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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 150.

Des Pudels Wurzel

Es war noch früh am Abend, doch die herbstliche Nacht war bereits hereingebrochen. Der Mond lies die Schatten der letzten Balkonpflanzen an der Wohnzimmerwand tanzen, unbemerkt von Flo oder Kristina, die einen Oxytocin-geladenen Abend auf der Couch verbrachten. Im silbernen Schimmer von Mond und Fernseher lag Flo in Kristinas Schoß gekuschelt, selig vor sich hin dösend und die Streicheleinheiten genießend. Es war für beide eine lange Woche gewesen und für den heutigen Freitagabend hatten sie nichts Besseres mehr vor. Es war noch nicht sehr lange her, dass Flo erschrocken festgestellt hatte, dass er seine früheren Partyexzesse nicht im geringsten vermisste.

Gerade, als ihnen beiden, selig aneinander gekuschelt, die Augen zufallen wollten, klingelte es an der Tür. Das weiche Licht des Mondes und der harte Widerschein des Fernsehers ließen auf der Uhr an der Wand die Zeiger glitzern. Nicht einmal halb 9 war es, also keine unmögliche Uhrzeit. Dennoch war Flo zerknirscht, als er sich vom Sofa rollen ließ. Um diese Zeit war Besuch, besonders unangekündigter, sehr ungewöhnlich. Aus Kristinas Freundeskreis gab es immer wieder spontane Besuche, aber aus der Uni tat kaum jemand die kurze Reise mit der Bahn, wenn es nicht geplant war.

Vor der Türe stand ein großer, aufwendig dekorierter Kuchen, gut verstaut in einem Tortenbutler in den Händen Mias. Mit einem schüchternen Lächeln winkte sie ihm zu.

Ich wollte mich nur mal für den ganzen Kuchen revanchieren, den du mir im Bachelor immer gebacken hast. Und außerdem musste ich das hier mal üben.“ Sie hielt ihm den Tortenbutler hin. „Bin demnächst auf einer Hochzeit eingeladen und habe leichtsinnigerweise versprochen, einen Kuchen mitzubringen. Ich habe ihn noch nicht probiert, aber so oder so, wollte ich dann die Meinung eines Experten haben. Da kommst ja nur du infrage. Und ich hatte irgendwie den Eindruck, es wäre ein guter Zeitpunkt für einen Überraschungsbesuch.

Noch immer überrascht bat Flo sie hinein. Seit sie mit Erik Schluss gemacht hatte, war Funkstille zwischen ihnen gewesen. Sie hatte sich nicht mehr gemeldet und auch auf seine Nachrichten nur noch eher sporadisch reagiert. Dennoch, er sah sie weiterhin als eine alte Freundin und natürlich war sie auch willkommen. Sein Angebot einer Tasse Tee konterte sie mit einer Flasche Wein im Rucksack.

Kurz darauf saßen sie zu dritt um den Küchentisch und kauten genüsslich auf dem Kuchen. Sie hatte es etwas gut mit dem Backpulver gemeint, aber ansonsten war er tatsächlich sehr gut geworden. Doch auch wenn sie ehrlich dankbar für Flos Verbesserungsvorschläge war, und sich um ein ungezwungenes Gespräch bemühte, sowohl Flo als auch Kristina spürten deutlich, dass sie nicht nur für Rezepte und Small Talk gekommen war. Bis zur Antwort auf dieses Rätsel sollte es beinahe die ganze Flasche Wein dauern.

„Hast du eigentlich noch einmal etwas von Erik gehört?“

Die Frage kam zögerlich, zaghaft, mit einem deutlich zärtlichen Unterton, und selbst wenn sie sich nach Kräften bemühte, ihre Augen konnten nicht lügen. Mia vermisste Erik, ehrlich und aus vollem Herzen. Dennoch, dahinter steckte doch mehr. Flo wurde misstrauisch.

„Natürlich. Letzte Woche waren wir noch abends weg, aber diese Woche habe ich ihn nicht mehr gesehen. Wieso fragst du?

Ach, nur so. Ich wollte nur sichergehen, dass es ihm gut geht. Ich höre ja überhaupt nichts mehr von ihm. Er hat auch einiges in der Wohnung gelassen, was eigentlich ihm gehört. Ich dachte, er meldet sich vielleicht noch deswegen.“

Erik hatte seine Sachen zu einem Zeitpunkt aus der Wohnung geholt, von dem er wusste, dass Mia nicht da war. Das wusste sie auch, und dennoch erwartete sie, dass er sich meldete? Irgendwo passte das sogar ins Bild. Und dennoch glitzerte die Sehnsucht in ihren Augen. Natürlich waren auch an ihr die zwei Jahre nicht spurlos vorbei gegangen. Für sie war Erik immer noch jemand ganz Besonderes, und es verletzte sie, dass er sie so einfach vergessen zu haben schien. Nur zugeben würde sie das natürlich niemals, dafür war ihr Stolz viel zu starrsinnig. Beinahe jedenfalls.

„Er hätte mir ja wenigstens seine neue Adresse sagen können.“

„Wieso hätte er das tun sollen? Du hast nicht nur einfach mit ihm Schluss gemacht, du hast ihn gleich ersetzt. War es nicht absehbar, dass er nicht der Typ für eine solche dreier Konstellation ist? Mich wundert ehrlich gesagt, wie lange er das durchgehalten hat. Im Augenblick würde ich ihm etwas Ruhe und Abstand lassen. Später kannst du dich immer noch bei ihm melden, aber es ist die Frage, ob er auch antworten will.“

„Wir waren doch eigentlich das perfekte Paar und jetzt will er nicht mehr mit mir reden. Ich habe es wirklich ziemlich verbockt, oder?“

Mia starrte mit leerem Blick aus dem Fenster und hing einer Erinnerung nach, von der Flo nicht sagen konnte, wie sie überhaupt darauf gekommen war. Das perfekte Paar war in seinen Augen dann doch etwas anders gewesen. Alle paar Monate hatte einer der beiden bei ihm gesessen und Rat benötigt. Und woher kamen jetzt diese Gedanken?

„Läuft es gerade mit Tina nicht so gut?“ schaltete sich Kristina in das Gespräch mit ein, und erntete dafür einen irritierten aber vielsagenden Blick von Mia.

„Doch, natürlich ist da alles super. Sie ist eine absolut tolle Frau! Ich kann nicht nachvollziehen, wie Erik sie jemals hat abweisen können. So süß, liebevoll, zärtlich und intelligent. Okay, gelegentlich ein kleiner Dickkopf, aber das bin ich ja auch. Nein, sie ist schon echt fantastisch.“

„… aber?“

„Wieso aber? Es gibt kein aber. Mit ihr ist es wirklich sehr schön. Sie bringt so viel Wärme mit in die Wohnung. Es ist schon echt kein Vergleich zu einem Mann.“

Für einen winzigen Augenblick umspielte ein spitzbübisches Lächeln Kristinas Mund, zu dezent, um in der weinseligen Stimmung weiter aufzufallen.

