Schlagwort-Archive: Angst

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 141.

Überraschungshausarbeit

Drei Uhr nachts war nicht die beste Zeit, um am Schreibtisch zu sitzen, wenn man am nächsten Morgen um zehn Uhr in der Vorlesung sitzen wollte. Vor dem offenen Fenster zog eine angetrunkene Gruppe Studenten vorbei, auf dem Heimweg nach einer wilden Nacht so kurz vor der Prüfungsphase. Für Flo war das keine Option.

Abgesehen davon, dass er der Clubphase weitestgehend entwachsen war, und einfach keine Freude mehr daran finden konnte, aber auch an der Hausarbeit. Eine Woche hatte er noch Zeit, aber auch das hehre Ziel, frühzeitig abzugeben. Es wäre sicherlich leichter gewesen, wenn er die Abgabefrist gemeinsam mit dem Thema zu Semesterbeginn bekommen hätte, und nicht erst vor einer Woche per Mail. Natürlich hatte er sich mit den anderen Kursteilnehmern unterhalten und sie waren alle davon ausgegangen, dass der Abgabetermin wie üblich das Semesterende war. Jetzt war bei ihnen allen die Zeitplanung gründlich durcheinander geraten.

Tina hatte den Kurs direkt aus ihrem Plan gestrichen. Diesen Aufwand würde sie sich schenken, zumal sie gerade wichtigere Probleme hatte. Auch Mia liebäugelte eifrig mit dem Gedanken, zumal sich diese Frist bei ihr mit noch zwei weiteren Fristen überschnitt. Sie hatte ihr Thema für die Hausarbeit spontan und eigenmächtig um das Thema Zeitmanagement erweitert und eine scharfe Kritik an der Organisation des Professors eingebaut. Eventuell würde sie am Ende dran denken, diesen Teil wieder zu löschen. Ihrer Note zuliebe wenigstens.

Flo blätterte durch die Literatur, die sein Thema behandelte, und die er nicht verstand. Er konnte unmöglich alles in der Zeit lesen, was er für eine Hausarbeit nach seinen Maßstäben benötigte. Besonders deswegen, weil er keinen rechten Einstieg in das Thema finden konnte. Die groben Mechaniken waren kein Problem, aber im Master wäre doch sicherlich ein tiefer gehendes Verständnis des Themas vorausgesetzt, und damit konnte er nicht aufwarten. Andererseits würde eine dermaßen tief reichende Behandlung des Themas auch noch den Umfang der Arbeit um einige Größenordnungen sprengen. Er musste sich auf das Wesentliche beschränken, nur dann würde er mit großen Lücken im Thema leben müssen, was ihn ausgesprochen ärgerte.

Sein Blick wanderte zur Uhr. Wenn er jetzt noch Feierabend machte, dann konnte er noch vor halb vier im Bett sein, sich an Kristina ankuscheln und wäre hoffentlich tief genug eingeschlafen, dass er nicht mehr aufwachte, wenn sie sich um kurz nach sechs fertig machte, um zur Arbeit zu fahren. Was die Vorlesung betraf, würde es sowieso wenig Sinn ergeben, dort zu sitzen, wenn er nicht wach bleiben konnte. Aber das konnte er auch morgen früh noch feststellen. Erik würde sicherlich hingehen, auch wenn er auch erst um kurz nach zwei Uhr nachts seinen Laptop zugeklappt hatte.

Aus den ein bis zwei Tagen auf dem Sofa schlafen war inzwischen eine gute Woche geworden. Eine Woche, in der ein sehr leiser und fast unsichtbarer Mitbewohner für eine immer aufgeräumte und saubere Küche gesorgt hatte. Eine Woche, in der Mia zwar irgendwann bemerkt hatte, dass er nicht mehr bei ihr im Bett schlief, aber dann doch immer wieder zu beschäftigt gewesen war, um ihn darauf anzusprechen. Oder sie hatte es schlicht und einfach vergessen, wenn sie ihn dann einmal sah. Sie begrüßte ihn mit einem routinierten Kuss, kuschelte sich gewohnheitsmäßig an und tat, was sie halt so tat. Besorgte Blicke kamen dabei dann weder von Mia oder Erik, welcher alles nur noch stoisch über sich ergehen ließ, sondern von Tina und Flo.

