrzeugen warnen, die sich unplanmäßig näherten. Nicht, dass es uns etwas genützt hätte. Hier draußen hätte es nichts gegeben, wo wir uns rechtzeitig hätten verstecken können. Selbst hinter den Hecken wäre eine Gruppe von zehn Köpfen auf den Wärmebildern der Polizeidrohnen sehr auffällig gewesen. Aber immerhin hätten wir es versuchen können.

Tom hatte noch gejubelt, als sich der Himmel zugezogen hatte. Bei solchem Wetter, so erzählte er, würden die Luftüberwacher der Polizei nicht fliegen. Ihre Augen könnten hier keine brauchbaren Ergebnisse erzielen. Ich war mir allerdings ziemlich sicher, dass diese Wolken für die Radarsensoren nicht den geringsten Widerstand darstellten. Von den Details wusste ich aber auch nicht genug.

Wieder war es Zeit, die Maschine zu wechseln. Wir hatten das Pech, einen gepflügten Acker hierfür erwischt zu haben, würden also durch tiefe, schlammige Gräben klettern müssen, ehe wir eine weitere Maschine erreichten, die uns weiter bringen konnte. Tom stand auf dem Dach und sah sich nach dieser neuen Möglichkeit um, während wir bereits auf dem Weg zum Feldrand waren. Durch seine erhöhte Position konnte er die dunklen Schatten am ehesten entdecken.

Dunkelgraue Kisten, vor dem Hintergrund im Dämmerlicht kaum auszumachen. Die ersten fuhren noch vorbei, gut verdeckt von Bäumen und Sträuchern. Toms scharfe Warnung hatte uns spät erreicht. Lukas hatte sich Selima und Hattie gegriffen und war mit ihnen in die nächste Hecke geflüchtet. Mit etwas Glück konnten sie als einige Rehe interpretiert werden. Marten und Marja hingegen versuchten, sich zwischen einigen Bäumen zu verbergen, die nicht weit von uns gestanden hatten. Jay hatte die Nachhut gebildet und war noch nicht weit gekommen. Er sprintete zurück und ging gemeinsam mit Tom hinter dem Roboter in Deckung. Geduckt spähten sie durch die Ketten hindurch und wirkten extrem angespannt. Mimir und Lena waren beide in keiner Verfassung, dass sie hätten sprinten können. Auch für mich stellte sich das Problem dar, dass sowohl die Maschine als auch die Hecken zu weit entfernt waren. Das würden wir unmöglich schaffen.

Der einzige Schutz, der mir einfiel, lag unter uns. Mimir hatte offenbar den gleichen Gedanken gehabt. Kaum hatte er sich wie wir alle hektisch umgesehen, hatte er sich fallen lassen und war zwischen den Ackerfurchen verschwunden, als habe er nie existiert. Mir blieb nur übrig, Lena bei den Schultern zu greifen und ebenfalls in die Mulden abzutauchen. Es fühlte sich nach einem absolut kümmerlichen Schutz an. Mit dem Mut der Verzweiflung strampelte ich mich tiefer in den Schlamm hinein, wälzte mich, bis ich von oben bis unten von Erde bedeckt war, und versuchte gleichzeitig Lena noch mit Dreck zu bedecken. Vom kiesigen Weg her war zu hören, wie schwere Räder zum Stillstand kamen.

Wenn kleine Kinder verstecken spielen, dann halten sie sich manchmal die Augen zu. „Wenn ich dich nicht sehen kann, dann kannst du mich auch nicht sehen.“ Offenbar ist dieser Instinkt nicht auszurotten. Ich tat nun genau das Gleiche. Tief in den Schlamm gepresst lag ich dort, die Augen fest geschlossen, den Regen im Gesicht, und hoffte.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 122.

Gedankenfäden

Flo saß in der Bibliothek und spürte, wie seine Motivation dahin bröckelte wie der Asbestputz an der Decke des Gebäudes aus den späten Sechzigern. Eine Zeit, in der so vieles einfacher wirkte. Der Berufswunsch wurde von den Eltern geäußert, die Welt war zwischen Ost und West klar abgegrenzt und die jeweils andere Seite war böse, Asbest war gesundheitlich unbedenklich und Atomkraft war die Lösung aller Energieprobleme der Zukunft.