„Achso, dann ist das des Pudels Wurzel? Der Mann fehlt! Du hast Glück, wir haben noch Möhren im Kübel draußen. Wenn du möchtest, kannst du eine Dicke davon haben.“

Und während Erik prustend vom Stuhl fallend die weiße Wand mit einem feinen roten Weinschleier überzog, Mia sie mit entsetztem Blick und weit aufgerissenem Mund anstarrte, steckte sich das unschuldigste und engelsgleichste Mädchen der Welt eine Gabel voll Torte in den Mund und kaute genüsslich, als habe sie keine Ahnung, was sie gerade gesagt hatte.

Fremont Rakete

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 149.

Interessenten

„Hallo schöner Mann. Du hast dich so lange nicht gemeldet und ich dachte, wir könnten uns gemeinsam etwas die Zeit verschönern.“

Die Worte, der Absender und der frivol grinsende Smiley in dieser Chatnachricht sprachen eine Sprache, die Erik fast schon eine Spur zu deutlich war. Aber sie trugen auch etwas in sich, was in ihm ein fast schon vergessenes und wohliges Gefühl auslöste. Das Gefühl, begehrt und gewollt zu sein. So sehr er sich auch sträuben mochte und um Rationalität bemüht war, er musste sich eingestehen, dass es ihm gefiel und irgendwie auch gut tat. Außerdem war Marlene viel zu gut darin, ihm dieses Gefühl zu geben und dabei glaubhaft zu bleiben. So sehr er auch nach Anzeichen dafür suchte, dass sie nur ein Spiel spielte, er konnte nichts finden. Zeitweise hatte er sogar den Eindruck, sie könnte überhaupt nicht lügen, selbst wenn sie es versuchte. Stattdessen funkelte sie ihn mit ihren leuchtend grünen Augen an, und er hatte den Eindruck, durch sie direkt bis in ihre Seele blicken zu können. Und alles, was er sehen konnte, war, dass sie ihn wollte. Nicht einfach nur stumpf körperlich, das natürlich auch, aber viel mehr mit Haut, Haaren und Herz. Daran arbeitete sie mit einer Beharrlichkeit, die ihn fast um den Verstand brachte und beängstigte.

Und das alles war auch noch Flos schuld. Er war es gewesen, der vor drei Wochen die Mädels auf ihrem Junggesellinnenabschied angesprochen hatte und mit der Braut geflirtet hatte. Er war es gewesen, der die interessierten Blicke der Trauzeugin wahrgenommen hatte und Eriks Nummer gegen einen Schnaps eingetauscht hatte. Er war es gewesen, der die Gruppen zusammen gewürfelt hatte und ganz zufällig Erik neben Marlene geschoben hatte, wofür sie ihn unendlich dankbar angesehen hatte. Und beinahe hätte er auch seinen letzten Zug fahren lassen, da Erik nicht alleine bei den Mädels geblieben wäre. Am Ende des Abends war es nicht der Alkohol gewesen, der Erik fertiggemacht hatte, sondern nur seine Nerven.

Dennoch, er ließ es nicht einfach im Sande verlaufen, sondern blieb dabei und spielte mit. Er selbst war darüber vielleicht noch am meisten überrascht. Aber er antwortete auf ihre Nachrichten, beantwortete ihre Fragen, stellte seinerseits selbst welche und entdeckte so ein Interesse und eine gewisse Faszination für sie. Und das, obwohl er gerade erst eine Beziehung hinter sich hatte, die er als ernsthaft bezeichnen würde, und auch immer noch gelegentlich an Mia dachte.

Die Gefühle für sie waren aber leider inzwischen eher von Bitterkeit und mit einem Geschmack von Verrat durchzogen. Aber eines war ihm auch deutlich geworden. Die Zeit, die Mia mit Tina ohne ihn verbracht hatte, ohne ihm zu sagen, dass es vorbei war, zählte für ihn dennoch schon als Trennungsphase. Er hatte viel Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten und an den Gedanken zu gewöhnen. Nichts war plötzlich und auf einmal da gewesen, sondern von langer Hand her angekündigt. Der gemeinsame Alltag hatte bereits weit im Vorfeld so viel gefressen, hatte so vieles selbstverständlich werden lassen und so vieles auf dem Weg zurück gelassen. Kleine Worte der Zärtlichkeit, warme Blicke oder nur mal ein unerwarteter Kuss nebenher.

Und auf einmal waren da diese leuchtenden grünen Augen, welche direkt in sein Innerstes zu blicken schienen und nach eben diesen warmen Blicken oder Zärtlichkeiten suchten. Volle, offensichtlich wunderbar weiche Lippen, die um gemeinsame Zeiten baten, und seien es nur Minuten. Erik wusste nicht, wie lange sie alleine gewesen war, aber er merkte, sie würde einiges daran setzen, ihn von seinem Plan abzubringen, jetzt eine Weile alleine zu verbringen. Und wenn er ehrlich war, gefiel ihm der Gedanke auch.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 148.

Versagt

„Ich habe versagt.“

Diese Erkenntnis sickerte aus Flos Gehirn und troff den Rücken entlang wie kochendes Öl. Er wusste, dass er an seiner letzten Hausarbeit fast eine Woche an Zeit eingebüßt hatte, aber dass es so ernst war, sah er erst jetzt, beim Blick auf den Kalender. Er war bereits mindestens eine Woche weiter im Jahr, als er es in seinem Kopf geplant hatte und diese Woche würde sich bitterlich bemerkbar machen.

„Ich habe versagt. Ich kann das nicht realistisch schaffen.“

Hausarbeiten, Nachklausuren und eine Exkursion. Was konnte er davon streichen, ohne zu großen Schaden anzurichten? Er hatte gewusst, dass seine Planung ambitioniert gewesen war, aber er hatte sich unbedingt beweisen wollen, dass er dazu fähig war. Er wollte seine Defizite aufholen und in der Regelstudienzeit bleiben. Und jetzt das hier. Sein Körper reagierte mit einem kleinen Panikanfall. Herzrasen, Atemnot, kalter Schweiß, gelähmter Geist.

Das durfte nicht sein. Ihm würden Punkte fehlen. Er würde weitere Kurse belegen müssen. Er würde Zeit für seine Abschlussarbeiten verlieren und zurückfallen. Und auf einmal war alles wieder da, was er gehofft hatte, hinter sich zu haben. Die gleichen Gefühle wie vor etwas mehr als vier Jahren, als er in panischer Verzweiflung im Wohnungsflur gesessen hatte, unfähig sich koordiniert zu bewegen oder zu denken. Die Zeit, als er realisiert hatte, dass er sein altes Studium nicht beenden konnte und seine einzige Chance ein kompletter Neuanfang war. Die Momente, als sein gesamter Gedankenpalast ein lichterloh brennendes Holzboot zu sein schien, nachts auf einem Meer ohne sichtbare Küste. Würde er rechtzeitig abspringen können, oder würde es ihn mit in die Tiefe reißen?

