Mara Naravova fand den Rektor im Rosengarten, seinem persönlichen Ziehkind. Er verbrachte einen Großteil seiner Zeit hier und kümmerte sich liebevoll um die Blumen. Fast alle hatte er selbst gepflanzt, als die Universität gegründet wurde. Der alte Mann begrüßte sie herzlich und bot ihr an, sich auf eine Tasse Tee zu ihm zu setzen. Sie nahmen auf einer Bank aus wackeligem, dünnen Stahlblech platz.
„Ein Interview also. In der ganzen Zeit haben noch nicht viele Leute ein Interview mit mir haben wollen. Mich hat das immer etwas erstaunt, da die Wissenschaft doch auf der Fahne der Kolonie steht. Wir haben bislang nur diese Hochschule, auch wenn sich die Handwerker gerne abgrenzen wollen. Sie überlegen zurzeit ein Schulgebäude mit Werkstätten drüben in Belenos zu bauen. Für die Universität wäre das in meinen Augen ein großer Verlust, aber wenn der Entschluss einmal steht, werde ich sie nicht aufhalten können oder wollen. Vermutlich gehört so etwas zur Entwicklung einer Kolonie dazu.“
„Sie haben ihren einundzwanzigsten Geburtstag nur wenige Tage nach Gründung der Kolonie feiern können. Seit dem hat sich sehr viel verändert. Was ist Ihnen persönlich am stärksten aufgefallen?“
„Die Universistät natürlich. Wir haben sie direkt in den ersten Wochen nach der Landung gegründet, auch wenn sie damals anders ausgesehen hat. Wissen Sie, die Brücke hatte es damals ziemlich eilig, das Schiff direkt zu zerlegen und die Siedlung zu gründen. Wir haben zwei leere Container bekommen und haben sie einfach auf den Hang gestellt. Sie standen natürlich schief, der Projektor hat ein verzogenes Bild geworfen und die Stühle sind durch den Raum gerutscht. Das waren die Anfänge. Ein Raum mit lediglich Strom für Licht und den Projektor, die beiden Professoren Xim und Raabe, gelegentliche Gastvorträge von Jedem in der Kolonie, der etwas weiter geben wollte und wir, die hundert Studenten. Zunächst war die Verwaltung nicht mal besonders froh über den Lehrbetrieb. Die Kolonie war noch im Aufbau und es gab viel zu tun. Wir haben uns darauf geeinigt die Vorlesungen auf den Vormittag zu beschränken und ab der Mittagspause beim Aufbau zu helfen. Robert konnte den Kran bedienen und ich habe bei der Kanalisation und dem Bodenaufbau in den Gewächshäuern geholfen.
Später haben wir weitere Container akquirieren können und sind einmal über die Straße umgezogen. Diesmal haben wir für ein Fundament und Anschlüsse an das Daten- und Versorgungsnetz gesorgt. Endlich Heizung, Toiletten und fließendes Wasser. Der Anschluss an das Archiv und die Zentralrechner war ein unglaublicher Fortschritt. Für einige Jahre hat alles gut funktioniert aber Sie wissen ja wie das ist in so einer Kolonie. Die Leute freuen sich so sehr, endlich angekommen zu sein, dass sie ganz viele Kinder zeugen. Sie gehören ja selbst zu dieser Generation. Irgendwann war klar, dass die Kapazitäten nicht mehr reichen würden. Also begannen wir, das Gebäude wie Sie es heute sehen können zu bauen. Dafür mussten wir leider die Labors und Werkstätten ausgliedern. Der letzte freie Platz dafür war hinter dem Sportplatz denn die Stadt war ja auch gewachsen. Zu dem Zeitpunkt war Beltane noch die einzige Stadt. Belenos konnte sich kaum Dorf nennen. Eine Ansammlung von Hütten rund um die Minen und Fabriken. Die meisten Leute sind damals noch täglich von Beltane aus hinüber gependelt.
Der Hof hier wäre zwar noch frei gewesen aber der Rosengarten wuchs hier schon und die kleine Freifläche wurde allgemein als zu wichtig empfunden. Die Zeit hat uns wohl Recht gegeben, es ist eine richtige kleine Oase geworden, ein Ort der Ruhe. Auf dem Dach wären wir nicht so gut abgeschirmt gewesen.“
Er sah sich um, ein Gesicht voller Erinnerungen mit Augen, die durch die Jahre zurück blicken konnten.
