Die eigene Meinung
„Du sag mal, was denkst du eigentlich darüber, dass Tina schwanger ist?“
Mia wusste nicht genau, was sie mit ihrer Frage überhaupt bezweckte. Es war ihr nur einfach ein Bedürfnis gewesen, die Frage auszusprechen. Es war ihr im Grunde genommen egal, ob es nun Tina war, die ein Kind erwartete, oder irgendjemand. Es stand ja noch nicht einmal fest, ob sie wirklich schwanger war. Bislang war einfach nur ihre Periode verspätet oder ausgefallen. Es ging viel mehr um das Schwangersein im Allgemeinen. Zwischen Erik und ihr war das nie ein wirkliches Thema gewesen. Vielleicht einmal angesprochen, irgendwo in einem Nebensatz, wo es leicht übersehen wurde und eigentlich bedeutungslos was.
Erik sah von seinem Laptop auf und wirkte etwas unvorbereitet ertappt. Nachdenklich ließ er den Kopf gegen die Wand sinken, sah abwechselnd Mia und die Zimmerdecke an. Sie konnte sehen, dass einige Fragen in seinem Kopf arbeiteten. Vielleicht versuchte er gerade herauszufinden, welche Antwort für sie die falsche war. Als er sich dann doch eine Antwort abringen konnte, starrte er mit nichtssagender Mine aus dem Fenster und seine Antwort war so absolut typisch für ihn. Offen, allgemein und kaum persönlich. Manches Mal würde sie ihm dafür am liebsten den Kopf umdrehen.
„Naja, wie soll ich das finden? Sie ist mit der Situation nicht besonders glücklich. Ich weiß ja, dass sie gerne einmal Kinder haben wollte, aber der Zeitpunkt ist jetzt nicht ganz unkompliziert. Das Kind wäre da, wenn sie die Masterarbeit angehen will. Das macht es um einiges schwerer. Außerdem kann sie es auch an niemanden abgeben. Marco wird sich nicht drum kümmern und ihre Familie schätze ich auch nicht so ein, dass sie sie groß unterstützt.“
Das war genau, was sie meinte. Sie wollte seine Meinung, nicht seine Analyse der Situation. Seine Gefühle, sofern er denn überhaupt welche hatte. Es interessierte sie kein Stück, wie glücklich oder unglücklich Tina mit ihrer Situation war. Von Marco war eh nichts anderes zu erwarten gewesen, als dass er sich schnellst möglich aus dem Staub machte. Sie versuchte es noch einmal.
„Ja, aber wie findest du das?“
Er sah sie mit einem Blick an, der genau verriet, dass er ihre Frage nicht verstand. Jemand anderes hätte sich vielleicht einfach umgedreht und wäre gegangen oder hätte sich wieder seiner Arbeit gewidmet, aber Erik wollte ihr immer geben, was sie wünschte. Seine Antwort kam unbeholfen und gestammelt, aber er versuchte es, so gut er konnte, zu interpretieren.
„Nun, eigentlich sind Kinder ja schon was Schönes. Wenn sie denn geplant und von beiden Beteiligten gewünscht sind. Sie sind ein sehr einschneidendes Erlebnis im Leben eines Menschen. Aber Tina wird das schon schaffen, wenn sie wirklich schwanger ist. Sie ist stärker, als man das vielleicht auf den ersten Blick meinen würde, und ist vor allem ein riesiger Dickkopf. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann zieht sie das auch durch.“
So, wie anderen Frauen ihren Mann auszuspannen? Mia behielt diese Frage für sich, auch wenn nur deswegen, weil sie wusste, wie sehr es Erik verletzen würde. Er hatte immer zu ihr gehalten und nie Zweifel an seiner Treue aufkommen lassen. Und auch wenn sie mit seiner Antwort nicht völlig glücklich war, es war ein wertvoller Schritt in die richtige Richtung. Irgendwann würde sie ihn so weit haben, dass er auch auf solche Fragen antworten konnte. Für den Moment hatte sie aber wenigstens erfahren, dass er offenbar auch selbst Kindern gegenüber recht aufgeschlossen war. Aber das wusste sie doch eh bereits. Er wünschte sich zwar irgendwann Kinder, wollte sich aber auch nicht damit beeilen. Und was wäre, wenn ihm jemand diese Entscheidung abnahm?
„Was wäre, wenn Tina nicht die Einzige wäre, deren Periode verspätet ist? Was, wenn ich auch jetzt drei Wochen überfällig bin?“
So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte den Blick nicht deuten, den er auf sie gelegt hatte. Für eine quälend lange Zeit tat er nichts anderes, als sie einfach nur stumm und völlig nichtssagend anzustarren. Wieso hatte sie das getan? Sie wusste doch, dass er zu ihr stehen würde. Vielleicht wäre er nicht glücklich mit der Situation, aber er würde wie ein loyaler Hund treu an ihrer Seite stehen und seine letzte Kraft bereitwillig opfern, damit es ihr und dem Kind an nichts fehlte. Und jetzt hatte sie das Gefühl, dass er in die hinein und durch sie hindurchsah, als wäre sie aus Glas, als wäre ihr Gehirn ein offenes Buch für ihn.
„Dann würde es mich sehr wundern, denn du hattest deine Tage erst diese Woche.“
Mia konnte nicht sagen, was sie mehr ärgerte. Dass Erik sich mit diesen Worten einfach wieder seinem Laptop zugewandt hatte, oder dass er offensichtlich besser über ihren Zyklus im Bilde war, als sie selbst. Mit viel Mühe verkniff sie sich eine Trotzreaktion, die wahrscheinlich der Beginn eines Streits gewesen wäre, bei dem es nur Verlierer geben konnte. Tina mochte zwar diejenige sein, die vielleicht ein Kind bekam, aber Mia war dafür diejenige, die auch den Mann dazu haben würde. Das musste ihr für heute als Trotzreaktion reichen.