„Und jetzt sag mir noch einmal, dass die zwei einfach nicht ohne einander auskommen können.“

Tina hatte sich in einer ruhigen Minute an Flo gerichtet, und dabei nicht glücklich gewirkt. Natürlich, sie war eifersüchtig auf Mia gewesen, aber das hier war auch keine Alternative. Vor allem, weil sie sich auf diese Weise auch noch schuldig fühlte. Immerhin war sie der Grund, weswegen die tiefen Klüfte in der Beziehung des Traumpaares so drastisch sichtbar wurden. Sie mochte es sich nicht ausgesucht haben, aber das änderte wenig an der Tatsache. Und dann fiel dieses Chaos auch noch in einen so dicht gepackten Zeitraum, wo man ohnehin kaum den Kopf zum Denken freibekommen konnte. Wo sollte das denn bloß alles enden?

Flo musste ihr im Stillen recht geben. Mia und Erik schienen für den Moment wirklich gut zurechtzukommen. Ohneeinander! Der oberflächliche Eindruck mochte täuschen und vielleicht würde diese kleine Auszeit ihnen beiden gut tun, helfen, sich wieder auf was Wesentliche zu besinnen und der Beziehung auf lange Sicht gut tun. Im Augenblick hatte er aber eher den Eindruck, sie hatten sich getrennt, und nur vergessen, das dem jeweils anderen auch mitzuteilen.

Aber ob Pause oder nicht, Erik war ein guter Freund, nur auf Dauer konnte er nicht sein Wohnzimmer in Beschlag nehmen. Darüber waren sich alle Beteiligten sicherlich im Klaren. Tina war bereits drauf und dran gewesen, ihm ihr WG-Zimmer anzubieten, hatte dann aber wieder Abstand davon genommen, als sie realisierte, dass sie dann ja selbst bei Mia einziehen müsste. Der Gedanke war ihr zu sonderbar vorgekommen. Mia hätte vermutlich von allen noch das kleinste Problem damit, eher im Gegenteil. Und das machte die Angelegenheit nicht weniger verrückt. Nicht nur Flo hatte längst aufgegeben, verstehen zu wollen, wer in dieser Dreiecksbeziehung wen nun wie wahrnahm.

Die Uhr zeigte viertel nach drei. Das Licht der Straßenlaternen war das Einzige, was das kleine Arbeitszimmer erhellte, der Monitor war dunkel, genau wie die Lampe. Nur die Perspektive war seltsam. Es kostete ihn einen Moment, zu realisieren, dass er, statt aufzustehen, eingeschlafen und vom Stihl gerutscht sein musste. Eigentlich könnte er auch gleich hier auf dem Teppich liegen bleiben. Das wäre mit Abstand die einfachste Möglichkeit, aber dann griff doch noch sein Egoismus und er schleifte sich ins Bett, nicht für die Bequemlichkeit, aber um näher bei Kristina zu sein. Wenn sie einmal nicht da sein sollte, würde er das unter Garantie sofort bemerken.

20170125_194940

Blockade

Ein wirrer Kopf voller Gedanken, Bildern, Geschichten und ein leerer Bildschirm und ein weißes Blatt Papier, die nur darauf warten, dass man sie füllt. Geschichten, die Formen und Konturen annehmen. Ecken, an denen man sie greifen kann, drehen und ordnen, bist sie nicht nur Sinn ergeben, sondern auch Eleganz und eine gewisse Ästhetik bekommen. Doch etwas ist da im Weg.