Damals hatte er den Absprung geschafft. Er hatte den Neuanfang geschafft, als einer der ältesten bei Mia und Erik im Semester. Er hatte sich von seinem Rückschlag erholt, so hatte er geglaubt, und es war ihm überhaupt nicht schlimm vorgekommen. Er hatte sein Leben genossen und war zuversichtlich und entspannt gewesen. Wie genau hatte er das eigentlich gemacht? War ihm vielleicht einfach nur alles egal gewesen?

Jedenfalls war davon nicht viel übrig. Nicht jetzt und nicht hier. Stattdessen wünschte er sich entweder ein starkes Beruhigungsmittel, was vermutlich nicht legal frei erhältlich war, oder aber wenigstens eine Flasche Rum. Der Rum schied schon allein deswegen aus, weil er dann nicht mehr in der Lage sein würde, den morgigen Tag intensiv für die nächsten längst überfälligen Arbeitsschritte zu nutzen. Einen solchen Ausfall konnte er sich nicht wieder leisten. Aber er kannte sich gut genug. Der Ausfall war da und er würde nicht so einfach gehen. Die Zeiten, wo es ihm egal war, ob er ein oder zwei Semester länger brauchte, waren endgültig vorbei. Er durfte nicht mehr versagen, und doch …

Kristina würde ihn heute Abend auf dem Sofa sitzend vorfinden, die Kuscheldecke über den Kopf gezogen, manisch vor sich hin glotzend, mit blau unterlaufenen Augen ohne Ausdruck, dafür aber einem zusätzlichen Semester vor ihnen. Er traute sich kaum, die weitere Planung anzugehen. Zu groß war die Panik vor einem weiteren Schock oder Schlag ins Gesicht. So würde er vorerst nicht erfahren, dass er eigentlich nicht so weit zurück hing, wie er es befürchtete.

Schwarzes Moor

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 147.

Grüne Daumen

„Schatz, ich habe eine Idee für nächstes Jahr.“

Kristina verbrachte den Abend, wie sie es am liebsten tat. Den Kopf in Flos Schoß gelegt, mit einem Buch in der Hand und dem Blick die meiste Zeit über auf einen Punkt irgendwo im Nirgendwo über dem Sofa auf dem sie lag gerichtet. Flo setzte die Tasse mit frischem Kräutertee ab und kehrte aus seiner Gedankenwelt zurück. Der Fernseher lief schon lange nur noch fürs Hintergrundrauschen. In seinem Kopf tanzte seine Hausarbeit gerade einen wilden Tango und organisierte sie laufend neu. Entsprechend hatte er keine Ahnung, was seine Traumfrau meinen konnte, als er zu ihr hinab blickte.

„Wir holen uns einen Garten. Was hältst du davon?“

Was sollte er davon halten? Sie hatten doch bereits die Blumentöpfe auf dem Balkon? Wie sollte das denn funktionieren?

„Und wo stellen wir den hin? Auf den Balkon? Wie stellst du dir das denn vor und wer soll den tragen?“

„Wovon redest du denn? Wir holen doch den Garten nicht auf den Balkon. Aber einen kleinen Schrebergarten oder irgendwo hier eine kleine Parzelle. Dann haben wir vielleicht ein klein wenig mehr Platz auf dem Balkon und eine Möglichkeit, etwas Leckeres anzupflanzen. Tomaten zum Beispiel oder vielleicht auch Kürbisse. Klingt das nicht gut?“

„Kürbisse … hmm, was wäre mit Kartoffeln? Oder Möhren? Tomaten haben wir doch bereits auf dem Balkon und es klappt gut.“

Er sah zum Fenster hinaus auf den Balkon, der noch im letzten Dämmerlicht lag. Tomaten drängten sich wie ein Wald an der Seite, Erdbeeren und einige Küchenkräuter besiedelten die Blumenkästen. Er hatte sich nie besonders für Pflanzen interessiert. Das zählte zu den Seiten, die Kristina an ihm heraus poliert hatte. Es würde ihn ja stören, dass sie ihn formen konnte wie feuchten Ton, wenn er nicht das Gefühl hätte, dass sie immer seine besten Seiten hervor holte. Ganz abgesehen davon bemerkte er es immer erst, wenn es bereits viel zu spät war. Inzwischen trank er sogar weniger Alkohol, auch wenn ihm das niemals als etwas Negatives aufgefallen war. Sie mussten nicht groß diskutieren, er war bereits mit dem Kürbis überzeugt gewesen. Nur anmerken lassen wollte er es sich nicht.

„Und wir könnten auch Knoblauch oder Zwiebeln ausprobieren. Das wollte ich schon immer einmal, wegen der schönen Blüten. Genau so wie Rosen. Oder Bohnen? Es gibt so vieles, was ich mal ausprobieren möchte. Deine Kartoffeln und Möhren sollen sich übrigens auch noch gut vertragen, und wenn ich mir ansehe, wie gut du dich um die Pflanzen auf dem Balkon kümmerst, muss das doch was werden.“

Kristina schwärmte noch eine ganze Weile vor sich hin und versuchte ihn zu überzeugen, dass ein kleiner Garten genau das war, was ihnen noch fehlte. Es war bedauerlich, dass hinterm Haus nur ein gepflasterter Hof war. Das, was man da am besten anpflanzen konnte, waren Moos und Löwenzahn. Und selbst wenn ein Kohl hier überleben würde, mit dem Aroma vom Teer des alten Asphalts würde er sicherlich nicht genießbar sein können. Aber wer würde sich um den Garten kümmern? Kristina war es gewesen, die auf dem Balkon angefangen hatte, Pflanzen aufzustellen. Es hatte nicht lange gedauert, bis Flo sich darum kümmern musste, weil sie nicht dazu kam. Würde das bei einem Garten denn so viel anders laufen? Und würde ihn das überhaupt stören? Immerhin musste er zugeben, dass es ihm Spaß machte. Und dann auch noch eigene Kürbisse … Der nächste Herbst würde schmackhaft werden können.

Schlossgarten Brühl

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 146.

Der innere Schweinehund

„Erik, ich weiß, dass du nicht viel brauchst, aber du kannst nicht wochenlang im Bett liegen bleiben. Selbst deine Pflanze nimmt dir das schon übel und du musst wirklich einmal gründlich lüften.“

Flo stand gegen das spartanisch eingeräumte Regal gelehnt in einer kleinen Wohnung, die absolut typisch für Erik sein konnte. Wo nichts herumstand, konnte auch nichts einstauben. Aber hier hatte er es vielleicht ein wenig auf die Spitze getrieben. Erik hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die meisten Kisten oder Koffer auszupacken. Er hatte sie ungeöffnet im Keller verschwinden lassen und hatte nur das Nötigste mit hinauf in die kleine Einzimmerwohnung genommen. Das Bett war ein durchgelegenes Schlafsofa, welches er vom Vormieter übernommen hatte, genau so wie die meisten Möbel.

