Archiv für den Monat Mai 2017

Selaya II.

Höchste Zeit für den Testlauf“ sagte er zu sich selbst. Der Motor funktionierte, das musste er nicht mehr testen. Jede einzelne Platine hatte er getestet, jeden Schaltkreis zig mal gemessen. Es konnte gar nichts schief gehen, sein Genie konnte nichts übersehen haben und doch…

Er war unruhig, nervös und angespannter als Spannstahl. Hastig suchte er alle Plätze ab wo er die Feuerlöscher wusste. Eigentlich lächerlich. Es war unwahrscheinlich das er es überleben würde wenn etwas schief ging.

Ein Raketentest ist ein sonntags Spaziergang hiergegen“ schoss es ihm durch den Kopf.

Er schob die Haube zum Cockpit auf und hob seinen Rucksack hinein. Er war erstaunt wie schwer fällig es ging, nun wo die Hydraulikanlage noch schlief. Wenn sie einmal erwacht war würde sie die Haube zurück ziehen können als würde sie nicht aus Zentimeter dickem entspiegeltem Plexiglas bestehen sondern nur aus einer dünnen Folie.

Genau so würde sie Sie nach vorne in die Abdichtung drücken können und kein noch so kleines bisschen Gas hindurch lassen. So hoffte er wenigstens denn das konnte er noch nicht unter den Bedingungen testen die er sich wünschte.

Schnaubend zog er sich zu seinem Rucksack ins Cockpit. Er begann sich schon zu ärgern die ganze Angelegenheit so weit in die Höhe gezogen zu haben, ohne Trittleiter würde es schwer werden ein zu steigen. Er schrieb den Gedanken auf seine Mängel liste.

Er klappte den Instrumentenpils herab. Eigentlich sollte sich nun die Haube schließen aber da das System noch nicht unter Druck stand war nur ein leises Klicken, gefolgt von einem Gluckern zu hören. Sein Blick schweifte flüchtig über die Instrumente. Die Bildschirme waren allesamt dunkel, nur die Uhr tickte leise und Gleichmäßig vor sich hin. Er lauschte dem Geräusch bis es den ganzen Raum mit einem Dröhnen zu erfüllen schien, es beruhigte ihn irgendwie.

Zu seinen Füßen spürte er seinen Rucksack. Er enthielt neben seinem Laptop, einer tafel Schokolade, einer Flasche Orangensaft seiner Federmappe und einem Block Papier auch noch eine Ladung Pflaster, einen Druckverband, eine bunte Mischung aus Schmerz- und Kopfschmerztabletten, ein Handtuch und je einen Ersatzakku für sein Handy und seinen Laptop. Er erwartete das er von all dem nur seinen Laptop benötigen würde aber man kann ja nie wissen.

Er schob seinen Laptop in das speziell dafür entworfene Dock zu seiner linken, klappte ihn auf und fuhr ihn hoch. Den Rucksack verstaute er hinter seinem Sitz. Der Joystick klapperte leise gegen die Instrumenten tafel und der Bildschirm des Laptop zitterte als vor dem Garagentor ein Bus entlang fuhr und in dem Bestreben seine Verspätung von unverschämten zwei Minuten und fünfzehn Sekunden auf zu holen die Geschwindigkeitsbegrenzung für innerörtlichen Straßenverkehr maßlos überschritt.

Der Laptop war hochgefahren. Die Startroutinen erweckten gleichzeitig auch Selayas Generator zum Leben. Ein leises Zittern durchlief das ganze Gefährt und überall um den Piloten erwachten die Lichter zum Leben und spiegelten in seinem Gesicht ein buntes Farbenspiel. Erschrocken fuhr er herum als mit einem scharfen Zischen die Haube zu fuhr und klackend ein rastete.

Es war Unsinn das Cockpit beim ersten Test geschlossen zu halten beschloss er und öffnete es wieder. Er testete das Belüftungssystem und die Heizung, bis ihm auffiel das es mehr Sinn machen würde hierfür die Kabine zu schließen. Da er dazu aber zu faul war blieb sein Blick am Steuerknüppel hängen.

Zu seiner Linken befand sich ein fast Ellenbogen langer Schubregler, an seiner spitze war eine kleine Reihe Kippschalter unter Sicherheitsklappen verborgen. Er legte bis auf zwei alle um.

Hinter ihm begann ein tiefes Brummen lauter zu werden. Der Motor lief und summte glücklich. Wieso musste dieser Motor summen? Er hatte nirgendwo auch nur ein einziges bewegliches Teil, alles war komplett statisch wie aus einem Guss. Die Tatsache das er wohl brummte beunruhigte den Piloten wenig. Das Modell welches er zuerst gebaut hatte, hatte auch gesummt und auch wenn er keine Ahnung hatte wieso dieser Motor funktionierte, schien er ihn zu beherrschen und konnte ihn wiederholt auseinander nehmen und zusammen bauen. Eine merkwürdige Schöpfung.

Behutsam löste der junge den Joystick aus seiner Fixierung und zog ihn zu sich heran. Er hoffte er würde genau so gut funktionieren wie der ganze Rest es bisher tat. Ein Spielzeug war eigentlich nicht zum Einsatz in einem Fahrzeug gedacht und so blickte er auf ihn herab und fragte sich was er mit so vielen Sondertasten anfangen sollte.

Was interessierte es ihn überhaupt? Das wichtigste war doch das es funktionierte und er war sich sicher das es funktionieren würde. Er überprüfte Selayas Einstellungen.

Shuttle

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 133.

Orientierungslosigkeit

„Ist alles okay bei dir? Du guckst in letzter Zeit so oft, als hättest du Besuch vom Grübelmonster.“

Kristina ließ sich neben Flo aufs Sofa fallen, schob die Füße unter das Kissen am anderen Ende und kuschelte ihren Kopf in seinen Schoß, um einige Streicheleinheiten einzufordern. Sie liebte es, wenn er ihr so durch die Haare kraulte, und sie streichelte. Nach einem ermüdenden Arbeitstag gab es doch weniges, was so schön war, wie einfach dort zu liegen, und sich berieseln und umsorgen zu lassen. Sie liebte seine Nähe, seine sanften Berührungen, seinen weichen und manches Mal auch leicht scharfen Geruch. Es entspannte sie zuverlässig jedes Mal, und wenn sie die Augen schloss, dann warteten dort nur schöne Bilder. Aber jetzt schloss sie die Augen noch nicht. Sie sah stattdessen zu Flo hinauf, der ihr zärtlich über die Schulter streichelte und sie vorsichtig anlächelte.