Das mit den Energieproblemen hatte nicht so recht klappen wollen, aber dafür hatte man nun wenigstens den Asbest zusätzlich, und die radioaktiven Abfälle. Der versprochene erste Weltfrieden war auch immer noch nicht ausgebrochen, dafür aber eine Vielzahl kleinerer Stellvertreterkriege. Die Bundesregierung verurteilte diese Kriege immer schön brav und bewilligte ebenso brav die Belieferung beider Seiten mit Waffen, um den Ausgang zu beschleunigen.

Und in dieser Welt saß er nun und sollte Stellschrauben ausmachen, anhand derer mal die Welt ein bisschen besser und lebenswerter machen konnte. Warum? Er hatte Ideen, viele sogar, aber jede Einzelne brauchte Geld, Idealisten und den Willen, wirklich etwas zu bewegen. Er hätte etwas anderes studieren, vielleicht sogar von Anfang an eine Ausbildung machen sollen. Hätte er nur die Möglichkeit, in die Vergangenheit zu reisen und sein jüngeres Ich vor der Odyssee durch die deutsche Hochschullandschaft zu bewahren. Der einzige Wermutstropfen wäre, dass er unter Umständen Kristina nicht treffen würde, dafür wäre er nun bereits seit mehreren Jahren fertig. Vielleicht auch mit den Nerven, aber das war er sowieso. Immerhin würde er dann einfach in Urlaub fahren können.

„Sieh an, ein Grübelmonster. Woran arbeitest du denn da wieder? Dein Stadtprojekt? Und ich dachte schon, du würdest das irgendwann aufgeben.“

Erik ließ sich am Tisch neben ihm nieder und plumpste schwungvoll auf den Stuhl. Flo brauchte eine Weile, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen, wie so oft. Mit müden Augen sah er zu Erik hinüber und fühlte sich, als habe er seit drei Nächten nicht mehr geschlafen.

„Keine Sorge, ich will gar nicht erst wissen, worüber du wieder nachgedacht hast. Du hast wieder dein Weltschmerzgesicht, und ich habe mit Tina schon genug an der Backe. Die kommt nachher übrigens auch noch, ist im Moment noch bei Marco.“

„Was hat sie denn mit Marco zu schaffen? Der hat doch das Seminar gleich am Anfang abgebrochen.“

„Offenbar sind die jetzt zusammen. Das jedenfalls hat Tina mir erzählt. Charmant, wie sie ist, hat sie es so verpackt, dass er quasi nur ein Tröster ist, weil ich mit Mia zusammen bin.“

„Auf diese Tinderella hat sie sich eingelassen? Man, da muss sie ja echt verzweifelt sein. Wie geht es eigentlich Mia? Ich habe sie jetzt eine Weile nicht mehr gesehen.“

„Och der geht’s gut. Sie überlegt mal wieder, alles hinzuschmeißen, den Master abzubrechen und einfach einen Job zu finden. Ein Glück nur, dass sie es dann nie umsetzt. Und ich glaube, Tinderella sagt man nur zu Frauen, nicht zu den Kerlen dort.“

„Wie sexistisch. Ich finde, es passt zu beiden.“

Flo starrte verträumt vor sich ins Nichts. Jemand stiefelte in dicken Wollsocken und ohne Schuhe an der Buchrückgabe vorbei Richtung Lesesaal. Wenn man nur lange genug hier saß, sah man die verrücktesten Dinge. Letzte Woche war ein Mädchen hier hineingekommen, die nicht nur einen Strickpulli, sondern auch die passende Hose dazu trug. Kunterbunt, handgestrickt und in seinen Augen absolut schrecklich.

Er sah auf die Uhr und bemerkte, dass er erst seit zwei Stunden hier saß. Seit zwei sehr unproduktiven Stunden. Sein Gehirn war nicht glücklich mit der Umgebung, der Situation oder der relativen Mondfeuchte. Wer konnte schon sagen, was es nun wieder hatte? Jedenfalls hatte es nichts Besseres zu tun, als permanent Störsignale quer zu schießen. Kaum hatte er einen halbwegs gesitteten und strukturierten Gedanken zusammenbekommen, schoss etwas Anderes dazu und setzte alles auf Anfang. Flo starrte über seinen Laptop hinweg in den Raum und bemerkte Tina trotzdem erst, als sie direkt vor ihm stand. Erik konnte darüber immer noch nur den Kopf schütteln.