Die wenigen Habseligkeiten, die er ausgepackt hatte, wirkten merkwürdig deplatziert und verstreut im Raum. Die einsame Pflanze auf dem Fensterbrett hatte das Stadium des Blätter Abwerfens übersprungen und war gleich so kross knusprig getrocknet. Als könne er jeden Moment wieder blühen, stand der mumifizierte Rest dort. Und wenn Flo Erik so ansah, war der Unterschied nicht zu groß.

Die ganze Woche schon hatten Flo und Kristina Vorwände gesucht, Erik aus dem Haus zu locken und zu Unternehmungen einzuladen. Vergeblich. Wenn überhaupt, dann war es zu bewerkstelligen, ihn aus dem Bett zu bekommen, um die Türe zu öffnen. Die Ernährung bestand aus Fertiggerichten, Nudeln oder Reis mit Ketchup oder irgendetwas, was sich gerade auftreiben ließ. Nichts war übrig geblieben, von den kulinarischen Glanzlichtern, die er so gerne gekocht hatte. Denn das war schließlich für andere gewesen und nicht nur für ihn selbst. Bisher war es nicht so deutlich aufgefallen, aber jetzt konnte er es nicht mehr verstecken. Was er tat, das tat er für andere. Sich selbst stellte er immer hinten an. Nur jetzt war da niemand mehr, für den er wirklich etwas tun konnte. Flo sah das anders und war verhältnismäßig beleidigt.

„Bring dich jetzt mal in Ordnung und dann gehen wir raus. Mit diesem Theater ist wenigstens für heute mal Schluss!“

Vielleicht konnte er mit etwas gut gemeinter Strenge und deutlichen Worten mehr Effekt erzielen. Auch wenn gut gemeint oft das Gegenteil von gut war, er musste es jetzt einfach versuchen. Ein schlaffer Erik wühlte sich unkoordiniert aus den Laken, ließ sich wie ein Walross von der Bettkante fallen, bis er schließlich doch danebenstand. Flo hatte immer daran geglaubt, dass Sprichwörter irgendwo auch einen Bezug zur Realität hatten und sich nur im Laufe der Zeit etwas verselbstständigt hatten. Hier aber stand die Personifikation des Sprichwortes vom nassen Sack. Schwarz unterlaufene Augen sahen ihn müde und verquollen an.

„Sie hat mich verlassen, wollte es noch mir in die Schuhe schieben und fängt gleichzeitig mit der Frau etwas an, die sich eigentlich an mich ran gemacht hat und die ich ihr zuliebe abgewiesen habe. Hast du eine Ahnung, wie verarscht man sich dabei fühlt?“

„Nein, das habe ich nicht. Aber es ist auch keine Lösung, sich hier einzugraben und zu verschimmeln. Wir gehen raus und mal sehen, mit etwas Glück läuft uns ja sogar jemand tolles für dich über den Weg.“

„Du hast es ja sehr eilig. Jemanden wie Mia finde ich ohnehin nicht noch einmal.“

„Genau das ist der Plan. Diesmal soll es jemand sein, die dich auch will und nicht nur der Bequemlichkeit halber behält. Seit Monaten sehe ich dich laufend zweifeln und jetzt hat sie den Schritt gemacht, den du dich nicht getraut hast.“

„Am Ende soll ich ihr auch noch dankbar dafür sein? Flo, du bist verrückt.“

„Damit hast du absolut recht. Was meinst du, wieso Kristina noch bei mir ist? Ernsthaft, ich habe doch ansonsten nichts anzubieten. Und jetzt genug davon. Ich hab Durst und seit über einer Woche kein Bier mehr getrunken. Kristina versucht im Moment etwas zu reduzieren.“

Erik musste einsehen, dass Widerspruch zwecklos war, und er hasste es. Er zwang sich unter die Dusche und in die Klamotten, die am wenigsten schmutzig und unansehnlich waren. Wenig später saßen sie bei den Klängen keltischer Volksmusik in der Bar, jeder ein Bier vor sich, und so sehr Erik sich auch dagegen sträubte, es ging ihm mit jedem Schluck und jeder Minute besser. Er genoss sogar die Anwesenheit anderer Menschen, auch wenn ihn das Paar leuchtend grüner Augen am Tisch des Junggesellinnenabschieds, welches ihn unverhohlen anfunkelte, etwas irritierte.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 145.

Mia und Tina

„Was ist denn hier passiert?“

Mia war regelrecht schockiert, als sie sich in ihrer Wohnung umsah. Es war nicht sehr offensichtlich, eher ein Gefühl, dass etwas anders war, als sie zur Tür hinein gekommen war, aber etwas war los. Das Wohnzimmer und das Schlafzimmer wirkten beide deutlich aufgeräumter, als sie es vom Morgen in Erinnerung hatte. Es war heller, offener und fühlte sich leichter an. Die Räume und der Flur wirkten größer und weitläufiger. Das konnte nur eines bedeuten: es war aufgeräumt worden. Und das wiederum konnte auch nur eines bedeuten: Erik war wieder da!

Freudig lächelnd drehte Mia sich um und hüpfte in die Küche. Wenn Erik da war, dann war es nicht nur aufgeräumter, es gab auch immer etwas Leckeres zu essen. Bis zum Abendessen konnte es also nicht mehr lange hin sein. Wie wäre es zum Beispiel mit Rotkohl, Bratwürstchen und Kartoffeln? Das war sogar eines der wenigen Gerichte, die sie selbst kochen konnte. Es war ihr nur meistens zu viel Arbeit und zum Spülen war sie so oder so zu faul. Der Duft von würzigem Kohl und den herzhaften Würstchen hing ihr bereits in der Nase. Es fehlte nicht mehr viel, und sie hätte die Töpfe und Pfannen klappern hören können.

Umso ernüchternder war es, dass sie weder dampfendes Abendessen noch Erik in der Küche vorfand. Stattdessen traf sie hier die Erkenntnis, wieso die Wohnung so aufgeräumt und lichtdurchflutet wirkte. Die Pfannen konnten nicht klappern, denn sie waren nicht da. Und das war bei Weitem nicht das Einzige. Geschirr, Besteck, Gewürze, Vorräte, die Mikrowelle, Wasserkocher und noch etliches mehr waren nicht mehr da. Weg. Verschwunden! Was war hier los?

Das Klappern der Wohnungstür unterbrach ihren Gedanken. Tina kam in die Küche, die Stirn in Grübelfalten gelegt, verträumt auf einen Punkt, irgendwo im Nichts blickend. Mia holte sie zurück, indem sie ihr einen Kuss auf die Lippen drückte und dann verdutzt auf den Schlüssel in Tinas Hand sah. Den Schlüsselanhänger hatte Mia vor einem Jahr aus einem Stück Holz geschnitzt, welches sie am Fluss gefunden hatte. Erik hatte es damals als abstrakte Kunst bezeichnet und an seinen Schlüsselbund gehängt. Er war jemand, der gewisse Dinge lieber heimlich liebte, statt überschwänglich zu loben.