„Es passt schon. Ich überlege nur mal wieder, was ich denn mit mir anfangen soll. Nächstes Semester steht ein Masterprojekt an. Das ist der größte Teil des Semesters, der damit gefüllt wird, und je nachdem, wie man sich anstellt, kann das auch gleich in die Masterarbeit mit über gehen. Man möchte meinen, so alt, wie ich bin, hätte ich einen wunderbaren Plan, was ich denn machen möchte, aber ich habe keine Idee. So einige Möglichkeiten schon, klar, aber was wäre denn meins?“

Er machte eine Pause und starrte auf einen Punkt irgendwo im Nichts vor ihm. Es war eine Sorge, die ihn schon lange begleitete. Er hatte schon in seinem früheren Studium nicht wirklich eine klare Richtung finden können und auch im Bachelor jetzt war seine fachliche Vertiefung so ausgefallen, dass er nach Möglichkeit alle Wege offen gehalten hatte. Er hatte sich eigentlich für etwas entscheiden wollen, aber war dann zu keinem Entschluss gekommen. Alles hatte seine Vor- und Nachteile.

„Du bist nicht halb so alt, wie du dich fühlst. Überleg dir doch, was dich besonders interessiert und gleiche das mit deinen Fächern ab. Welches hat dir besonders viel Spaß gemacht oder hat dich extra interessiert? Und dann überleg dir, was man da für ein Thema draus machen kann, oder frag einfach mal bei den Dozenten an.“

Das war ja eben sein großes Problem. Er konnte nicht so sehr nach Interesse gehen, wie er wollte, denn seine Interessen und seine Fähigkeiten liefen leider in weiten Teilen meilenweit aneinander vorbei. Besonders, wenn es an Berechnungen und Formeln ging, kam er regelmäßig ins Straucheln. Bei Kristina wirkte es alles immer so einfach und beiläufig aber er selbst hatte einfach keinen Verstand für so etwas. Er hatte generell keinen Verstand, der irgendetwas besonders gut konnte, fand er. Jedenfalls nichts, was nicht alle anderen auch gut konnten.

„Hast du vielleicht einen Vorschlag, was mich besonders interessieren könnte und was ich dann auch gut kann? Mir will irgendwie nichts einfallen. Abgesehen davon bin ich sehr wohl alt. Wahrscheinlich der älteste bei uns im Semester. Vermutlich auch der Planloseste.“

Wenigstens was das Alter anging, hatte er gelogen. Er war zwar durchaus der Älteste im Semester, aber er fühlte sich im Moment noch einmal deutlich älter. Älter und mutloser. Kristina und er hatten dieses Gespräch bereits mehrfach geführt und er wusste, dass sie ihm nur begrenzt helfen konnte. Sie wusste vielleicht besser als er selbst, wofür er sich begeisterte und was er gut konnte. Aber sie wusste wohl auch, dass sie ihn in dieser Situation von Nichts überzeugen konnte, also blieb sie still und genoss stattdessen, wie er ihr durch die Haare strich. Er wusste selbst gut genug, dass er irgendwann etwas finden musste, mit dem er gut leben konnte. Sein Problem war, dass dieses Irgendwann jetzt vor ihm stand und ihn fragend und erwartungsvoll anstarrte. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, jedes Mal, wenn er fünf Minuten hatte, um zur Ruhe zu kommen. Und dabei hatte er doch eigentlich schon einen Weg eingeschlagen, dachte er. Wenn er sich nur sicher wäre, dass es der Richtige war. Wenn er noch abbiegen wollte, dann musste er das jetzt tun.

Center of the Universe

Was ist die Lesestunde?

Da ich es nicht hinbekomme, einzelne Beiträge auf meiner „Über die Lesestunde“ zu schreiben, mache ich das nun halt so und verlinke manuell. Hatte den Eindruck, es wird mal langsam Zeit für ein Update.

Die Lesestunde hat im Herbst 2014 als mein persönliches Testgebiet begonnen, mein Bikini Atoll. Es sollte mir (ganz egoistisch) als Plattform dienen, wo ich meine Geschichten veröffentlichen kann, und wo sie auch tatsächlich gelesen werden, inklusive der Möglichkeit zu Feedback/Kritik. Und um mich mit regelmäßigen Veröffentlichungen zum Schreiben zu motivieren.

Und damit ich auch etwas zum Lesen anbieten kann, habe ich „Hörsaalgetuschel“ gestartet. Wenn schon Testgebiet, dann auch gleich richtig, denn mit dieser Serie wollte ich eigentlich nur üben, Charaktere zu schreiben und zu entwickeln. Immerhin soll man sich Herausforderungen suchen, an denen man wachsen kann. Hörsaalgetuschel sollte jeden Sonntag erscheinen, so lange, bis ich keine guten Ideen mehr hätte. Inzwischen läuft sie bereits seit über 2 Jahren und erzählt aus dem Studentenleben von Flo, Erik, Mia, und allen, die sie auf ihrem Weg durch den alltäglichen Wahnsinn begleiten. Anfangs noch in kleinen, alleinstehenden Ausschnitten, inzwischen auch mal Handlungsstränge, die sich über mehrere Ausgaben erstrecken können.

Die Motivation zu schreiben hat es definitiv mit sich gebracht. In der Zwischenzeit habe ich begonnen, neben dem wöchentlichen Hörsaalgetuschel, auch andere Kurzgeschichten und andere Beiträge zu veröffentlichen. Anfangs unregelmäßiger, sind sie heute ebenso regelmäßiger Bestandteil dieses Blogs und werden in der Regel von meinen Besuchern auch sehr positiv aufgenommen. Mittwochs und Freitags gibt es nun also Kurgeschichten und meinen Senf zu allen möglichen Themen, Reiseberichte und Experimente, geschriebene Bilder und nicht Kategorisierbares zu lesen. Und vermutlich mache ich jedem Profiler die Arbeit hiermit extrem leicht.

Nimm Dir gerne ein paar Minuten, guck Dich in Ruhe um und lass mir einen Kommentar da, was Dir gefällt oder was ich besser machen kann. Denn nach all der Zeit ist die Lesestunde immer noch mein Versuchsgelände, wo ich üben möchte, um immer besser darin zu werden, gute Geschichten zu erzählen. Es kann durchaus vorkommen, dass Du dabei über Logiklücken oder Formulierungsfehler stolperst. Leider habe ich bislang niemanden als Lektor rekrutieren können. Es ist ausdrücklich gerne gesehen, wenn Du die Kommentarfunktion unter dem jeweiligen Text auch dazu nutzt, mich auf solche Fehler aufmerksam zu machen. Auf jeden Fall wünsche ich aber viel Spaß!

Blogplan in der Übersicht:

Mittwochs: Kurze und nicht ganz so kurze Geschichten

Freitags: Momente, Experimente, Moin Senf… Die bunte Mischung aus allem Möglichen

Sonntag: Hörsaalgetuschel

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Selaya I.

Weil ich noch keine Zeit hatte, mir genauer zu überlegen, was ich denn als nächstes schreiben möchte (und auch nicht viel Zeit zum Schreiben hatte), gibt es hier und heute jetzt nur eine kleine Geschichte von früher als Trost. Es ist tatsächlich eine der ersten Kurzgeschichten, die ich überhaupt geschrieben habe. Ich hoffe, das merkt man nicht all zu deutlich. Viel Spaß!