„Waren die ersten Jahre viel Arbeit? Was war das Schwierigste in dieser Zeit und was gibt es an schönen Erinnerung?“
„Das Schwierigste? Überleben natürlich! Wir haben fast jeden Tag sechzehn Stunden gearbeitet, immer mit Atemmaske. Die Saatkapseln hatten sich zwar gut verteilt und eine Basisflora hatte sich bilden können aber die Luft war noch viel zu dünn und drückend schwül. Der Sauerstoffgehalt lag bei unter zehn Prozent und das Kohlendioxid hat es noch wärmer gemacht. Selbst im Winter wollte es nicht wirklich kalt werden. Schnee kennen wir hier erst seit fünf Jahren. Für die Pflanzen war es teilweise ein Traum aber wir Menschen haben wirklich kämpfen müssen. Im ersten Jahr sind uns drei Leute erstickt, zwei davon weil ihre Schlafkabine undicht war. Wirklich tragische Unfälle. sie haben uns damals deutlich vor Augen gehalten, dass wir hier eigentlich nicht hin gehören. Diese Welt ist anders als die Erde. Auf der Erde ist die Menschheit entstanden, wir sind für ihre Umwelt geschaffen. Beltane ist ganz anders! Vor den Saatkapseln war es ein toter Fels mit erstaunlich viel flüssigem Wasser aber keine Umwelt, in der Menschen existieren können. Kein freier Sauerstoff, kein organisches Material, schroffe Böden. Die Atmosphäre passt sich langsam unseren Bedürfnissen an aber wir passen uns ebenso an. Beltanes Atmosphäre beinhaltet immer noch nur neunzehn Prozent Sauerstoff und trotzdem sind die Atemmasken für die Meisten Geschichte.“
„Sie meinen, jemand von der Erde würde hier ersticken?“
„Nein, das nicht. Es würde ihm vielleicht schwindlig werden und er könnte sich nicht so gut konzentrieren. Wir haben hier einfach gelernt damit um zu gehen aber gesund ist es auch für uns nicht. Dennoch, wir sind stärker und sehen Sie sich nur an, wie es meinen Rosen geht. Es ist ein Traum, dabei zusehen zu können.“
„Der Kampf ums Überleben ist also noch nicht ausgestanden, wenn ich Sie jetzt richtig verstehe. Wie ist es denn um Beltanes Ökosystem bestellt? Künstliche Systeme sind doch immer instabiler als natürliche. Und wieso gab es hier kein Leben?“
„Das… Wenn ich Sie unterbrechen darf, das stimmt nicht so ganz. Künstliche Systeme sind nur dann instabil, wenn sie zu einseitig sind. Natürliche Ökosysteme beziehen ihre Stabilität aus der Vielfalt. Die Saatkapseln, die für Beltane verwendet wurden waren längst nicht mehr nur mit Sporen für Moos und Farne sowie Samen für Gräser, Birken und Fichten bestückt. Das hat bereits bei früheren Kolonien zu Schwierigkeiten geführt. Unser Ökosystem ist von Beginn an auf eine große Artenvielfalt ausgelegt und mit den notwendigen Startern versehen, welche die hohen CO2 werte vertragen können. Einige der Arten hier sind damals nur für Beltane entwickelt worden. Außerdem sind etliche sehr anpassungsfähige Arten ausgesät worden um die evolutionären Entwicklungen nachvollziehen zu können. Für die Medizin wurde eine breite Auswahl an Heilkräutern und für die Pharmazie wichtigen Pflanzen beigefügt. Selbst einige Insekteneier waren in den Kapseln. Ein einmaliges Experiment, sie direkt dort beizufügen. Die meisten Arten sind aber erst mit dem Schiff selbst gekommen, gemeinsam mit den Vögeln.“
„Die Vögel sind ein gutes Thema. Angeblich gibt es auf jeder menschlichen Kolonie welche, selbst auf denen, ohne freien Himmel. Wenigstens Hühner sind noch auf den Ateroidengürteln vertreten. Wir haben frei fliegende Vögel aber man sieht sie so gut wie nie. Wovor verstecken sie sich? Auf Beltane haben sie keine Fressfeinde.“
„Das stimmt und sie verstecken sich auch nicht. Genau genommen sind sie da, man muss nur wissen wo man drauf achten soll. Die Vogelpopulation entwickelt sich tatsächlich sehr viel langsamer, als es erwartet wurde. Die Obstbäume tragen zwar sehr reichhaltig aber wir vermuten, dass der Sauerstoffmangel den Tieren eher zusetzt als uns. Zusätzlich ist die Atmosphäre dünner als auf der Erde. Dadurch steigt der zum Fliegen benötigte Energieaufwand weiter. Demnach haben die Vögel einfach nicht die Kraft um weite Strecken zu fliegen. Wenn die Wälder weiter wachsen wird sich das Problem hoffentlich erledigen. Hier im Rosengarten habe ich aber tatsächlich schon selbst Vögel gesehen.“
„Die Universität entwickelt sich, das Ökosystem entwickelt sich, die Kolonie wächst. Es scheint, dass die Menschheit ihre Stagnation überwunden hat. Aber wir haben einen sehr großen Schritt gewagt mit der Expansion und der Gründung der Allianz. Wie, würden sie sagen, geht es nun weiter?“
„Ich sehe zwei Möglichkeiten. Einmal hat sich die Menschheit auf einen Schlag gewaltig ausgedehnt. So etwas passiert bei jeder Zellteilung in der Biologie mit der Interphase. Auf diese Phase der Ausdehnung folgt dort immer eine Ruhephase in der die Zelle wächst und sich sortiert bevor sie sich erneut teilt. Die Anlagen der alten Systemmacht sind aber nach wie vor vorhanden. Wir könnten also diese Phase auch überspringen und weitere Kolonien gründen, wenn sich genügend Kolonisten finden. Das hängt von der Erde ab aber ich glaube, sie werden diesen Schritt nicht wagen. Es wäre unvernünftig übereilt zu handeln. Was aber wohl auf jeden Fall passieren wird ist, dass die zweiundvierzig Kolonien eines Tages groß genug sind, um jeder selbst Expeditionen zu neuen Welten zu starten. Ob unter der Fahne der Allianz oder einer anderen, die Menschheit wird weiter zu den Sternen streben.“