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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 75

Bibgetuschel

Für Flo hatte es Vor- und Nachteile, zum Lernen in die Bibliothek zu fahren. Die Vorteile waren, dass er sich besser konzentrieren konnte und es weniger Ablenkungen gab. Er konnte keinen Fernseher nebenher laufen lassen, keine Spiele nebenher spielen oder sich mit Essen ablenken. Das heißt, er konnte theoretisch schon, aber dann würde er damit die urteilenden Blicke der anderen auf sich ziehen und das war ihm nicht so egal, wie er es vielleicht erwartete. Der Gruppenzwang trieb ihn zum Fleiß.

Wenn da nicht die anderen Leute im Lernraum wären. Die meisten waren sicherlich ernsthaft mit ihrer Arbeit beschäftigt, da hatte er keinen Zweifel. Es gab allerdings auch diejenigen, die allein schon ein hervorragendes Unterhaltungsprogramm boten. Und Flo, leicht ablenkbar, wie er nun einmal war, saß Minute um Minute dort und tat nichts anderes, als sie zu beobachten.

Der Klassiker, bei dem es leider auch nur wenig zu beobachten gab, waren Leute, die vormittags kurz in die Bibliothek kamen, sich einen Platz sicherten, indem sie ihre Jacken über den Stuhl hängten und ihre Arbeitssachen ausbreiteten. Für gewöhnlich saßen sie dann sogar gute fünfzehn bis zwanzig Minuten auf ihrem Platz und arbeiteten halbherzig. Man konnte ihnen ansehen, dass sie nicht bei der Sache waren. Ihre Augen starrten auf einen beliebigen Punkt irgendwo hinter dem Buch, die brauchten nach dem Umblättern mehrere Minuten, um die Stelle ganz am Anfang der Seite zu finden, welche sie dann markierten, und blätterten zeitweise wohl nur deswegen um, weil das letzte mal bereits so lange her war.

Irgendwann erschien dann der Lernpartner oder die Lernpartnerin, für die der Nachbarplatz freigehalten worden war. Auch er/sie/es breitete sich schön aus, es folgte ein kurzes Gespräch über irgendwelche Nichtigkeiten, die in keinem Zusammenhang mit der Uni stehen konnten und nach weiteren fünf Minuten angestrengten so-tun-als-ob-man-eifrig-lernt haben beide keine Lust mehr und gehen erst einmal Kaffee trinken. Es bringt schließlich nichts, wenn man sich nicht vernünftig konzentrieren kann und außerdem muss man sich auch einmal seine Pausen gönnen. Nur lernen ist schließlich auch nicht gut, es muss ja auch noch ins Langzeitgedächtnis kommen und außerdem sitzt man ja schon fast eine Stunde in der Uni.

Ballard Locks

Natürlich wird für die Kaffeepause der Platz nicht geräumt. Man kommt ja schließlich wieder dahin zurück, wenn der Kaffee leer ist. Und man vielleicht auch noch einen kleinen Imbiss gegessen hat. Und sich noch etwas unterhalten hat. Und vielleicht kommt ja sogar noch jemand vorbei, mit dem man sich dringend unterhalten muss. Eventuell befasst man sich ja sogar wirklich mit dem Lernstoff und stößt auf Fragen, die man nicht so einfach spontan beantworten kann, und muss dafür in die Sprechstunde. Jedenfalls ist der Platz für die nächsten zwei bis drei Stunden völlig verwaist. Gelegentlich auch noch länger aber um seinen Platz muss man sich wenigstens nicht sorgen. Der ist ja solide blockiert.