Grell weiß begannen die Leuchtstoffröhren an der Decke zu flackern. Ein kaltes, wenig einladendes Licht breitete sich in der kleinen Garage aus, drängte sich in jede noch vorhandene Ritze und Fülle letztendlich den ganzen Raum aus. Das war nicht schwer, es gab kaum noch freien Raum. Die Wände bogen sich unter Meter langen Regalen, von der Decke baumelten die Lampen und eine ganze Reihe von Haken an denen Massenweise Werkzeuge aufgehängt waren. All jenes, welches nicht mehr auf die Werkbank passte, welche sich in eine Ecke drängte und völlig verloren und verkümmert unter ihrem Berg aus Allerlei aussah. Dieses ganze große Chaos wurde von einem einzelnen Objekt beherrscht, welches ruhig und gewaltig in der Mitte der Garage thronte, sie beinahe vollständig für sich einnahm.

Der Junge blickte sich ruhig um, er war das Chaos gewöhnt, kannte es zur genüge. Wie sollte es auch anders sein? Er hatte es schließlich selber angerichtet. Er legte seinen Kopf schräg und betrachtete das Monster. Ein riesiger Klumpen aus Metall wie es schien. Ein Drache welcher seinen Schatz bewachte. Etwas mehr als ein Jahr lag er nun schon dort und wuchs Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Der Junge arbeitete jede freie Minute an ihm, oft bis spät in die Nacht hinein. Außer ihm wusste wohl niemand was er hier tat dachte er sich.

Ein zerknüllter Kontoauszug fiel aus seiner Hand und landete auf einem der Müllhaufen welche sich über dem angesammelt hatte, was einst durchaus als Mülleimer hätte gelten können. Auf dem Papier stand keine einzige Zahl mehr welche kein dezentes „-“ vor seinem Betrag stehen hatte. Es landete in einer leeren Farbdose wo es von einigen der wenigen Lebewesen im Raum freudig empfangen wurde, eine kleine Bakterienkultur welche in den Löse mitteln der Lackfarben ein neues Zu hause gefunden hatte. Warum das Gift sie nicht tötete interessierte sie nicht.

Er griff in seine Tasche und holte eine Papierschablone heraus, griff eine hellrote Sprühlackdose von der Werkbank und stiefelte auf den Koloss zu. Es war nicht viel anders als die hunderte Male zuvor doch aus einem Grund den er sich nicht erklären konnte klopfte sein Herz einen unruhigen Heavymetal-Takt und er hatte das Gefühl er müsse dem Moment etwas feierliches verpassen. So entschloss er sich, die Musik, welche sonst immer lief, zur Feier des Tages einmal schweigen zu lassen und sich ganz auf die Arbeit zu konzentrieren. Die Letzten Handgriffe, die letzten Arbeiten. Was danach kam, soweit hatte er noch nicht oft gedacht.

Eigentlich hatte er schon viel zu oft daran gedacht. Der Gedanke, dieser eine alles beseelende Wunsch bestimmte sein ganzes Handeln. Er hatte ihn dazu gebracht Ewigkeiten in dieser kleinen staubigen Garage zu verbringen und zu schrauben und zu hämmern bis er vor Erschöpfung kaum noch den Weg zurück ins Haus schaffte.

Alle diese langen Stunden der Erschöpfung, der aufopferungsvollen Arbeit. All dies neigte sich nun dem Ende entgegen. Alles lief auf das Ziel hin und es gab kein Zurück mehr, egal was kam. Er legte die Schablone an die spitze Nase des Koloss und hob die Dose.

Selaya“

Die Schrift leuchtete auf dem mattschwarzen Lack, welcher das gesamte teil überzog, als würde sie brennen, leben. Der Junge war von dem Ergebnis überrascht die Wirkung übertraf seine Hoffnungen. Er musste einige Schritte zurück treten um die gesamt Wirkung besser zu erfassen, dabei stieß er hart mit dem Kopf gegen den Akkuschrauber welcher laut polternd aus dem Regal fiel und zu surren anfing.

Selaya! Das war ihr Name, von diesem Moment an. Ein Schatten, ein finsterer Drache. Er wollte nicht gesehen werden und wer ihn wohl sah, sollte sich verwundert die Augen reiben und ihn danach nicht wieder finden.

Er sprach den Namen laut aus.

Selaya!“

Der Klang gefiel ihm. Er fand es würde irgendwie erhaben, majestätisch klingen. Eine Königin. Ein magisches Wesen, ein Drache, welcher Felsen fraß und Feuer spie.

Das erste Mal seit er das Herz des Drachen getestet hatte sollte es nun wieder schlagen. Das erste Mal seit er die Maschine in das Große und Ganze eingefügt hatte zum leben erwachen und sein Leben durch die Leitungen drücken, bis in die letzte Ecke.

Er klappte einen Schacht an der Seite hinten auf. Hinter ihm lagerten graue Zylinder im Regal. Sie sahen sehr schwer aus und er wusste sie waren es auch aber seine Selaya brauchte sie. Das war ihre Lebensenergie, ihr Treibstoff mit dem sie ihn an sein Ziel bringen sollte. Er hob einen an und verfrachtete ihn ächzend in die Luke. Mit einem leisen metallischen knirschen rutschte er hinein und ein dumpfes Klacken sagte aus, er war fixiert.

Shuttle

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 132.

Drei sind Einer zu viel?

Es war wieder einmal einer dieser Tage, in denen Erik das tat, was er mit am besten konnte. Er machte sich Sorgen. Und wieder einmal über etwas, worüber er mit niemandem reden konnte. Vielleicht hätte er mit Flo darüber reden können, wenn er sich das getraut hätte, aber heute hatte er keine Veranstaltungen in der Uni und arbeitete stattdessen von zu Hause aus. Also saß er alleine vor seinem Kaffee in der Mensa und rührte lustlos darin herum. Mia sollte besser nicht wissen, dass er sich seinen Kopf über Tina zerbrach.

Seit Wochen hatte er sie nicht mehr wirklich lächeln gesehen. Es war, als habe sie sich die Sorgen der Welt auf ihre Schultern geladen und abgesehen von dem ein oder anderen flüchtigen Lächeln, welches es niemals bis zu ihren Augen schaffte, hatte sie im Idealfall ein ernstes Gesicht. Teilweise mochte das mit Marcos Reaktion auf ihre Schwangerschaft zu tun haben. Verständnis war nicht unbedingt das richtige Wort dafür gewesen. Er war eher völlig ausgerastet, hatte sie wüst beschimpft, angebrüllt und deutlich gemacht, dass er absolut nicht für die Idee zu begeistern war, Vater zu werden. Zu den charmanteren Aktionen hatte noch gehört, dass er ihr einen fünfzig Euro Schein in den Ausschnitt gestopft hatte, um wenigstens seine „Schulden für den Sex“ abzubezahlen.