Ein Gefühl von Anspannung, Verzweiflung, Langeweile und gleichzeitig Stress und Blockade. Der Drang, etwas zu schreiben, etwas zu erschaffen. Ein Drang, der alles andere überdeckt, ablenkt und Aufmerksamkeit fordert. Draußen tobt das Leben. Leute begegnen sich, treffen sich, verlieben sich, genießen die Sonne, das Leben, die Gesellschaft. Drinnen warten immer noch geduldig das weiße Blatt Papier und der leere Bildschirm. Langsam wächst die Verzweiflung, Selbstkritik, Scham, Panik. Die Geschichten verlieren ihre Kontur, die Kanten beginnen auszufransen, wie Wolken bei steigendem Luftdruck.

Immer mehr Details fliegen davon. Je fester man versucht, an ihnen festzuhalten, so schneller sind sie weg. Wie die dunklen Punkte, welche auf den weißen Streifen flimmern, die eine schwarze Fläche in Karos unterteilen. Das Leben ist inzwischen von den Straßen und aus den Parks verschwunden. Vereinzelte Autos rauschen durch die Straßen, aber immer noch bemächtigt diese lähmende Unruhe mein Innerstes, umklammert diese Panik mein Herz.

Versagt, ich habe versagt. Verloren sind die Bilder, die Geschichten, die tanzenden Buchstaben. Verloren sind Geschichten über verlaufene Kinder, über wagemutige Helden, fremde Welten und Zeiten. Nie wieder wird das strahlende Lächeln der Amazone ihre Feinde zum Zittern und Erschaudern bringen. Zum letzten Mal stürzt der Pilot mit seinem Doppeldecker wild trudelnd aus den Wolken, um sich im letzten Moment wieder fangen zu können.

Niemals wird die feine Dame aus altem Adel wissen, wie es sein wird, ihren Stolz zu vergessen und gemeinsam mit den Eingeborenen an diesen fremden Küsten das Lager zu verlassen und im tiefsten und undurchdringbarsten Wald nach den Spuren vergangener Kulturen zu forschen. Niemals wird sie gezwungen sein, das Vertrauen in ihre eigenen Kräfte zu gewinnen und ihr Wissen über Kräuter und Heilpflanzen wird wertlos bleiben. Genau so, wie das Versprechen ihres Verlobten, ihr Herz immer in Ehren, und ihr ewige Treue zu halten. Er benötigt nicht einmal ihre Reise, um anderen Röcken nach zu jagen und es gibt nichts, was ihn vor wütenden Ehemännern und ihrem Rachedurst retten kann.

Zu Staub zerfallen die Träume und Geschichten. Wie dem klebrigen, pulverigen Staub, der unter den Stiefeln des einsamen Astronauten knirscht. Das Mutterschiff wurde beim Abkoppeln der Landefähre beschädigt. Hauch feine Risse in der Hülle, nicht sichtbar und dennoch groß genug für die Gasmoleküle. Es dauerte nur Sekunden, bis das Blut der Bordbesatzung zu kochen begann und bereits eine Minute später war er tot. Noch bevor die Landefähre auf dem Mond aufsetzen konnte, waren die beiden Leichen bis zum Kern durchgefroren. Und nachdem sein Kollege die Nerven verloren hatte, und beim Anblick der Erde, wie sie sich zaghaft über einen grauen Horizont erhob, den Helm abgenommen hatte, war von der einst so ruhmreichen Mission nur noch eine einsame, verlorene Seele übrig. Irgendwann würden ihm Wasser, Sauerstoff, Nahrung und Energie ausgehen. Vielleicht heute, vielleicht auch erst in einer Woche. Dann war auch diese Geschichte Vergangenheit.

Was von ihnen bleibt ist nur die Anspannung. Und leere Seiten.

banner

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 125.