„Hallo Tina, wie läuft‘s? Wie geht’s deinem Freund?“

Soweit hatte Flo Erik zugehört, nun konnte er auch einmal mit Sozialkompetenz glänzen. So dachte er wenigstens.

„Hey Flo, auch lange nicht mehr gesehen. Ganz gut und Ex-Freund.“

Neben ihm setzte Erik seine Trinkflasche etwas härter ab als beabsichtigt.

„Wie? Was ist passiert?“

„Ich habe Schluss gemacht, das ist passiert. Es hätte einfach auch nicht gepasst. Sitzt du schon lange hier? Ich komme bei dem einen Teil hier einfach nicht weiter, da musst du mir helfen. Du kannst besser mit Worten umgehen als ich.“

Flo musste grinsen und wandte sich lieber ab. Natürlich konnte Erik besser schreiben als Tina. Er konnte besser schreiben als die meisten Menschen, die er kannte. Aber andererseits kannte er auch niemanden, der schlechter schreiben konnte als Tina. Da traute er sogar einmal sich selbst mehr zu. Dieser Gedanke flackerte nur ganz leise durch sein Gehirn, doch diesmal gab es keinen Querschläger. Das Grinsen verschwand und Denkerfalten tauchten auf, als er seine Gedanken der letzten Stunde rekapitulierte und ordnete. Das Ergebnis schien ihm ernüchternd depressiv. Was stimmte nicht mit ihm? Er hatte doch überhaupt keinen Grund für so viel Negativität. Das musste sich ändern. Morgen.

Wasserkuppe

Schwarze Plörre

Und wieder finden wir uns bei einem von Jettes Schreib mit mir, diesmal Teil 31. Keine Sorge, diesmal habe ich mich kurz gehalten. Ich hatte beim Lesen der „Aufgabe“ spontan ein Bild vor Augen, wie es auch aus einem Terry Pratchet Roman hätte stammen können. Das war also der Stil, den ich anpeilen wollte. Spoileralarm: Ich habe es nicht geschafft. Komik und ich, wir sind eben ein Gespann, was nicht auf Kommando funktioniert. Ich hoffe, es gefällt Euch trotzdem. Viel Spaß!

Ps.: Rahmenbedingungen für den Text gibt es nochmal hier!

Schwarze Plörre

Undurchdringbare Büsche, hohe, dichte Baumwipfel, welche im Wind rascheln, Vögel, die darin mit hellen Stimmen rufen und immer wieder ein scheues Reh oder stolzes Wildschwein, welches durchs Unterholz bricht. Zierliche Sonnenstrahlen tanzen über glitzernde Blumen auf gut versteckten Lichtungen, von weichem Moos bewachsene Steine, so alt wie die Zeit selbst, ragen aus dem kühlen Schatten und verdecken den Bau von Wolf oder Kaninchen, welche sich lieber erst in der goldenen Dämmerung zeigen.

Die windschiefe Hütte der Hexe Mellita stand nicht in einem solchen Wald. Büsche und Bäume um das Bauwerk, welches ebenso knorrig war wie seine Bewohnerin, war längst zu Brennholz verarbeitet worden und der einst so unscheinbare Pfad durch den einst so verschlafenen Wald war zu einer viel genutzten Hauptverkehrsader geworden. Selbst ein Straßenpflaster hatte König Vaalium gespendet, nachdem Mellita sich wiederholt geweigert hatte, an seinen Hof zu ziehen. Nur hier draußen gab es die besonderen Zutaten, welche sie für ihren magischen Trank benötigte.

Und dieser Trank, eine bitterlich sauer, und doch so aufregend riechende, schwarze Flüssigkeit, war die Basis ihrer Macht. In einem riesigen Kupferkessel brodelte das Gebräu vor ihrem Haus, und es brauchte nur ein Nicken und einen Fingerzeig von Mellita, und gleich eine ganze Meute von Wartenden stürmte los, neues Holz auf das Feuer zu legen oder eimerweise frisches Wasser aus dem Brunnen zu holen. Und sie bezahlten ihr auch noch gutes Geld dafür, dass sie sich abrackern durften und am Ende meist nur eine Flasche des Trunkes zu bekommen, welcher kalt und sauer war, ehe sie ihr Heim erreichten. Dabei funktionierte der Trank doch nur, solange er heiß war.