Nach drei bis vier Stunden erscheinen die beiden plötzlich wieder, den Kaffeebecher noch in der Hand. Vermutlich eher ein neuer, denn der Kaffee dampft noch und ist viel zu heiß, um einen Schluck davon zu nehmen. Also muss man sich erst noch ein wenig unterhalten, ehe man einen Schluck nehmen kann und sich danach dann sogar noch einmal eine kleine Weile mit dem Lernstoff zu befassen. Spätestens dann, wenn der Kaffee leer oder kalt ist, wird es Zeit für eine weitere Pause. Man war schließlich wieder fleißig und auf einem so vermüllten Arbeitsplatz lernt es sich ja auch ganz schlecht. Da muss man eh aufstehen, und wenn man schon einmal steht, kann man auch gleich wieder Pause machen. Studieren kann so anstrengend sein.

Aber auch, wenn die beiden sich ihren ausgedehnten Pausen hingeben, ist Flo nicht gezwungen, sich mit intensivem Lernen abzulenken. Irgendwo finden sich immer auch Leute, welche die Bibliothek als Laufsteg sehen und nutzen. Mit BWL oder Jura wird man schließlich einmal zur Elite gehören und das muss man schon einmal zeigen. Außerdem will man ja seiner Familie keine Schande machen und zeigen, was man hat.

So klackern also die Stöckelschuhe von Gucci über den Boden, am Handgelenk baumelt das Täschchen von Yves Saint Lauren mit den Lernbüchern (natürlich nicht zu viele, sonst leiert das Leder aus) und hinter dem Fensterglas in der Dolce und Gabbana Brille lauern dick geschminkte Augen darauf, ob man im knappen Minirock auch ja wahrgenommen wird.

Zum Beispiel von Modell „Papas Liebling“. Sie sitzt, im Gegensatz zu den Pausemachern, stundenlang in der Uni, einen dicken Stapel Bücher neben dem Laptop, der nicht unter zweitausend Euro gekostet haben darf, und dem neuesten Luxussmartphone. Auf beidem wird permanent die Welt der Social Media überwacht. Facebook, Twitter, Pinterest, Instagram und Tumblr, am liebsten auch noch alles zeitgleich und parallel. Auch sie ist natürlich nur in edle Stöffchen gehüllt. Wenigstens ist der Kaffee in der Thermoskanne FairTrade, um das soziale Gewissen zu befriedigen.

Ihre Mitschriften sind in einer peniblen bis pedantischen Handschrift und mindestens vierfarbig, gerne auch mit Herzchen, Blumen und Sonnen verziert. Es ist die saubere Abschrift von hastig in der Vorlesung mitgeschriebenen Notizen und den Folien im Internet. Immerhin hat sie sich beim Abschreiben gründlich damit befassen müssen, das sieht man.

Aktuell gilt ihr Interesse aber hauptsächlich dem Laptop. Social Media hat Pause, es ist die Shoppinglaune ausgebrochen. Mit der besten Freundin am Telefon wird sich emsig beraten. Bademode für den nächsten Urlaub in Thailand oder der Karibik ist bereits abgehakt, nun werden Oberteile und Kleider diskutiert. Unterwäsche und Dessous werden später folgen, immer noch im Foyer der Bibliothek, versteht sich.

Was Flo der werten Dame allerdings ohne Zögern zugestehen muss, ist, dass sie Geschmack hat. Die ausgesuchte Kleidung gefällt ihm und unwillkürlich stellt er sich vor, wie Kristina wohl in solcherlei Mode aussehen würde. Es ist immerhin deutlich verspielter, als die edle Schlichtheit, die sie bevorzugt. Ihm fällt auf, dass er seit sicher fünf Minuten mit beiden Augen beobachtet, statt wie üblich ein Auge in Büchern oder auf dem Bildschirm zu haben. Das Theater, welches ihm hier geboten wird, ist einfach viel zu verlockend.

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Er will sich grade wieder zu seiner Arbeit zwingen, da erscheint die nächste Ablenkung. Der junge Mann bedient alle Klischees der Ingenieursstudierenden. Schlackerndes Hemd, schlecht sitzende Brille auf der Nase, Taschenrechner und wirre Aufzeichnungen von Berechnungen, die auch sauber aufgeschrieben noch gerade zu ekelhaft komplex sind, unter dem Arm. Er steht offensichtlich unter großem Stress, guckt sich wirr und eingeschüchtert nach einem leeren Platz um.