„Ich habe heute Flo getroffen,“ eröffnete Tina das Gespräch. „Wir waren gemeinsam in der Mensa und da hat er mir Eriks Schlüssel gegeben. Erik hat ihm wohl gesagt, ich würde ihn besser brauchen können als er, also soll ich ihn jetzt haben.“

Mia hatte in den ruhigen Minuten der letzten Tage und Wochen immer wieder ein schlechtes Gewissen gehabt. Erik hatte ein paar Male das Gespräch mit ihr gesucht, aber immer sehr schlechte Zeitpunkte abgepasst. Sie hatte ihn jedes Mal vertröstet und versprochen, drauf zurückzukommen und sich gemeldet, aber dann die Zeit nicht mehr gefunden. Gut, wenn sie ehrlich war, dann hatte sie es auch ab und an einfach vergessen, oder es erschien ihr unpassend, ihn anzurufen, während sie gerade mit Tina im Arm auf dem Sofa saß oder im Bett lag. Jetzt war ihre Wohnung leer geräumt und Tina hatte seinen Schlüssel. War Erik wirklich so weit gegangen, aus ihrer gemeinsamen Wohnung auszuziehen, ohne ihr vorher etwas davon zu sagen? Tina suchte ihren Blick mit einem sehr seltsamen Ausdruck in den Augen. Ihre Worte waren unsicher, als würde sie sich absolut unwohl in ihrer eigenen Haut fühlen und am liebsten ganz weit weg laufen.

„Mia, bin ich hier an seiner Stelle eingezogen? Ist eure Beziehung jetzt wegen mir kaputt gegangen?“

„Natürlich bist du nicht an seiner Stelle eingezogen. Du bist viel zu toll, um einfach nur der Ersatz für jemanden zu sein! Und du kannst auch nichts dafür, dass er jetzt ausgezogen ist. Da war bereits vorher ganz anderes im Argen. Wir haben schon immer Phasen gehabt, wo es mal nicht so glatt lief. Also mach du dir da keine Sorgen.“

Aber natürlich machte Tina sich wohl sorgen und sie sich selbst auch. Wie konnte er sie einfach so verlassen? Ohne Vorwarnung, ohne ein weiteres Wort? Wieso hatte er mit ihr Schluss gemacht? Überhaupt realisierte sie bei diesem Gedanken zum ersten Mal, dass sie offenbar getrennt waren. Mia und Erik, das war Geschichte. Jetzt gab es nur noch Erik oder nur noch Mia. Das konnte doch unmöglich sein! Das hier war immer noch ihre gemeinsame Wohnung, in der sie ihre gemeinsame kleine Familie hatten gründen wollen, mit Katze und später einmal Kindern.

„Nur wieso hat er einfach Schluss gemacht?“ Sie murmelte die Worte nur in ihren nicht vorhandenen Bart, und aus dem dünnen Klang ihrer Stimme sprachen Unverständnis und Verwirrung. Sie hatte es einfach nur in den Raum hinein gesprochen, ohne mit einer Antwort zu rechnen. Umso unerwarteter war es, als tatsächlich eine kam.

„Also Flo meinte, dass Erik wohl nicht einmal Schluss gemacht hat. Erik sieht es wohl so, dass er noch versucht hat, mit dir zu reden, und es irgendwie zu retten, aber du hättest ihn verlassen und wohl nur vergessen, es ihm auch zu sagen.“

Das Schlimmste an Tinas Worten war vermutlich, dass ihr absolut nichts einfallen wollte, womit sie diese Aussage widerlegen konnte. Es war weder Tina noch Erik gewesen, es war nur sie selbst gewesen. Sie war so überzeugt gewesen, dass er wieder zurückkommen würde. Jetzt stand sie in einer halb leer geräumten Wohnung, sah in die leuchtenden Augen dieser kleinen zähen Frau vor ihr, und wusste, dass sie wenigstens nicht alleine war.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 144.

Neue Bleibe

„Ich schäme mich ja etwas, danach zu fragen, aber Kristina, kannst du mir etwas Zeit und dein Auto leihen?“

Flo hatte sich schon gefragt, was an diesem Tag besonders war. Es musste offensichtlich etwas los sein, denn Erik hatte sich mit dem Abendessen nicht nur besondere Mühe gegeben, er hatte ein regelrechtes Festmahl geschaffen. Ein herrlich duftender Auflauf mit buntem Salat und zum Nachtisch Pudding. Zu aufwendig und viel zu gut, um es einfach so zu machen. Kristina sah Erik nur fragend an. Der Art nach zu urteilen, wie er gefragt hatte, musste er geplant haben das Auto auf einen kleinen Urlaub zu entführen. Sie nickte unbestimmt und sah zu, wie sich Eriks Haltung entspannte. Nach kurzem Zögern lieferte er die Erklärung ab.

„Es sollte nicht zu lange dauern. Ich habe eine neue Bleibe gefunden. Eine kleine ein Zimmer Wohnung zwischen Uni und Altstadt. Es wäre schön, wenn ich das Auto leihen könnte, um meine Sachen dort hinzubringen. Ich möchte nicht öfter als nötig durch Mias Wohnung laufen. Mit dem Auto wäre das eine Fahrt, mit dem Bus ein paar mehr.“

„Mias Wohnung? Bist du nun also wirklich ausgezogen? Wollte sie sich nicht noch melden?“

„Ja, sie wollte sich vor zwei Wochen gemeldet haben, aber ich schätze, andere Dinge waren wichtiger. Wenn von ihr nichts kommt, dann kann ich auch nichts machen. Eines steht jedenfalls fest, ich blockiere euer Sofa schon viel zu lange. Morgen schaffe ich mir eine Luftmatratze und einen Schlafsack hinüber. Dann kann wenigstens bei euch endlich wieder etwas Normalität einziehen. Es ist höchste Zeit dafür.“

Flo und Kristina sahen einander stumm an. Sie hatten sich darüber unterhalten und waren zu dem Schluss gekommen, dass die Situation zwar merkwürdig aber keine Belastung war. Sie wollten Erik gerne helfen. Dass er jetzt selbst Schritte gegangen war, kam in dieser Form aber überraschend. Und auch wenn Flo es sich nicht eingestehen wollte, hätte er vielleicht sogar bereits seit einer ganzen Weile ahnen können, dass sein Traumpaar vor einigen dicken Problemen gestanden hatte. Tina war noch das Kleinere davon gewesen.

Wie sich die Zeit doch gewandelt hatte. Erst waren sie das perfekte Paar gewesen, vielleicht nicht immer ganz unkompliziert aber sie hatten es auch nie ohneeinander ausgehalten. Und als Tina versucht hatte, einen Keil zwischen sie zu treiben um mit Erik durchzubrennen, waren sie dennoch ein Herz und eine Seele gewesen. Und auf einmal war es nicht mehr Tina, die mit Erik durchgebrannt wäre, sondern Mia, die mit Tina das Bett teilte. Sie hatte sich von Erik getrennt und war so beschäftigt gewesen, dass sie es ihm nicht einmal mehr gesagt hatte. So etwas musste doch einfach wehtun.