Spaziergänge

Das war es gewesen, das Semester. Flo hatte seine letzte Hausarbeit abgegeben und die letzte Klausur geschrieben. Gut gelaufen war es nicht, eher im Gegenteil. Bei vielen Arbeiten wäre er einfach nur zufrieden, wenn sie bestanden waren. Nicht glücklich, aber immerhin zufrieden. So realistisch war er, um einzusehen, dass aus seinen Arbeiten einfach nicht viel herauszuholen war. Das, was ihn dabei am meisten störte, war, dass eine dieser Arbeiten sein Abschluss war.

Mia hatte ihre Bachelorarbeit bereits vor einem Semester eingereicht und war darüber beinahe verzweifelt. Dieses Semester hatten Erik und er dann nachgezogen, und während Erik sich gründlich Mühe gegeben hatte und ein umfangreiches Thema bearbeitet hatte, war es bei ihm selbst eine fast reine Literaturarbeit geworden. Also im Grunde nur eine Hausarbeit von vielen, in etwas ausführlicherer Form. Es war nicht gewesen, was er sich gewünscht hatte, aber es war verfügbar gewesen und für ihn einfach zu bewältigen. Der Weg des geringsten Widerstandes, auf den er nicht stolz war, aber es beendete für ihn ein Kapitel, was eh bereits viel zu lange andauerte.

Und was war nun? Es änderte sich im Grunde nichts. Gemeinsam mit Erik und Mia würde er auch weiterhin in die Vorlesungen gehen. Im letzten Semester hatte er neben den Bachelorkursen bereits einzelne Masterkurse besucht, auch wenn er teilweise nur als Gasthörer zugelassen war. Aber immerhin machte sich ein minimaler Fortschritt bemerkbar.

Er hatte mehr als zwei Jahre länger gebraucht als Mia oder Erik aber nun hatte er seinen ersten Abschluss. Aber sollte sich das echt so anfühlen? Wo blieb der Stolz, das erhabene Gefühl, die Erleichterung oder Befriedigung? Sollte sich das nicht anders anfühlen als eine gewöhnliche Hausarbeit? Wieso war da nur die übliche Frustration? Wieso war da nicht mehr, als dieses ausgelaugte, abgebrannte Gefühl?

Flo nutzte einen freien Tag, um die Umgebung seiner neuen Heimat etwas besser kennenzulernen. Mit lauter Musik auf den Ohren stiefelte er durch die Felder der Umgebung und hing seinen Gedanken nach. Wenn es nur um ihn selbst gegangen wäre, würde es ihn vielleicht nicht stören. Er würde seine Noten ableisten wie früher und das war es dann. Er hatte bereits viel Zeit an der Uni verbracht, bevor Mia und Erik ihn in ihre Lerngruppe integriert hatten und wenn er mit sich selbst ehrlich war, dann war er drauf und dran gewesen, die Uni komplett aufzugeben, als es so weit war. Aber dann war er besser geworden, hatte Motivation bekommen und durchgehalten. Zwischenzeitlich war er sogar ziemlich gut geworden und hatte Spaß an der Sache entwickelt.

Doch besonders das letzte Semester über hatte er bemerkt, wie seine Kräfte, und besonders die Geduld, schwanden. Sein Grund, durchzuhalten, war gewesen, den Abschluss fertig zu schreiben. Das war sein Ziel gewesen. Bis hier hin wollte er durchhalten, koste es, was es wolle. Dafür hatte er bereits zu viel Zeit darein investiert. Aber wieso saß er nun im Master? Was hatte er sich dabei gedacht? Woher sollte er die Nerven dafür noch auftreiben können?