Doch die einzigen freien Plätze sind die, der beiden Kaffeetanten, die gerade eben mal wieder in ihre Pause verschwunden sind. Ihr Verschwinden wurde von allen drum herum sitzenden mit einem geringschätzigen Kopfschütteln kommentiert. Welch eine Platzverschwendung.

„Die zwei Plätze da sind für sicher drei Stunden noch frei. Räum einfach alles auf einen Tisch, die gehören eh zusammen. Die machen wahrscheinlich grad Kaffeepause.“

Flo muss innerlich beinahe lachen, als er sich die Worte sagen hört. Die beiden werden reichlich verdutzt gucken, wenn sie zurückkommen. Aber er ist sich sicher, wenn sie so dreist sein sollten, sich auch noch darüber zu beschweren, dann sitzen hier einige Studierende, die ihm dankbar zur Hilfe kommen werden. Jeder hier ist schon mindestens einmal durch die Gebäude geirrt, auf der Suche nach einem Platz zum Lernen.

Zu einer Konfrontation kommt es dann aber doch nicht. Drei tatsächlich sehr produktive Stunden später ist die Kaffeepause immer noch nicht vorbei. Dafür hat sich der junge Ingenieursanwärter bis zur Verzweiflung festgefressen. Niemand hier kann ihm helfen, eine Berechnung von finiten Elementen seines Bauteils durchzuführen. Er verschwindet, um einen Hiwi, die Sprechstunde oder irgendjemanden zu fragen, der ihm wenigstens einen Hinweis geben kann. Seine Hände zittern und die Angst vor einem vergeigten Drittversuch und damit dem Ende seines Studiums rauben seinem Gesicht jede Farbe.

Draußen geht die Sonne unter und Papas Liebling hat keine Lust mehr, ihre sauberen Abschriften bunt einzufärben. Die Bestätigungsmails ihrer Einkäufe sind eingetroffen und sie muss feststellen, dass die über vierhundert Euro ihr Konto stärker beanspruchen, als sie es erwartet hatte. Natürlich ist es immer noch solide gedeckt, trotzdem wird sie später noch ihre Eltern anrufen und sich darüber beklagen, dass sie nur das billige Brot beim Bäcker kaufen kann und die Rindersteaks ja viel zu teuer sind. Mama wird den Wink mit dem Zaunpfahl schon verstehen und hundert Extraeuros fürs Einkaufen schicken. Das Leben ist nun einmal teuer.

Flo indes hat genug für heute. Von den zehn Stunden, die er heute in der Bib verbracht hat, sind bestimmt vier nur dafür geopfert worden, die Umgebung zu beobachten und zu belauschen. Er kommt sich vor wie inmitten einer billigen Realityshow im Privatfernsehen und hat das scheußliche Gefühl, viel zu langsam vorangekommen zu sein. Vielleicht bleibt er morgen einfach zu Hause und lernt dort. Dann kann er die Schuld für seine Ablenkung wenigstens niemand anderem geben.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 73

Nora

„Oh mein Gott, es ist mir egal, was es alles noch an Wohnungen gibt, wir müssen uns endlich für eine entscheiden. Ich muss unbedingt aus dieser WG raus!“

Mia lief wie ein Tiger im Käfig vor Erik auf und ab. Sie war eben erst zur Tür hinein gekommen und hatte seitdem nur einen Beutel mit Wechselklamotten auf den Boden geworfen und ihm einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Sie war geladen wie eine Kanone und die Tatsache, dass sie nun eine Pause machte, erzeugte nicht einmal eine trügerische Ruhe. Sie erwartete lediglich, dass er fragte, was los war oder ihr in irgendeiner Form signalisierte, dass sie weiter reden sollte. Es war nicht so, dass sie ihm dabei eine Option offen ließ, sie erachtete es als Höflichkeit, wollte sich aber wahrscheinlich nur seiner Aufmerksamkeit versichern.