Was allerdings niemand der Anwesenden wissen konnte, war, dass Mia zwar glaubte, alles im Griff zu haben, aber ihr Herz mit dieser Entscheidung in dieser Form nicht einverstanden war. Es wusste, was es wollte, und war keinen Kompromiss gewohnt.

Market Theater

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 142.

Das Klischee klopft an

Auch wenn die Bibliothek der Uni recht gut ausgestattet war, stieß auch dieses Sortiment einmal an seine Grenzen. Und genau diese Grenzen hatte Flo erreicht, indem er eine Vorlesung belegt hatte, die ein Buch benötigte, was in der Bibliothek nicht verfügbar war. Es blieb nur die Möglichkeit, es zu kaufen, und das glücklicherweise zu einem recht niedrigen Preis. Und um den lokalen Markt etwas zu unterstützen, entschloss er sich, von seiner gewohnten Route abzuweichen und das Buch im Buchhandel an der alten Uni zu besorgen.

Offenbar stand er allerdings vor dem falschen Regal, denn nichts, was er hier sah, war ungefähr das, was er suchte. Ähnliche Titel und andere Ausgaben des Buches, ungünstigerweise auch noch zum wenigstens fünffachen Preis. Das war es ihm beim besten Willen nicht wert. Aus dem Augenwinkel sah er einen unscheinbaren Stapel, der genau nach dem aussah, was er eventuell suchen könnte. Doch dann betrat das Klischee den Laden und er hielt sich lieber mit offenen Ohren im Hintergrund.

Die alte Uni war die Bastion der Paragrafenritter und Rechtsverdreher, der Hauptsitz der Juristen. Regelmäßig fand man einzelne Exemplare von ihnen auch auf dem Campus und an der Zentralbibliothek, die Meisten aber blieben hier versammelt, in ihrem ganz eigenen Mikrokosmos. Vielleicht würde dieses Exemplar hier sogar in der Masse untergehen, in Flos Wahrnehmung aber stach er wie ein bunter Hund heraus. Segelschuhe, Stoffhosen mit Bügelfalte, Poloshirt mit aufgestelltem Kragen, der perfekte Rahmen für die blonde Mähne. Und als er den Mund aufmachte, klangen seine Worte derart gestelzt, dass Flo sich tatsächlich zusammennehmen musste.

„Guten Abend. Ich würde gerne meine letzten Nachlieferungen bezahlen.“

Soviel hatte Flo bereits mitbekommen. Spätestens alle halbe Jahre gab es eine neue Ausgabe der Gesetzestexte und damit einhergehend eine Nachlieferung über die veränderten Passagen zum selbst auswechseln. Über ein praktisches Abomodell konnte man so automatisch die Nachlieferungen beziehen und immer die aktuellen Gesetze zur Hand haben. Er hätte allerdings nicht erwartet, dass man nachträglich in den Buchhandel gehen konnte, um vor Ort zu bezahlen. Doch hier stand der feine Herr und wollte die Rechnung begleichen. Nur, dass er keine dabei hatte. War das nicht im Register irgendwo vermerkt?

Natürlich war alles im Register vermerkt. Es brauchte nur einen Namen, um daran zu kommen. Und dieser Name passte so gut zum Auftreten und dem Studiengang, dass sich vermutlich das Klischee höchstselbst schämte.

„Von Schönwald, Maximilian.“

Natürlich reichte ein einfacher Max nicht aus, es musste die lange Version sein. Ob er sich auch mit diesem Namen von seinen Freunden ansprechen ließ? Flo konnte es sich fast vorstellen. Und dann dazu auch noch dieser erschrockene Ausruf, als er erfuhr, dass er noch ganze vier Nachlieferungen offen hatte. Der Preis dazu war für das bisschen Altpapier geradezu unverschämt, doch Maximilian von Schönwald zückte die Karte, mit der er das schon immer erledigt hatte, ohne sich von seinem entspannten Lächeln abbringen zu lassen. Wenn Flo es sich recht überlegte, dann konnte man dieses entspannte Lächeln auch als überheblich interpretieren. Dafür bräuchte es vielleicht etwas Fantasie, aber es würde noch besser ins Klischee passen. Ein solcher Overkill wäre allerdings einfach zu viel des Guten.

Der Stapel, den er noch aus dem Augenwinkel gesehen hatte, beinhaltete genau das Buch, nach dem er gesucht hatte. Und das auch noch in allen erdenklichen Abwandlungen und Ausgaben. Jetzt, wo der beste Teil der Sondervorstellung des werten Herrn von Schönwald aufgeführt worden war, brauchte er sich auch nicht mehr zurückzuhalten. Er griff das Objekt seiner Begierde und löste Maximilian von Schönwald an der Kasse ab.

Mit einem verhaltenen Grinsen im Gesicht bezahlte Flo das Buch, wegen dem er gekommen war, als das Kontrastprogramm den Laden betrat. Ein verschlafenes Mädchen in zerknittertem Jogginganzug und dicken Gesetzestexten unterm Arm schlurfte herein. Weswegen genau sie kam, hörte Flo schon nicht mehr. Er war bereits wieder auf dem Heimweg. So überspitzt und karikierend Klischees auch immer waren, sie hatten immer auch einen wahren Kern irgendwo, ähnlich wie Fabeln. Allerdings war er selten auf ein Exemplar gestoßen, wo es dermaßen ausgeprägt war. Das Erlebnis faszinierte ihn zutiefst.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 140.

Erik zieht aus

„Hast du bemerkt, dass Erik mit Mia nicht mehr besonders glücklich ist? Selbst wenn es drei Jahre gehalten hat, ich würde gerade auf kein Viertes wetten.“

Das hatte Tina noch vor etwas mehr als zwei Wochen zu Flo gesagt, und dieser hatte es nicht besonders ernst genommen. Bei Mia und Erik ging es immer auf und ab. Mal stritten sie, dann vertrugen sie sich wieder. Sie hassten und liebten sich und konnten doch unmöglich ohne einander. Und regelmäßig kam es vor, dass einer von beiden bei Flo saß und sich hemmungslos über den anderen aufregte. Aber das hier war dann doch etwas Anderes, etwas Neues.

„Kann ich vielleicht ein zwei Nächte bei euch unterkommen? Ich brauche dringend etwas Abstand.“

Erik war zerknittert, genau, wie seine Kleidung. Tiefe Augenringe und ein bei ihm sehr ungewohnter Bartansatz zierten ein ausgemergeltes und eingefallenes Gesicht mit tiefen Falten. Flo konnte sich sogar denken, woran es lag. Tina war vor zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden und bei Mia eingezogen. Mehr oder weniger heimlich war es abgelaufen und ihre Mitbewohnerinnen wussten offiziell nicht, wo sie steckte. Nur für den Fall, dass ihre Familie sich wieder melden würde. Die Ereignisse der letzten Woche hatten das Verhältnis zwischen ihnen deutlich belastet.