Seitdem hatte ihn dann niemand mehr gesehen. Sein Wohnheimzimmer war dunkel und der Hausmeister scharrte bereits mit den Füßen, den Raum neu vermieten zu können. Seine Freunde gaben vor, von nichts zu wissen und seine Familie kannte Tina nicht. Nur über viele Ecken und Gerüchte hatte sie erfahren, dass er angeblich die Uni gewechselt hatte und jetzt lagen wenigstens zweihundert Kilometer zwischen ihnen. Irgendwie war Erik nicht überrascht gewesen, als sie ihm das erzählt hatte.

Tina verschwendete keine Zeit darauf, ihn zu suchen. Sie verbrachte jeden verfügbaren Tag und jede freie Stunde mit Arbeiten. Erik wusste nicht, ob sie inzwischen mit ihren Eltern darüber geredet hatte, aber mit Unterstützung rechnete sie sowieso nicht. Also kämpfte sie, um die verbleibende Zeit gut genug zu nutzen, um alles Notwendige anschaffen zu können. Ihre Noten würden gründlich darunter leiden, das war bereits jetzt absehbar. Und auch das war nicht hilfreich, um ihre Laune zu heben. Statt sich auf das Kind zu freuen, wurde sie also nur bitter, und Erik hatte keine Ahnung, wie er ihr helfen konnte.

Er wusste aber auch nicht, wie weit er ihr überhaupt helfen sollte. Am Ende des Tages hatte er immer noch eine Freundin. Auch wenn Mia in letzter Zeit erstaunlich intensiv Tinas Freundschaft suchte, traute er dem Braten nicht. Die beiden waren einfach ein ungleiches Paar und ihre Offenheit und Freundlichkeit hatte irgendwie immer etwas Erzwungenes. Mias Blick hatte immer eine eifersüchtige Note, wenn sie Tina beobachtete und sich selbst dafür unbeobachtet fühlte. Manches Mal fragte sich Erik, was für eine Seite seiner Freundin er dort gerade kennenlernte. Egal, welche es war, sie gefiel ihm nicht besonders.

In seiner Beziehung war es voll geworden, und das lag nicht allein an ihm. Mia hatte seine Freundschaft zu Tina genommen und auf eine völlig neue Ebene gehievt. Eine, bei der er nicht mehr sagen konnte, was er damit anfangen sollte. Sie hatte ihren Kinderwunsch entdeckt und auf einen Haustierwunsch projiziert, bei dem er kein Mitspracherecht mehr zu haben schien. Hatte sie früher ihre Phasen gehabt, in denen sie distanziert und kühl gewesen war, zeigte sie ihm nun verstärkt ihre Zuneigung und Leidenschaft. Ihr Liebesleben hatte sehr an Qualität gewonnen, wie er es sich eigentlich immer gewünscht hatte. Und doch fühlte er sich unwohl.

Es fehlte ihm die Luft zum Atmen. Er brauchte den Raum zum Leben, die Ruhe um sich zu sammeln und die Leichtigkeit, sich auch einmal über etwas zu freuen. Sich richtig zu freuen, nicht nur einmal leise zu schmunzeln. Der Alltag hatte ihn erfasst wie ein Zug in voller Fahrt und hatte ihn mitgerissen. Er fühlte sich alt, müde, träge, schlapp und schwer. Er hätte sich ins Bett legen und einfach dort liegen bleiben können, mit einem Kuscheltier im Arm. Durfte man so etwas als erwachsener Mann überhaupt? Was macht einen überhaupt erwachsen? Im Moment fühlte er sich eher wie ein kleines Kind, ein Schuljunge, der ungefähr so selbstständig sein konnte, wie ein Fisch auf dem Trockenen.

War es in seiner Beziehung zu voll geworden? Wenn, dann lag es nicht einmal an Tina, die konnte nichts dafür. Auch Mia konnte er nichts vorhalten. Es war er selbst, der zu viel war. Er fühlte sich nicht in der Lage, der Freund zu sein, den Mia oder Tina oder überhaupt irgendjemand verdiente. Er war abgebrannt und fühlte sich von seinen eigenen Sorgen erschlagen und erstickt. Und mit diesem Gefühl im Bauch und der zugeschnürten Kehle hatte er jetzt noch zwei Stunden Vorlesung vor sich.

Mit einem schweren Seufzen leerte er die Kaffeetasse, stand auf und räumte sein Geschirr weg. Wie auf Schienen verließ er die Mensa, ging zu dem großen und abgrundtief hässlichen Betonbunker hinüber, in dem die Hörsäle waren. Wenn er die letzten Semester etwas eifriger gewesen wäre, dann hätte er hier jetzt überhaupt nichts mehr zu suchen. Er ging an der Türe vorbei, saß schon zwei Minuten später im Bus und kam erst wieder so wirklich zu Bewusstsein, als er sich kurz darauf die Bettdecke über den Kopf zog. Wenigstens für heute.

Kassel 3

Pflanzexperiment: Milpa, Update 1.

Das letzte Wochenende war geprägt von strahlendem Sonnenschein im Wechsel mit gründlichen Regengüssen und angenehm milden Temperaturen. Grund genug, um die Eisheiligen für beendet zu erklären und mich an den Garten zu machen. Es wird schließlich höchste Zeit für sattes Grün, ehe im Sommer alles zu verbrennen droht.

Wie ich bereits angekündigt hatte, möchte ich dieses Jahr eine Milpa testen, eine lateinamerikanische Mischkultur. Dafür habe ich eine Fläche von etwa 2×2 Metern umgegraben und mit reichlich Komposterde aufgebessert. Leider kann ich wohl bei diesem Boden hier nicht die besten Ergebnisse erwarten, aber ich bin gespannt. Seit zwei Wochen stehen auch die Maiskörner bereits im Anzuchtgewächshaus auf der Fensterbank und keimen eifrig vor sich hin. Die Meisten jedenfalls, aber leider nicht alle. Schlechter sieht es bei den Kürbissen aus, die erst eine Woche Vorarbeit leisten konnten. Hier sind nur vier Stück gekeimt, die Hälfte also. Die Bohnen benötigen überhaupt keine Vorarbeit laut der Packung.

Da sie noch nicht so weit waren, habe ich zwei Mais- und zwei Kürbiskeimlinge erst einmal auf der Fensterbank gelassen und den Rest zum Garten gebracht. Für den Mais habe ich etwa einen halben Meter Abstand zwischen den Setzlingen gewählt, die Kürbisse haben jeweils mittig auf den Seiten ihre Position gefunden, die Bohnen sind etwa eine dicke Handbreit von den Maispflanzen entfernt gesetzt worden. Das gründliche Angießen hätte ich mir eigentlich auch sparen können, denn noch am gleichen Abend gab es einen soliden Regenguss. Geschadet wird es nicht haben.