Statt sich einzugestehen, dass er schlicht zu demotiviert und faul gewesen war, sich eine Alternative zu suchen, versuchte er es auf Kristina abzuwälzen. Für sie mühte er sich ab, einen besseren Abschluss zu erringen. Für sie wollte er die höhere Qualifikation, um ihr eher zu genügen. Und wer konnte wissen, was noch alles folgte? Irgendwann würden sie vielleicht eine Familie haben, die es zu versorgen galt. Mit Kristinas Job alleine würde das vermutlich schwer werden. Aber auch wenn es noch ein wenig bis dahin war, so langsam brauchte er wirklich dringend eine Richtung in seinem Leben. Durch den Bachelor hatte er es ohne nennenswerte Spezialisierung geschafft, aber damit war jetzt Schluss. Er brauchte ein festes Ziel! Und ganz viel Kraft, um das zu erreichen.

Mit dieser Erkenntnis fielen die letzten Sonnenstrahlen auf das zarte Grün der Äcker. Flo zog den Kragen von seiner Jacke hoch und fror trotzdem. Auch wenn der Frühling nun da war, sobald die Sonne verschwand, wurde es schnell empfindlich kalt. Wenn er sich jetzt auf den Heimweg machte, würde er immerhin noch gemeinsam mit seiner Freundin dort ankommen. Seine Idee, das Abendessen bis dahin fertig zu haben, kam erst jetzt wieder zurück. Er war zu sehr in seine Gedanken versunken gewesen und hatte den Eindruck, nichts damit gewonnen zu haben. Wenigstens hatte er die Töpfe schon auf dem Herd stehen und musste nur noch kochen. So vorausschauend war er noch gewesen.

Center of the Universe

Gutenachtgeschichten

Jeder Tag erreicht seinen Punkt, wo die Sonne längst die andere Seite der Erde bescheint und sich die Leute hier ins Bett begeben. Die einen sind so erschöpft, dass sie gleich einschlafen, die anderen zählen Schafe, lauschen angespannt ihrem Herzschlag oder dem Atem des Wesens neben einem oder sie öffnen ihren Geist und gehen auf Reisen.

Dann entstehen bunte Geschichten hinter den geschlossenen Augenlidern und Gehirne kommen erst so richtig in Schwung. Da finden sich Geschichten um den ersten Kuss von Beziehungen, die nie Realität werden, da fegt die Gischt über die Deckplanken von Segelschiffen vor exotischen Küsten, da sitzt ein Held über den höchsten Zinnen seiner Stadt und wacht über einen dicht gedrängten Ameisenhaufen von Menschen, die nichts von seiner Existenz wissen. Raumschiffe jagen über die bunten Himmel fremder Planeten voller Lebewesen, so fremd, dass man sie sich kaum vorstellen kann, oder durchkreuzen die ewige Schwärze des Universums auf der Suche nach ihren Missionszielen. Da werden Monumente gebaut und alternative Verläufe für Geschichten erdacht. Was wäre gewesen, wenn …

Musik entsteht und begleitet einen unscheinbaren Träumer in die Schlacht gegen seine größte Angst, episch und bildgewaltig, das selbst die Größen der Filmmusik voller Hochachtung innehalten. Da entstehen Meisterwerke der Literaturgeschichte, nur einen Federstreich, einen Tastendruck von der Unsterblichkeit entfernt. Auf den Schwingen von Adlern, Raben und Drachen fliegen Gedanken mit den Träumen um die Wette. Donnernde Explosionen konkurrieren mit leise geflüsterten Worten der Zuneigung. Ein Unterbewusstsein übernimmt das Steuer über das legendäre U-Boot, welches versunkene Kulturen in den tiefsten Meeren besucht. Der Traum übernimmt die Kontrolle, der Träumer ist eingeschlafen, ohne es zu merken, ohne es zu wollen, atmet die Luft des Basars von Samarkand, schwer von Gewürzen.