Zwei Tage hatte es gedauert, bis ihre Eltern sich die Zeit genommen hatten, sie im Krankenhaus zu besuchen, und es war kein schönes Ereignis gewesen. Voller Vorwürfe und böser Worte, frei von jeder Empathie und Mitgefühl. Waren sie anfangs noch erschüttert gewesen, dass ihre Tochter im Krankenhaus lag, schlug dieses Gefühl in Wut um, als sie von dem Grund erfuhren.

„Ein Kind? Woher um alles in der Welt bekommst du ein Kind? Wie konnte denn so etwas passieren? Wir schicken dich an die Uni, damit du etwas lernst, nicht, damit du dich prostituierst. Kind, wieso machst du uns solch eine Schande? Was sollen denn die Leute über unser Haus denken? Auf diese Weise können wir die ganze Affäre wenigstens unter den Tisch kehren.“

In diesem Stil war der ganze Besuch abgelaufen, bis Mia drauf und dran gewesen war, ihnen den Kopf abzureißen. Sie hatte beschlossen, dass Tina etwas Abstand zu ihrer Familie brauchte und Tina, erschöpft und entkräftet, wie sie war, konnte es zwar nicht zugeben, aber sie war dankbar darum. Hannah und Marlene zogen sofort mit und organisierten mit Mia das Exil. Tina sollte eine Weile bei Mia unterkommen. Nur Erik wurde nicht gefragt. Wieso auch? Natürlich würde er damit einverstanden sein. Wie konnte er auch nicht? Bei einer solchen Situation als Ausgangslage.

Und am Anfang sah es auch gut aus. Das Leben in der gemeinsamen Wohnung ging fast genau so weiter, wie es bisher gewesen war. Erik kümmerte sich um den Haushalt und kochte, Mia kümmerte sich um die Uni und speziell um Tina. Immerhin hatte Tina auch im Hinblick auf das Studium einiges nachzuholen. Und was Erik schon früher bemerkt hatte, fühlte er jetzt deutlicher und immer deutlicher. Er gehörte hier nicht mehr wirklich hin. Es war nicht seine Wohnung, es war Mias und er war hier nur Gast. Er war in gewisser Weise ein Fremdkörper.

Wenn er länger in der Uni gewesen war, wurde er zwar begrüßt, wenn er in die Wohnung kam, aber niemand fragte mehr nach seinem Tag oder wo er gewesen war. Er konnte kommentarlos hinausgehen, ohne vermisst zu werden. Seine Freundin war voll und ganz mit Tina beschäftigt, einer Frau, von der sie wusste, dass sie es einmal auf ihren eigenen Freund abgesehen hatte. Sein Rückzugsort war von einem Tag auf den nächsten nicht mehr vorhanden. Klar, Tina war auch vorher schon öfter hier Gast gewesen, aber immer nur Gast und nie Mitbewohnerin.

Jetzt waren seine Akkus leer und er brauchte dringend Abstand. Jetzt, zum Ende des Semesters, mit der Prüfungsphase vor der Türe, konnte er unmöglich zu seinen Eltern fahren. Flo und Kristina waren eine sehr viel nähere und auch inzwischen vertrautere Umgebung. Um dort nicht zu dem Störfaktor zu werden, vor dem er selbst flüchtete, hatte er sich vorgenommen, möglichst wenig zu stören. Lange Tage in der Bibliothek und eifrige Hilfe im Haushalt konnte er als Ausgleich anbieten. Und es sollten ja auch wirklich nur einige wenige Tage werden. So lange, bis er wieder die Kraft hatte, es in seiner eigenen Wohnung auszuhalten … oder aber eine andere Möglichkeit gefunden hatte.

Nein, den letzten Gedanken verwarf er ganz schnell wieder. An so etwas wollte er überhaupt nicht denken. Natürlich würde er in zwei drei Tagen wieder zu sich nach Hause können. Mia würde ihn bis dahin sicherlich auch vermisst haben. Er wollte sich extra nicht bei ihr abmelden und ihr sagen, was er vorhatte. Sie sollte von alleine darauf kommen. Nur Flo zweifelte an dem Plan, als Erik ihm die Situation beschrieb, sagte aber nichts. Diese Erfahrung musste Erik leider selbst machen.

Es gab generell einiges, was Flo nicht aussprach. Beispielsweise, dass er bereits auf diesen Tag gewartet hatte und vorbereitet war. Alles war für einen solchen Besuch vorbereitet, und als sie abends in die Wohnung kamen, warfen sich Flo und Kristina nur vielsagende Blicke zu.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 139.

Verlust

Kannst du mir ein Handout einpacken? Schaffe es heute nicht mehr in die Uni. Musste noch einmal ins Krankenhaus.

Das war die Nachricht gewesen, die Mia von Tina bekommen hatte. Das passte nicht so ideal zu der perfekten Schwangerschaft, von der nach der letzten Untersuchung noch die Rede gewesen war. Dennoch reichte es aus, um Mia für die Stunde zu beruhigen. Wenn sie noch schreiben konnte, dann würde es schon nicht so schlimm sein, aber für den Nachmittag würde sie sich auf jeden Fall auf den Weg machen, um Tina im Krankenhaus zu besuchen. Flo und Erik brauchten nicht gefragt zu werden, ob sie mit kämen. Einerseits war es eine zu verlockende Möglichkeit, das tägliche Lernpensum etwas beiseitezuschieben, andererseits war es im Krankenhaus grundsätzlich so langweilig, dass man sich immer über den Besuch von Freunden freuen konnte.

Soweit stand der Plan also. Die Praxis unterschied sich dann leider doch etwas von der Theorie. Tina im Krankenhaus ausfindig zu machen war nicht so einfach wie gedacht und die Stationsschwester hatte ernsthafte Bedenken, sich gleich alle drei bis in das Krankenzimmer durchzulassen. Spätestens jetzt war Mia ausreichend beunruhigt, um sich alleine an der Schwester vorbei zu schieben und in Tinas Zimmer zu eilen. Flo und Erik warteten sicherheitshalber auf grünes Licht, wenn auch nicht weniger besorgt. Aber man konnte nie wissen, in welcher Situation sich Tina gerade befand, denn Auskunft gab es nur für direkte Angehörige.

Die zwei Minuten, bis Mia zurückkam, schienen sich über Stunden zu erstrecken. Doch als sie kam, war sie schneeweiß im Gesicht und wirkte unsicher auf ihren eigenen Beinen. Als sie sich an Erik ankuschelte, bemerkte er, dass sie zitterte. Ihre Stimme war so dünn und brüchig, wie Flo es noch nie von ihr erlebt hatte. Sie stand sichtlich unter Schock.