Leider ist inzwischen deutlich, dass zwei Maissetzlinge nicht sehr glücklich mit der neuen Umgebung waren und sich lieber flach gelegt haben. Die beiden auf der Fensterbank verbliebenen sind auch immer noch dort und verhalten sich recht zaghaft bis sterbend. Dennoch bleibt das Experiment spannend für mich. Der Boden ist nicht optimal, der Standort zwar schön sonnig und warm, aber auch vergleichsweise windig und trocken. Der Mindestanspruch ist, das Saatgut zu verdoppeln. Immerhin ist es das Gruppenprojekt unseres Gartens, eine Samenbank aufzubauen. Wenn also alles wundervoll wächst, dann gibt es nicht nur eine leckere Ernte, sondern genug Samen, um nächstes Jahr das Ganze etwas auszubauen. Drückt die Daumen, dass es alles toll wird und, wenn ihr möchtet, gebe ich gerne weitere Updates, wenn es wieder etwas zu berichten gibt.

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Ein noch sehr unscheinbar aussehendes Beet, dafür aber mit kleinem Windrädchen!

Exitus XVIII – Ende

Am achtzehnten Juni bin ich gestorben. Mein Ausweis ist abgelaufen, meine Konten wurden geleert und auf die zugewiesenen Erben verteilt, Mietvertrag und alles damit zusammenhängende wurden beendet. Doch es sollte noch einmal etwa ein Jahr dauern, bis ich auch wirklich tot war. Mein Leben mag nicht spektakulär gewesen sein, in weiten Teilen sogar regelrecht langweilig, doch zum Ende hin wurde es noch einmal richtig spannend. Ich muss gestehen, auch wenn es mich selbst erschreckt hat, ich hatte meinen Spaß daran und am Ende ging ich mit einem Lächeln auf den Lippen. Wir hatten gewonnen. Es war ein ungleicher Kampf in einem Spiel, dessen Regeln uns niemand erklärt hatte, und doch hatten wir gesiegt. Was hätte ich denn hiernach noch erreichen wollen?

Ich erfuhr nicht mehr, dass die Anderen es geschafft hatten, die Grenze zu erreichen. Nur wenige Meter auf dem Territorium der Longinius Inseln, und sie waren von Grenzern aufgegriffen worden. Niemand hatte damit gerechnet, doch Mimir kannte die entsprechenden Namen, um ohne weitere Fragen direkt an hohe Stellen weitergeleitet zu werden. Jay hatte die Chance direkt genutzt, um dem Geheimdienst der Longinius Inseln die Flugblätter und die entsprechenden Hintergrundinformationen zukommen zu lassen. Ein wenig Glück und der richtige Name, und die Radiostationen von Olimpia verloren die Kontrolle über ihr Programm.

Ich erfuhr auch nicht mehr, dass unser Laster wenige Minuten später am Krankenhaus hielt. Die Polizei war dermaßen unvorbereitet getroffen worden, dass sie uns wertvolle Minuten Vorsprung schenkten. Auch wenn nur noch mein Tod festgestellt werden konnte, die Anderen schafften noch am gleichen Morgen den Weg über die Grenze, wo sie bereits von Mimir und Jay erwartet wurden. Hattie, Selime und Lukas fanden sie später in einem Hotelzimmer, wo sie völlig erschöpft aber immerhin frisch geduscht eingeschlafen waren.

Aber die Versteckmöglichkeit für meine Freunde war damit fort. Sie waren nicht länger tot, keine Geister im System mehr. Sie erhielten alle wieder Ausweise und offizielle Lizenzen. Lena und Lukas konnten Positionen an der Universität ergattern, Jay eröffnete wieder eine Bar, Tom schaffte es tatsächlich, in sein geliebtes Schattendasein zu verschwinden. Die örtlichen Behörden griffen gerne auf ihn als verdeckten Ermittler im Untergrund zurück. Mimir verschwand irgendwann komplett, tauchte nur dann und wann wieder auf, meldete sich auf der Durchreise. Selime, Hattie, Marten und Marja bezogen gemeinsam ein kleines Landhaus und führten ein unauffälliges, gewöhnliches Leben. Nach fünf Jahren stellten sie erst fest, dass auch Marten bereits seit fast einem Jahr hätte verstorben sein sollen.

Olimpia wurde nach meinem Exitus drei Tage lang von Aufständen gebeutelt. Die Reporter hatten im Chaos ihren Weg in die Polizeistation gefunden, hatten vom Tod Gunter Wyzims erfahren, und die Leute hatten ihre Schlüsse gezogen. Als dann noch ein nicht näher benannter Orakelwächter sensible Akten aus Abteilung 42 an die Nachrichten weiter gab, waren alle Zweifel ausgeräumt. Erst, als das Orakel die Abteilung mit sofortiger Wirkung schloss, die Orakelwache mit einer umfangreichen Untersuchung der Fälle beauftragte und Kompensationen versprach, beruhigte sich die Lage wieder.

Doch auch wenn das Orakel seine Macht festigen und ausbauen konnte, indem es der Wache weitere Freiheiten in ihren Methoden und Berechtigungen verlieh und sie gleichzeitig enger an sich band, es war kein reiner Gewinn. Die reine Möglichkeit, dass ein geliebter Mensch nicht mit seinem festgesetzten Datum gehen würde, machte vielen Mut. Ebenso rief es aber auch viel Neid hervor und die Wunden, welche die wenigen Wochen des Misstrauens gegen die Untoten in die Gesellschaft gerissen hatte, waren tief und sie heilten langsam. Das Wort des Orakels war nicht länger unangezweifeltes Gesetz.

Dreißig Jahre später sollten Lena und Jay noch einmal eine Reise nach Olimpia antreten und eine tief veränderte Stadt antreffen. Zwar voller herzensguter, aber sehr schweigsamer und skeptischer Menschen. Nur mit Mühe fanden sie einen neuen moralischen Kompass zwischen dem Orakel und einer Vielzahl von Herausforderern, die jeder eigene Interessen durchsetzen wollten. Doch sie lernten auch, sich über die kleinen Dinge im Leben zu freuen. Die Stadt mochte vorsichtig geworden sein, doch an Farbenpracht hatte sie nichts verloren.

Das war also mein Vermächtnis. Ein Mensch starb nicht zum vorherbestimmten Zeitpunkt und sein tatsächlicher Tod war der Startschuss in eine neue Ära. Und dabei war mir immer nur ein friedliches Leben für alle Menschen gleichermaßen wichtig gewesen.

Das war meine nicht mehr ganz so kurze Kurzgeschichte zu Jettes Schreib mit mir Teil 21! Ich hoffe, es wird mir nachgesehen, dass ich es nicht mehr bei jedem Beitrag explizit dazu geschrieben habe. Wer von Anfang an dabei ist, der weiß das ja sowieso und so ergibt die Geschichte auch am meisten Sinn. Ich hoffe, sie hatte nicht zu viele Längen oder Lücken und hat Euch gut unterhalten können.