Sie hatte Geschichten gehört, von Barbaren, die ihr erkaltetes Gebräu mit Milch wieder aufkochten. Angeblich gab es im Osten auch einen grauen Zauberer, der einen Kräutersud aus Blättern bestimmter Büsche verkochte, welcher auch kalt noch wirkte. Aber das waren nur Ammenmärchen, da war sie sich sicher.

Wie jeden Morgen stand auch heute wieder, pünktlich zu Sonnenaufgang, der Herold von König Vaalium vor der Hütte. Sein Weißer Schimmel erleichterte sich, ebenfalls wie jeden Morgen, an der Hausecke. Mellita würde den Dung später einsammeln. Es war ein wertvoller Rohstoff. Herold Zitzewitz, gewandet in eine schrecklich alberne Uniform aus kunterbunter, scheinbar wild zusammengewürfelter Kleidung, war heute allerdings weniger gut gelaunt als sonst.

„Heute benötige ich die doppelte Menge, keine Sorge, ich bezahle auch doppelt. Aber die Königin hat sich offenbar die Titte eingeklemmt. Laufend jammert und nörgelt sie nur über des Königs Lethargie, welche nur durch Euren Zaubertrank zeitweise besser wird. Aber er wirkt immer weniger und weniger. Der König braucht inzwischen alle viertel Glockenschlag einen gehörigen Schluck. Es bleibt für niemanden sonst etwas übrig.“

Die quietschige Stimme des ordinären Boten hallte über das provisorische Lager, welches die Hütte permanent umgab. Er war sichtlich unglücklich mit der Situation, obwohl sie so viele Geschichten bereithielt.

„Nur wird es der Frau Königin wohl wenig helfen. Mein Zaubertrank ist kein Liebestrank. Das, was du suchst, wirst du nicht in diesem Kessel finden. Aber ich habe etwas Neues ausprobiert und die Wirkung verstärken können. Diese Flasche wirkt doppelt so stark, eine Expressversion, wenn du so willst. Möchtest du es erst einmal damit versuchen?“

Herold Zitzewitz war entzückt. Begeistert hüpfte er auf der Stelle und klatschte in die pummeligen Händchen.

„Einen Liebeszauber bräuchte es bei dieser Königin sicherlich nicht. Viel wichtiger ist wohl, dass der König lange genug wach ist, dass die Lebensgeister auch den kleinen König erreichen können. Dann geht es sicherlich auch der Königin und ihren Honigtüten wieder besser.“

Eilig ritt er von dannen und ließ eine kopfschüttelnde Hexe zurück. Kaum war er hinter dem nächsten Baum verschwunden, griff sie einen Eimer, sammelte die Hinterlassenschaften des treuen Schimmels ein und begab sich mit einem weiteren Eimer in den Wald. Sie musste sich beeilen, ihn mit Hasenkötteln, Hirschdung und diversen Kräutern zu füllen. Schon kurz nach Sonnenaufgang erwartete sie ihren Lehrling, welcher unterwegs war, Säcke der exotischen Bohnen zu besorgen. Über einem Feuer mit den Eimerinhalten geröstet würden sie genau das perfekte Aroma erhalten, welche sie dann, zerstoßen und zermahlen, an das Wasser im Kessel abgeben konnten.

Natürlich könnte sie auch einfach das Pulver verkaufen und den Leuten beibringen, wie sie das Gebräu selbst zubereiteten, aber sie war eine Hexe und von einer Hexe erwartete man, dass sie vor einem großen Kessel stand und einen magischen Zaubertrank zubereitete. Ab und an, wenn sie jemand fragte, riet sie dazu, einige der weißen Kristalle hineinzugeben, welche sie ebenfalls verkaufte. Die honigsüßen Steinchen waren ihr eigentliches Geheimnis und sie waren ihr Gewicht in Gold gleich doppelt wert.

Schwarze_Suppe