Und dann klingelt der Wecker. Eine heiße Dusche wärmt die steifen Glieder, noch ganz erschöpft vom nächtlichen Kampf gegen die höchsten Gipfel. Der dampfende Tee spült das Salz des Windes von den Lippen, die noch vor Kurzem auf die endlosen Salzseen in den Anden gesehen haben, und mit jedem Atemzug zerbricht das Schloss aus Träumen, bis alles im Schlund des Vergessens untergegangen ist, noch ehe man die Türe zur Wohnung hinter sich ins Schloss gezogen hat und auf dem Weg ins Büro ist. Für immer verloren sind all die brillanten Ideen, die Meisterwerke, die genialen Geschichten und mitreißenden Töne. Ertränkt in einem grauen Alltag, erdrosselt von einem unbarmherzigen Wecker, gescheitert an den Fingerkuppen, die nicht einmal eine Notiz retten konnten oder wollten.

Discovery Park

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 87

Entscheidungen

„So eine verdammte Scheiße! Das klappt alles vorne und hinten nicht! Wieso tu ich mir das eigentlich noch an?“
Mia war restlos frustriert, schmiss ihre Bücher durch den Raum und zerriss die Blätter. In einem Regen aus Konfetti und Tränen warf sie sich auf das Bett. Erik kam aus der Küche herüber, die Schürze um den Bauch gebunden und einen Pfannenwender in der Hand. Er neigte den Kopf von einer auf die andere Seite, lehnte kurz unschlüssig im Türrahmen, legte dann den fettigen Pfannenwender auf eine freie Stelle des Nachttischs und setzte sich zu Mia ins Bett. Er überlegte kurz, ob er sie in den Arm nehmen oder streicheln sollte, zog dann aber sicherheitshalber den Arm wieder zurück. Es war besser, zunächst einmal einen Überblick über die Situation zu bekommen.
„Was ist denn los? Läuft deine Arbeit so schlecht oder macht der Rechner Ärger?“
Sie grub sich tief in Decken und Kissen ein, brummte irgendetwas in die Matratze, was Erik nicht verstehen konnte, und wurde von bitterlichen Weinkrämpfen geschüttelt. Es dauerte eine Weile, bis er aus den Lauten schlau wurde, welche aus dem Kissen drangen.
„Alles ist los. Nichts funktioniert. Das Programm macht nur Mist, meine Quellen widersprechen sich gegenseitig, die Grafiken werden nicht sauber in das Dokument geladen. Alles ist scheiße! Ich lass es bleiben. Es hat doch alles keinen Sinn, ich werde das nie schaffen. Ich habe zu wenig Zeit, als dass ich es auch noch in dieser Zeit schaffen könnte. Und selbst wenn es klappt, dann kommt eine miese Note raus und ich kann das ganze Studium vergessen. Ich brauch doch eine gute Note.“
Erik wusste, was Mia unter guten und schlechten Noten verstand. Schlecht war das, was in seiner Liste die beste Note war. Gut war entsprechend die beste mögliche Note, welche ihr gerade gut genug war. Sein Bedürfnis, sie zu trösten, war schlagartig geschrumpft. Er fühlte sich schlecht, hatte miese Laune bekommen und war entmutigt. Wenn Mia sich schon Sorgen um ihre Jobchancen machte, was sollte dann erst auf einen eher schlechten Studenten wie ihn warten? Glanz und Glorie jedenfalls nicht, soviel war sicher. Dennoch, er konnte sie nicht einfach liegen lassen, auch wenn sie inzwischen so tief im Bett vergraben war, dass sie den Lattenrost von unten sehen musste.
„So schlimm kann es doch gar nicht sein. Gestern Abend warst du doch schon halb fertig und du hast die Arbeit vor gerade einmal einer Woche angemeldet. Du hast noch mehr als sechs Wochen. Kannst du es nicht irgendwie nutzen, dass die Autoren sich widersprechen?“