Es ist jedenfalls sehr sehr viel größer geworden, als ursprünglich angedacht gewesen ist aber es hat auf jeden Fall sehr viel Spaß gemacht, zu schreiben. Ein für mich sehr ungewohnter Stil, ein neues, mir selbst recht unbekanntes Setting und eine immer weiter wachsende Welt. Es war eine schöne Herausforderung und eine Übung, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Hier und da mag es mir ein wenig entglitten sein.

(Für die Zahlenfetischisten: Es sind 23.704 Worte geworden, bestehend aus 150.049 Zeichen, welche in meinem LibreOffice 38 Seiten beschlagnahmen. Für ein spontanes, ungeplantes Nebenprojekt und auch für meine Verhältnisse generell recht umfangreich. Ich bin selbst ziemlich verblüfft.)

Wie hat euch die Geschichte denn gefallen? War sie zu lang oder hätte ich die Welt besser ausarbeiten sollen? Gab es Längen oder habt ihr euch voller Spannung auf den nächsten Beitrag gefreut? Schreib es mir gerne in die Kommentare.

Ich möchte mich herzlich bei allen bedanken, die mich auf dieser Reise begleitet haben und mit freundlichen Kommentaren oder einfach nur einem stummen Lächeln dem Abenteuer gefolgt sind. Besonders lieben Dank natürlich auch noch einmal an Jette / Frau Offenschreiben für das schöne Thema. Bis zum nächsten Mal, gehabt euch wohl 🙂

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 131.

Nachwuchs

Kurz, nachdem Flo zu Kristina gezogen war, hatte sich das Ritual eingebürgert, einmal die Woche mit Erik und Mia gemeinsam in der Mensa essen zu gehen. Zeitweise gesellten sich auch andere Freunde dazu, aber die Drei waren die Stammbesetzung dieser Runde. Heute würden sie nicht hinein gehen, sondern sich nur einen Platz in der Vorhalle suchen, denn Flo hatte mal wieder einen Kuchen dabei, welcher ihr Mittagessen sein würde. Etwas Geduld brauchten sie aber noch, denn Erik war alleine gekommen. Mia hatte mal wieder etwas zu organisieren gehabt und war noch in der Sprechstunde beim Dekan.

„Du kannst sagen, was du willst, aber die Frau treibt mich irgendwann noch in den Wahnsinn.“

So sehr Erik seine Freundin auch bewunderte, so sehr liebte er es, über sie zu meckern. Ob sie anwesend war oder nicht, spielte keine Rolle. Nichts, was er sagte, würde er nicht auch vor ihr so sagen, und wenn sie sich über etwas aufregen oder ärgern wollte, dann tat sie das ebenso unabhängig davon, ob sie es hörte, oder nicht. Und bei allen Unstimmigkeiten konnten sie nicht anders, als sich am Ende jedes Mal wieder zu vertragen. Sie waren absolut süchtig nacheinander und selbst wenn ihre Wohnung zwanzig Zimmer gehabt hätte, sie wären immer maximal im Nebenraum voneinander gewesen.

Flo sah von seinem Telefon auf und machte sich emotional bereit, wieder mitten im Kreuzfeuer zwischen den Schützengräben zu stehen. Bei jedem größeren Streit kam es zwangsläufig zu dem Punkt, wo wenigstens eine der beiden Seiten vor ihm stand, und eine Positionierung forderte. Inzwischen war er sehr geübt darin, eine positiv klingende aber dennoch dermaßen ungefähre Antwort zu geben, aus der ihm auch im Nachhinein kein Strick gedreht werden konnte. Doch das hier klang bereits jetzt nicht nach einem großen Streit, sondern nur geringfügig abweichenden Meinungen.

„Ich weiß ja, dass sie recht eifersüchtig sein kann, aber irgendwo muss doch auch mal gut sein. Seit sie mitbekommt, dass Tina gelegentlich etwas mit mir flirtet, geht sie viel stärker auf mich ein, das ist ja noch etwas Gutes. Aber offenbar bekommt sie es etwas in den falschen Hals, dass Tina ein Kind bekommt.“

„Wieso das? Will sie jetzt auch eins? Du weißt ja, sie ist manches Mal etwas voreilig und hat Angst, etwas zu verpassen. Gib ihr ein bis zwei Wochen, um sich an die Situation zu gewöhnen, und alles ist wieder gut.“

„Du verstehst das nicht so ganz, glaube ich. Sie wird keine Woche warten wollen.“

„Soweit ich weiß, gehören da auch immer zwei zu. Also, was soll sie tun?“

„Eine Katze anschaffen.“

Die Idee war so charmant wie absurd. Das letzte Mal, dass Mia eine Katze gestreichelt hatte, konnte sie für zwei Tage kaum mehr etwas sehen, so sehr hatte der allergische Schock ihre Augen zu quellen lassen. Auch wenn sie die Tiere nach wie vor liebte, sie war zum Abstand gezwungen. Und jetzt wollte sie sich eine Katze als Kindersatz in die Wohnung holen? Flo musste unwillkürlich laut auflachen. Das passte doch alles überhaupt nicht zusammen. Wieso musste es unbedingt eine Katze sein? Weil ein Hund zu viel Auslauf benötigte und ein Meerschweinchen zu uninteressant war? Oder wollte sie doch noch zu einer verrückten alten Katzendame werden?

„Eine Katze? Von allen möglichen Haustieren möchte sie eine Katze haben? Es könnte auf jeden Fall sehr lustig werden, wenn ich mich an das letzte Mal erinnere.“

„Das nennst du lustig? Schlimm genug, dass ich mich dann rund um die Uhr um sie kümmern muss, weil sie selbst zu nicht mehr viel in der Lage sein wird. Aber hast du eine Ahnung, was die Viecher für einen Dreck machen? Also Katzen mein ich jetzt, nicht geblendete Frauen. Überall Haare, Katzenstreu und alles wird nach was auch immer stinken. Wie soll ich denn mit Putzen hinterher kommen, wenn auf jeder Schrankwand dreckige Katzenpfoten Samba tanzen? Soviel kann ich dir jetzt schon sagen, Mia wird sich nicht darum kümmern. Wenn ich Glück habe, achtet sie wenigstens auf die Erziehung.“

„Oh das wird sie schon. Spätestens dann, wenn die Katze ihre verrückten fünf Minuten während ihrer Serie bekommt.“

Konfliktpotenzial vom Feinsten bahnte sich an. Mias spontane Sehnsucht nach einem Kindersatz gegen Eriks ausgeprägten Sauberkeitsfimmel. Wenn es nur um die beiden ging, ging das Zusammenleben ja recht gut, aber ein Haustier? Flo sah darin den denkbar ungeeignetsten Testballon für ein eventuell anstehendes gemeinsames Kind. Aber so oder so, ein Kind pro Semester war doch eigentlich genug. Er sah jedenfalls nicht, dass es eine gute Option für Mia und Erik wäre.