„Hm?“ Welch wohlartikulierte und fein formulierte Gegenfrage. Das intellektuelle Äquivalent zum legendären deutschen Fragewort mit zwei Buchstaben. Universell einsetzbar und alles umfassend und außerdem völlig ausreichend, um den Tiger wieder auf seine Reise durch den Käfig zu schicken. Er konnte unterdessen weiter sein Zimmer aufräumen. Es reichte aus, wenn er anwesend war, ab und an reagierte und ihren Ärger aushielt.

„Nora raubt mir noch den Verstand. Es ist der Wahnsinn, wie viel negative Energie in so eine kleine Person passt. Ich hab ja kein Problem damit, wenn mal jemand einen schlechten Tag hat, aber sie sucht ja regelrecht danach. Und dann kann sie das natürlich nicht einmal für sich behalten. Gestern Abend komme ich nach Hause und was finde ich da vor? Die Kuh sitzt in der Küche, säuft MEINEN Sekt aus, und zwar beide Flaschen, und heult mir dann die Ohren voll, wie ungerecht die Welt ist. Wieso das alles? Weil sie auf einer Hochzeit eingeladen ist! Ihre beste Freundin heiratet einen Kerl, mit dem sie noch kein halbes Jahr zusammen ist. Ich sag dir, nach spätestens einem Jahr steht die Scheidung aus aber egal. Aber das ist nicht das, worüber sie rumheult, nein! Sie sitzt da und meint, dann muss sie ja ihre ganzen Freundinnen wieder sehen und die erzählen ihr dann wieder, wie perfekt deren Leben doch ist und alles. Du weißt schon, erfolgreich in der Uni oder halt im Beruf und so. Tja, hätte sie halt mal nicht Germanistik und altchinesische Geschichte studieren sollen. Selber Schuld würde ich sagen. Aber da jammert die mir dann zwei Stunden lang die Ohren mit voll und wundert sich, dass ich sauer bin, weil sie mir nicht einmal was Sekt übrig lassen wollte.

Aber das Beste ist ja, und da habe ich wirklich innerlich gefeiert, dann heult die rum, weil sie keine Begleitung für die Hochzeit hat. Die Anderen kommen alle mit Freund oder Freundin nur sie hat natürlich niemanden. Weißte, erst vergrault die jeden Typen, indem sie ihre Dildos demonstrativ im Zimmer rumliegen lässt, wenn die vorbei kommen, und dann sowas. Ich hätte sie ja beinahe laut ausgelacht. Aber das würde die natürlich auch alles niemals einsehen. Ich hab sie mal einfach unauffällig gefragt, was denn mit dem letzten Typen war. Der war ja sogar noch ein zweites mal da, schien also mal wirklich ernsthaft interessiert zu sein. Wenigstens für den Moment. Nein, mit dem hat sie Schluss gemacht, weil ihr die Muskeln nicht dick genug waren. Vermutlich eher das Portemonnaie aber egal. Der letzte Typ, der nicht nach einem mal wieder sofort weg war, den hat sie ja abgeschossen, weil sie ein Taschentuch neben seinem Bett gesehen hat. Toller Grund, nichtwahr? Sagt, sie will keinen Kerl, ders sich selbst macht, aber selber die Dildos rumfliegen lassen. Weißte, und ich darf mir dann wieder anhören, wie scheiße die Männer doch alle sind, während die mein Zeug wegsäuft. Die kauft mir sowas von neuen Sekt, und nicht den Billigen.“

Erik kroch unter dem Bett hervor und zog eine staubige, bunte Kiste mit sich. Er hatte seine Fotokiste schon vermisst und gesucht, nur halt nicht unter dem Bett. Was hatte sie da schließlich verloren? Und was hatte Mias Unterwäsche da drin verloren? So sehr sie es liebte, über ihre Mitbewohnerinnen zu schimpfen, sie nahm immer mehr deren Sinn für Ordnung und Sauberkeit an. Hinter ihm stieg Mia auf ihrer Wanderroute über seine Beine und holte tief Luft.