„Halb fertig mit den Nerven und einem großen Haufen Scheiße. Ich kann es genau so gut alles wieder löschen, es macht keinen Unterschied. Die Arbeit ist schlecht und daran kann ich auch nichts mehr ändern.“
Es folgte eine längere Pause in dem dumpfen Brummen aus der Matratze. Erik suchte fieberhaft nach einem Strohhalm, irgendetwas, womit er seine Freundin aufbauen konnte und sie wieder aus der Decke zu locken. Er hatte seine Hand tröstend auf den bebenden Haufen aus Decken und Kissen gelegt. Er hob und senkte sich inzwischen ruhiger, es half also wenigstens ein wenig. Tiefes Durchatmen und ein ausgedehnter Seufzer drang aus dem Kissen, dann erschien ein aufgequollenes, rotes Gesicht.
„Es hilft nichts. Ich lass es bleiben. Ich habe eine Stelle gefunden, an der ich auch ohne den Abschluss arbeiten kann. Die haben mir beim Vorstellungsgespräch über Skype schon zugesagt, ich muss nur noch unterschreiben.“
„Was für eine Stelle? Welches Vorstellungsgespräch? Wieso willst du denn jetzt plötzlich alles hinschmeißen? Du hast dir solche Mühe gegeben bis hierhin zu kommen und willst jetzt so kurz vor Schluss nicht wirklich hinschmeißen.“
„Doch, Erik. Ich lass es bleiben. Es ergibt keinen Sinn, hier weiter zu machen. Der Abschluss würde nichts wert sein.“
„Dein Abschluss ist besser als meiner, selbst wenn ich meine Punkte mit Flo zusammen schmeißen würde.“
„Ihr habt aber beide auch andere Qualifikationen. Da müsst ihr euch weniger Sorgen drum machen als ich.“
Mia war aufgestanden und druckte ein Dokument aus. Drei Seiten spuckte der Drucker aus, Erik erkannte das Logo darauf nicht, Mia unterschrieb auf der letzten. Er hatte ein seltsam mulmiges Gefühl bei der Sache. Mia aber war unbeirrbar.
„Was ist das überhaupt für eine Firma? Und wo sitzen die? Ich hab den Ortsnamen noch nie gehört.“
„Vor fünf Jahren waren die noch ein kleines StartUp, inzwischen sind sie relativ etabliert im Bau und der Wartung von Hausbooten. Die sitzen in Brandenburg, an den Seen dort.“
„Nicht gerade um die Ecke. Ich dachte eigentlich, wir wohnen hier jetzt eine Weile zusammen aber offenbar willst du nach dem Abschluss gerne wieder ausziehen? Hausboote also. Wenn ich mit einigem gerechnet habe, damit nicht.“
Mia kaute eine Weile verlegen auf ihrer Lippe und zeigte dann mit dem Finger nur zaghaft auf ein Datum im frisch unterschriebenen Vertrag. Ihre Augen waren nicht länger verzweifelt oder aufgequollen. Sie strahlten Zuversicht und Entschlossenheit aus. Dafür fühlte sich Erik, als wäre er geradewegs von einem Güterzug in voller Fahrt getroffen worden.
„Verstehst du nicht? Ich kann diesen Abschluss nicht machen. Ich fange in drei Wochen da oben an. Ich werd mir wohl da eine kleine Wohnung suchen.“
„Du hast Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit wir beide zusammen ziehen können und nach nicht einmal einem Monat lässt du mich alleine hier sitzen und verschwindest in den Osten? Du brichst dein Studium ab, welches du als Jahrgangsbeste abschließen würdest, selbst wenn deine Abschlussarbeit total daneben gehen würde…“

Laterne

Ihm fehlten einfach die Worte. Er hätte noch eine Frage auf dem Herzen gehabt. Aber was ist mit uns? Er traute sich nicht einmal, sie auszusprechen, wollte die Antwort nicht hören. Der Mund war ausgedorrt und trocken, ihm war schwindelig, die Augen tränten und die Nase biss ihm. Ein feiner Nebel waberte aus der Küche heran und er erinnerte sich. Die Pfanne hatte er noch vom Herd geschoben, ehe er rüber gekommen war. Der Reis aber stand seit sicher einer viertel Stunde unbeaufsichtigt auf dem Herd und brannte bei voller Hitze an.