Zu seiner Überraschung sah er nun auch Mia, die sich zügig und in unerwarteter Begleitung näherte. An ihrer Seite bemühte sich Tina, Schritt zu halten. Die beiden Frauen wirkten dabei außerordentlich gut gelaunt. Schon von Weitem winkte Mia Erik und Flo aufgeregt zu, drückte dann ihrem Freund einen Kuss auf den Mund und Flo ihr Handy ins Gesicht.

„Schau mal! Ist sie nicht süß? Vielleicht bekommen wir die Kleine hier als Pflegekind. Erik hat dir wahrscheinlich schon erzählt, dass wir eine Katze adoptieren, oder?“

Da war sie, die Aufforderung, Position zu beziehen, wenn auch etwas versteckt. Natürlich sah Mia nirgendwo ein Problem oder Diskussionsbedarf, vielleicht auch deswegen, weil Erik nie sehr nachdrücklich war.

„Er hat mir erzählt, dass du dir eine Katze wünschst, ihr darüber aber noch einmal reden müsst.“

„Ja siehst du, das ist doch fast das Gleiche. Was gibt es heute zu essen? Ich verhungere!“

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Momente VI

Sengende Sonne strahlt zwischen einzelnen scharfkantig bauschigen Schäfchenwolken hindurch, es wird warm unter der Plexiglashaube. Grünes Gras in vollem Saft zieht sich über das flache Feld, ein feines Stahlkabel, was sich mittig darüber zieht. Am Rand blühen einige Blumen und es schwirren hektisch Bienen und Hummeln umher, nutzen den schönen Frühlingstag bei einem lauen Wind.

Ein kurzer Check, Griff zu den Gurten, zur Verriegelung der Haube, ein Blick links und rechts die strahlend weißen Tragflächen entlang und über die Schulter. Test von Pedalen und Knüppel, alle Ruder und Klappen sind freigängig. Tief durchatmen, die Sehnsucht wirken lassen, es ist alles okay.

Ein weißes Wölkchen schwebt etwa im fünfundvierzig-Grad-Winkel von der Position aus über der Bahn. Der perfekte Wegweiser. Ein kurzes Okay, das Stahlseil strafft sich, zieht an, der Sitz stürmt nach vorne weg und jedes Gramm Körpermasse versucht verzweifelt schritt zu halten und nicht durch die Sitzschale gedrückt zu werden. Keine zwei Sekunden später rattert die Maschine mit knapp über einhundert Kilometern pro Stunde über das Feld, welches plötzlich kaum mehr glatt erscheint. Büsche, Bäume oder Zaunpfähle rasen im Augenwinkel vorbei, nur einen Augenblick, dann wird das Rumpeln von einem gleichmäßigen Rauschen abgelöst. Kaum ein halber Meter Wind liegt zwischen dem Flieger und dem Gras, die Wolke unterdessen ist immer noch an ihrer Position über dem Flugfeld.

Ein sanfter Zug am Knüppel und die Nase zeigt genau auf die Wolke. Wie im Fahrstuhl zerrt das Seil das kleine weiße Flugzeug in die Höhe. Nur schneller, so viel schneller. Steuern ist sinnlos, die Aerodynamik übernimmt es von alleine. Das rauschen wird leiser, die Maschine langsamer, der Winkel flacher. Vor wenigen Augenblicken noch zwischen blühenden Bäumen, nun bereits einen halben Kilometer den wattigen Wolken näher. Ein metallisches Kratzen lässt den Rumpf leise zittern und die Hand geht automatisch zur Seilkupplung. Selbst wenn das Seil etwas zurückgelassen hätte, nun ist es fort.

Ruhe, nur noch der leise Fahrtwind, ein Bellen auf einem Bauernhof weit unten, das ewige Brummen der Autobahn hinter dem nächsten Hügel. Geschwindigkeit okay, Gleitzahl auch. Ein kurzer Blick umher, wo ist welche Wolke? Was soll das Ziel sein? Am Horizont quellen dicke Wolken aus Kühltürmen, periodisches Aufblitzen verrät einen Flieger, der ihre Aufwinde nutzt. Eine kleine Bewegung über die rechte Tragfläche erregt Aufmerksamkeit und weist die Richtung. Einer der Meister zieht seine Kreise und gewinnt rasch an Höhe. Der Falke kann jede Regung der Luft spüren, der Flieger leider nicht. Da hilft nur noch Schätzen und die Erfahrung.

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Exitus XVII

Es war nicht mehr eine Drohkulisse, mit der Wyzim uns anstarrte, keine Einschüchterung. In seinen Augen loderte blanker, fanatischer Wahnsinn. Das fleckige Gesicht zu einer von Hass verzerrten Fratze verzerrt, deutete er mit seinem Stock auf mich. Nein, nicht mit dem Stock, nur mit dem Knauf davon. Erst jetzt bemerkte ich, dass es eine Pistole war. Gut getarnt und reich verziert, aber dadurch nicht weniger tödlich, und ihre Mündung zeigte mal auf mich, mal auf Tom. Ich war noch nie in der Situation gewesen, dass eine Waffe auf mich gerichtet wurde.

In den Filmen rannten die Leute dann immer hektisch und schreiend durch die Gegend. Hier waren es lediglich die Polizisten und Orakelwachen, die nervös wurden, aber still blieben. Tom wirkte, als wäre es ihm so schrecklich egal, Marten und Marja hatten sich an die Wand des Transporters gedrückt und waren miteinander beschäftigt, Lena konnte nicht sehen, was geschah und ich selbst war so ruhig, dass es mir selbst bereits unheimlich war. Da wurde ich mit der Waffe bedroht und es war mir einfach völlig egal.

„Dann ist da also doch etwas dran, an den Vampirismus Gerüchten. Wir sollen also unsere Lebenszeit auf Kosten Anderer verlängern? Saugen also die Energie von unseren Mitmenschen ab und bringen sie vorzeitig ins Grab?“

Toms Stimme war ruhig, aber die Langeweile war daraus gewichen. Der leise Spott, den man als solchen erkennen mochte, war viel mehr Ausdruck von Wachsamkeit. Wer ihn nicht kannte, dem mochte das entgehen, aber Tom lauerte und war hellwach. Er wusste, dass Wyzim nicht nur als Drohgebärde auf uns zielte. Er wollte abdrücken und suchte nur noch nach einem Grund. Auch wenn er eigentlich lebende Exemplare haben wollte, tot würden wir eine geringere Gefahr für ihn abgeben. Und Forschung war Forschung, wobei die auch nur noch eine hohle Maske war. Dies hier war ein persönlicher Kreuzzug.