„Sie hat gesagt, ihr könnt mit rein kommen, aber es geht ihr ziemlich schlecht. Ein Krankenwagen hat sie letzte Nacht hier hingebracht, weil sie starke Schmerzen im Unterleib hatte. Es war leider trotzdem zu spät, das Kind ist gestorben.“

Flo konnte nicht sagen, was in diesem Moment alles in seinem Kopf umherschwirrte. Das musste der größte Horror aller werdenden Eltern sein. Das Kind zu verlieren, besonders, wo sie so lange darum gekämpft hatte, sich damit anzufreunden und es endlich geschafft hatte, sich darauf zu freuen. All die Arbeit, dennoch eine gute Mutter zu sein und ihrem Kind, allen Widrigkeiten zum Trotz, ein schönes und sicheres Nest zu bieten. All die Sorgen, Hoffnungen, Wünsche und Träume. Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es ihr jetzt gehen musste. Erst an der Türe bemerkte er, dass seine Beine ihn mechanisch durch den Flur getragen hatten.

Was er dahinter vorfand, erschreckte ihn dann aber doch, trotz seiner schlimmen Vorahnung. Dort lag Tina im Bett, die blonden Haare wie Sonnenstrahlen um ein Gesicht, dessen Farbe irgendwo zwischen weiß, grün und grau rangierte. Die eingefallenen Augen waren tiefrot und ihr Blick in der versteinerten Mimik irgendwo auf einem Punkt im Nichts festgefroren. Wortlos setzte er sich auf den Rand des Bettes und legte ihr die Hand auf die Schulter. Einzig und allein ihr schweres Schlucken verriet, dass sie ihn überhaupt wahrgenommen hatte. Mia kuschelte sich von der anderen Seite an sie heran, während Erik am Fußende stehen blieb und nicht so recht zu wissen schien, was er jetzt tun sollte. Er war sichtlich um Fassung bemüht aber in seinen Augen stand dennoch blankes Entsetzen.

Flo war sich sicher, wenn Tina noch eine einzelne Träne übrig gehabt hätte, sie wäre jetzt geflossen. Aber ihr Kissen und ihre Haare waren bereits völlig durchnässt und die kleine Frau lag entsetzlich ausgelaugt, eingefallen und erschöpft tief in den Kissen. Mehr ein Schatten denn Gestalt, ruhte sie hier von ihren Freunden eingerahmt und gehalten, und für wenigstens fünf Minuten herrschte eiserne Stille. Als dann eine dünne, heisere Stimme erklang, brauchte es einige Sekunden, bis alle realisiert hatten, woher sie kam.

„Vielen Dank euch, dass ihr gekommen seid.“

Tina schien nicht einmal Luft geholt zu haben, um diese Worte zu sprechen. Ihr Laken bedeckte sie mit einer Reglosigkeit, als wäre es ein Leichentuch. Als Flo dieser Gedanke durch den Kopf schoss, stellte er schockiert fest, dass es genau das im Grunde genommen auch war.

„Nicht dafür. Sag uns nur, wenn wir irgendetwas tun können, um dir zu helfen. Egal was.“

Mia war dazu übergegangen, Tinas Kopf zu streicheln, Tränen in den Augen und doch jede Regung im Blick. Sie würde hier liegen bleiben und sich um Tina kümmern, soviel war deutlich. Und wieder war Flo erstaunt, zu welcher Zärtlichkeit sie in der Lage war. Keine Spur war mehr von der sonst so charakteristischen Grobmotorigkeit und Tollpatschigkeit zu sehen. Es dauerte wieder eine Weile, bis Tina genug Kraft für die nächsten Worte gesammelt hatte. Doch sie kamen noch kraftloser und leiser als die Ersten.

„Die Ärzte sagen, sie wissen nicht genau, was passiert ist. Ich habe alles richtig gemacht und auch aus den bisherigen Untersuchungen deutet nichts darauf hin, dass etwas nicht stimmen würde. Es sah alles so gut aus.“

Ihr Äquivalent zum Seufzen war heute, dass zum ersten Mal eine Atembewegung das dünne Laken leicht anhob. Trotzdem waren ihre Worte kaum mehr als ein Windhauch.

„Aber wieso ist dann meine Kleine weg?“

Der unbestimmte Punkt, irgendwo in der Unendlichkeit über dem Horizont, den sie fixiert hatte, sprang um. Erik stand immer noch am Fußende des Bettes und betrachtete sie mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Vom einen Moment auf den nächsten sah er in ein Paar Augen, welche das Kunststück fertigbrachten, glasig und milchig trüb gleichzeitig zu sein, und ihm direkt in die Seele starrten. Keine Anklage, keine Wut oder Zorn lag darin. Lediglich absolutes Unverständnis und entsetzlich tiefer Gram. Und die Frage, auf die sie von niemandem hier eine Antwort bekommen konnte.

Flo atmete so leise wie er konnte tief durch. Tina mochte in der Vergangenheit ziemlich ausfallend gewesen sein und sie hatte Mias und Eriks Beziehung bei mehr als nur einer Gelegenheit auf eine harte Probe gestellt. Aber konnte das Schicksal sich wirklich dermaßen brutal rächen? Das stand in absolut keinem Verhältnis mehr. Besonders, zumal in letzter Zeit ihre Einmischung in fremde Beziehungen nicht einmal von ihr selbst, sondern von Mia ausgegangen war. Auch wenn er sich zeitweise über sie und ihre augenscheinliche Sorglosigkeit geärgert hatte, niemals hätte er ihr eine solche Situation gewünscht.

Aber ihre Anwesenheit schien zu helfen. Eine Stunde lang saßen sie einfach wortlos um Tina herum und waren für sie da, und mit jeder Minute davon schien sie wieder ein kleines bisschen mehr ins Leben zurückzufinden. Mit jeder Minute war sichtbarer, dass sie noch atmete und noch da war. Am Ende war sie sogar in der Lage, mit etwas Hilfe einen zaghaften Schluck Wasser zu sich zu nehmen. Es musste der Erste sein, den sie überhaupt an diesem Tag zu sich nahm.

Ein vorsichtiges Klopfen an der Türe kündigte Hannah und Marlene an, Tinas Mitbewohnerinnen. Letzte Nacht hatten sie den Krankenwagen gerufen, sich versichern lassen, dass alles gut werden würde, und versprochen, nach ihrem Laborpraktikum vorbei zu kommen. Sie hatten Wort gehalten, doch kaum waren sie im Raum und hatten Tina gefunden erstarrten sie kurzzeitig zur Salzsäule. Auch wenn sich inzwischen sogar Tinas Augen wieder bewegten, bot sie immer noch einen schlimmen Anblick. Ein gehauchtes „Oh nein …“ war alles, was zu hören war, ehe sie ihrer Mitbewohnerin um den Hals fielen. Ein stummer Blick zwischen den beiden Mädchen besiegelte das Versprechen, vorerst zu verschweigen, dass Tinas Eltern angerufen hatten. Für den Moment gab es sehr viel Wichtigeres.

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