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„Jedenfalls habe ich ihr am Ende geraten, alleine auf die Hochzeit zu gehen. Soll sie sich halt an den Trauzeugen des Bräutigams ranmachen. Der wird sich zwar sicher zu schade dafür sein, aber das muss sie ja nicht wissen. Wer weiß, vielleicht versucht sie es wirklich. Auf die Stories bin ich dann aber wirklich mal gespannt. Ich sags dir, der wird sie hart abblitzen lassen und vor der ganzen Mannschaft blamieren. Dann werde ich sowas von lachen. Naja, irgendwann war sie jedenfalls noch besoffen genug, als dass sie mir dann das Brautkleid noch gezeigt hat, was sich Charlotte ausgesucht hat. Extrem kitschig aber es passt halt irgendwie zu ihr. Nur Nora will sich dann halt gleich was holen, was dann vom Stil her dazu passt. So best Friends und so. Ehrlich, das ist so garnicht ihr Stil und wird einfach nur schrecklich aussehen.“

Kitschig war wirklich nicht Noras Typ. Sportlich schlicht würde gehen, aber wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann würde sie es auch umsetzen. Er wischte den Staub von seiner Kiste mit Karteikarten und stellte sie zurück an ihren angestammten Regalplatz. Auch sie hatten auf mysteriöse weise ihren Weg unter das Bett gefunden. Unterdessen war er erstaunt, wie gut er der Lamentation folgen konnte, ohne wirklich aktiv zuzuhören. Lange konnte ihr Ärger auch nicht mehr vorhalten. Ein Großteil ihres Pulvers hatte sie verschossen und statt durch das Zimmer zu laufen, hatte sie sich an den Schreibtisch gesetzt. Dort war er schon fertig mit aufräumen und putzen. Lediglich sein Laptop verströmte leises Gedudel und kämpfte damit verzweifelt gegen trübe Stimmung vor dem Fenster und Mias Ärger an. Vielleicht sollte er die Musik demonstrativ etwas lauter machen, möglicherweise würde das aber auch in einer Katastrophe enden. Er putzte stattdessen seinen Spiegel.

„So ein kitschiges Kleid würde ihr jedenfalls absolut nicht stehen.“ Da war er ja bereits gewesen… „Aber wahrscheinlich macht sie es trotzdem. Wer weiß, vielleicht sieht es ja an ihr dann extra nuttig aus. Könnte doc lustig werden…“

Nach einem kurzen Moment bemerkte Erik eine verdächtige Ruhe. Er drehte sich um und sah, wie Mia an seinem Laptop etwas las.

„Sag mal, wieso schreibt dir Tina eigentlich eine Mail?“

Scheiße. Damit war die Kanone wieder geladen bis zum Rand. Er schrieb schon eine ganze Weile wieder mit Tina, nur durfte Mia davon nichts wissen. Nachdem die Fronten klar waren, und Tina das zu akzeptieren schien, sah er keine Notwendigkeit mehr, ihr die kalte Schulter zu zeigen. Wieso auch? Aber seine Freundin würde das übermäßig aufblasen und es einfach nicht verstehen können und wollen. Jetzt war es nur zu spät, um das Passwort des Laptops zu ändern.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 72

Seifenopern

Das war es, was Erik am Dienstagabend mit Mia am wenigsten leiden konnte. Egal wann, egal wo, egal mit wem, pünktlich um halb sieben hing sie am Fernseher oder dem zugehörigen Webstream. „Alles nur aus Liebe“ hieß das Objekt der Begierde, was sie so völlig in ihren Bann zog. Eine wöchentliche Soap, die ebenso schlecht geschrieben war wie billig produziert. Vermutlich hätte man die Handlung auch so strecken können, dass man täglich Folgen senden konnte. Es würde nicht einmal auffallen, die meisten Folgen, die er gesehen hatte, zeigten sowieso eher den Charakter von Füller-Folgen. Eine große Rahmenhandlung schien es ebenfalls nicht zu geben.