„Spottet nur, solange ihr könnt. Bei mir werdet ihr damit keinen Erfolg haben. Ich weiß, was ihr plant, und selbst wenn ich euch jetzt nicht alle zu fassen bekomme, ihr könnt euch nicht ewig verstecken. Die ganze Stadt jagt euch, niemand wird Euresgleichen mehr schützen. Ihr seht also, eure beste Option ist es, euch einfach zu ergeben und mitzukommen. Wir können gemeinsam eine Heilung finden, damit keine weiteren Unschuldigen sterben müssen.“

„Wohin mitkommen? Abteilung 42? Ich dachte, dahin wären wir eh auf dem Weg. Und du hast die Stirn, uns etwas von unschuldigen Leben zu erzählen, während du, im Gegensatz zu uns, mit deinen Terroranschlägen ganze Blocks vernichtet hast.“

Lena hatte dem Gespräch bislang recht abwesend zugehört, doch nun betrachtete sie Tom mit wachsendem Unbehagen. Das hier mochte genau der Grund gewesen sein, auf den Wyzim gehofft hatte.

„Wart ihr das also? Irgendwie bin ich nicht so überzeugt, dass ihr es auch bis in meine Abteilung geschafft hättet. Was für ein Glück, dass wir uns hier noch begegnet sind, wo ihr es anscheinend kaum noch erwarten könnt, dort einzutreffen. Dann fahren wir mal. Herr Wächter, sie beschützen unsere Freunde im Container, ich fahre.“

Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung, die Pistole immer noch unbestimmt in unsere Richtung wedelnd. Die Orakelwache zögerte, zuckte dann unbestimmt mit den Schultern und ging langsam auf die Heckklappe des Transporters zu. Hinter seiner Stirn konnte man es arbeiten sehen. Auch wenn er sich inzwischen als ein Verbündeter gezeigt hatte, diesen Angriff auf seine Kompetenz durfte er eigentlich nicht ungestraft lassen. Er brauchte nur eine Idee, die ihm nicht kommen wollte.

Es war, als würden die wenigen Sekunden wie Stunden vergehen. Wyzim humpelte auf mich zu, bedeutete mir durch das Wedeln mit der Waffe, in den Transporter zu steigen, und wurde sichtlich nervös, weil ich nicht sofort Folge leistete. Wenn ich jetzt in diesen Wagen stieg, würde das nicht nur mein Ende bedeuten, sondern auch das von Tom, Lena, Marja, Marten und des Wächters. Wyzim würde uns foltern, töten und sezieren. Er würde nicht finden, was er suchte. Er würde in keinem von uns das Leben seines Kindes oder seiner Frau finden. Er würde auch nichts finden, was ihm selbst zu ewigem Leben verhalf. Nicht einmal Rache oder Genugtuung konnte er finden. Solange er nicht wusste, welche Fragen er beantworten wollte, wäre unser aller Tod reine Verschwendung. Und der feine Doktor Wyzim war nicht fähig, die richtigen Fragen zu stellen.

Wahrscheinlicher war sogar, dass er auf dem Weg zu Abteilung 42 die Journalisten überfahren würde, welche auf einen Schnappschuss hofften. Und wenn dort draußen wirklich Martens Flugblätter verlesen wurden, dann dürfte das auch den ein oder anderen Neugierigen auf die Straße locken. Ihre Leben würden ihm noch einmal viel weniger wert sein als unsere. Er hatte Wohnblocks und Brücken gesprengt, nur in der vagen Hoffnung, unserer habhaft zu werden. Selbst wenn wir die Vampire waren, für die er uns hielt, ging von ihm die deutlich größere Gefahr aus. Und das hier war die einzige Chance, meinem Leben eine tiefere Bedeutung zu geben.

„Nein.“

Die Pistole zeigte jetzt genau auf meine Brust. Es war nur ein einzelnes, leise gesprochenes Wort gewesen, doch der Effekt war erstaunlich.

„Nein?“

„Nein! Wir werden nicht fahren.“

Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass Tom die Tür des Transporters schloss und dahinter in Deckung ging. Der Wächter blieb vor Verwunderung danebenstehen, sah irritiert umher und schien wieder einmal überfordert. Sein Kollege war wieder aus seinem Laster geklettert und sah ratlos hinüber, die Polizisten trauten sich ebenfalls nicht, einzuschreiten.

In einer fließenden Bewegung drehte ich mich und lief auf Wyzim zu. Vielleicht war es eine schnelle und plötzliche Bewegung, aber mir erschien sie gemächlich und langsam. Ich hörte den Knall, spürte den Einschlag der Kugel in meinem Brustkorb. Vielleicht ließ es mich auch kurz zucken, aber das war es, nur ein leises, dumpfes Pochen. Mit dem nächsten Schritt erreichte ich den Doktor, griff in seinen Arm und bog ihn zurück. Wohl nur noch aus Reflex drückte er ein zweites Mal ab, Unglaube und Entsetzen in den Augen. Sein Ruf hatte versagt, ebenso seine Erscheinung und seine Einschätzung. Und nun verließ die zweite Kugel ihren Lauf, durchschlug seinen Kiefer und verschwand irgendwo in seinem Gehirn.

Aus Unglaube wurde ein Moment blanker Panik, ehe sein Blick stumpf und leer wurde. Sein Körper erschlaffte, wie in Zeitlupe. Seine Hand rutschte aus der Pistole und sank mit dem Rest zu Boden. Ich hatte gewonnen. Wir hatten gewonnen! Wyzim war tot und keine Gefahr mehr für irgendjemanden. Mir war noch immer nicht deutlich, wieso er uns nun eigentlich umbringen wollte, aber das spielte auch keine Rolle mehr. Wir waren wohl nur der letzte Strohhalm gewesen, den er finden konnte, um einen Verantwortlichen am Tode seiner Geliebten zu finden.

Mit einem fröhlichen Siegeslächeln im Gesicht sah ich mich nach den Anderen um. Vier leichenblasse vor Schock starre Gesichter blickten mich aus dem Transporter an. Der Wächter schien im Sturz eingefroren zu sein. Es brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass er auf mich zu stürzte und die träge Masse das Einzige war, was ihn zurückhielt. Und während ich die schwere Pistole noch nachdenklich in der Hand wog, wurde mir bewusst, dass ich bereits seit etlichen Sekunden keinen Herzschlag mehr hatte. Zwei große Hände griffen nach meinen Schultern, im nächsten Moment lag ich bereits auf dem Boden des Transporters, umringt von besorgten Gesichtern.

Wieso? Es gab Grund zur Freude! Sie waren außer Gefahr, oder wenigstens so gut wie. Die Türen waren geschlossen, nur noch die herrlich schummrige Innenbeleuchtung brannte. Wir waren der garantierten Gefangenschaft nebst Folter und Tod entgangen. Ich hatte meine zweite Familie retten können, zum ersten Mal in meinem Leben etwas Heldenhaftes vollbringen können. Mein zufriedenes Lächeln war mehr als angemessen.

Und während ich spürte, wie der Motor anlief, fühlte ich den Nebel, welcher schlussendlich doch in meinen Geist kroch, um für immer zu bleiben. Ich schloss die Augen, atmete aus und es fühlte sich einfach nur noch verdammt gut an.

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