Erik begriff jedenfalls nicht, was Mia so daran fesselte. Sie meinte, man dürfe keine Folge verpassen, weil man ansonsten den Überblick verlieren würde, was passierte. Da mochte etwas dran sein, denn es gab so viele Charaktere und Figuren, dass man schon die Namen leicht durcheinanderbringen konnte.

Die ganze Serie schien ein einziges ‚wer-mit-wem‘ und Gespinst aus Lügen und Intrigen zu sein. Frauen, die wegen banaler Streitigkeiten regelrechte Fehden vom Zaun brachen und Männer, die sich energisch um Frauen stritten, die austauschbar waren wie Blätter Druckerpapier, und deren Charaktere ebenso flach waren. Trotzdem versuchten die Autoren, dramatische Spannung aufzubauen. Ein utopisches Netz von Affären und hier und da einer kleinen Straftat.

Ein junges Pärchen, welches gerade eine gemeinsame Wohnung suchte, wobei Er nicht wusste, dass Sie bereits seit Monaten eine glühende Affäre mit seinem besten Freund hatte und er ihr verheimlichte, dass er nicht erfolgreich im Job war, sondern, statt der Beförderung die Kündigung bekommen hatte. Seitdem verbrachte er seine Arbeitstage mit Schwarzarbeit und in einer Kneipe in der Nachbarstadt. Als Sie das herausfand, ermordete sie ganz nebenbei den Wirt, der in irgendeinem absurd entfernten Verwandtschaftsverhältnis zu ihr stand und ihr doch hätte Bescheid geben müssen. Natürlich kam sie mit einem Mord am helligsten Tage ungesehen und ungesühnt davon. Den einzigen Zeugen verwickelte sie ganz nebenbei in eine schmierige Erpressung. Das Ganze stellte sie dermaßen stümperhaft an, dass der Drehbuchautor allein dafür die Kündigung erhalten musste. Vermutlich war er aber der Einzige, der sich mit solchem Stoff befassen wollte. Doch das ging fast völlig unter zwischen den Szenen, wo ihre klischeehaft blonde und selten-dämliche Cousine das grauenhafte Verbrechen beging, in ihren Vorabiklausuren zu spicken, um den Schnitt zu schaffen, den sie für ihr Medizinstudium brauchte. Das wollte sie natürlich nicht absolvieren, weil sie so begeistert von Medizin war, sondern weil der Mann, denn sie so abgöttisch liebte, das studierte. Und außerdem, weil Papi ihr dann das Studium finanzieren würde und sie auch weiterhin alles, was sie wollte, immer gleich bekommen würde. Und vielleicht einmal seine recht gut laufende Praxis erben konnte.Der Zuschauer wurde damit gelockt, dass sie sich an der Uni, sollte sie ihr Abi jemals schaffen, mit billigem „Durchschlafen“ statt mit guten Leistungen über Wasser halten Würde.

Steinwand in Steinwand

Wer dachte sich eigentlich so etwas aus? Und wie viel Alkohol musste das im Spiel sein? Ganz zu schweigen von anderen, härteren Drogen. Aber Mia liebte die Serie über alle Maßen und ließ bereitwillig alles dafür stehen und liegen. Wieso war ihr eigenes Leben eigentlich so langweilig, verglichen damit?

Sie suchten zwar eine gemeinsame Wohnung, aber er täuschte ihr keinen Job vor, den er nicht hatte und es wäre ihm auch neu, wenn Mia ihm fremdging. Und generell kannte er niemanden, der so durch die Betten hüpfte, wie die Serienfiguren. Klar, jeder handhabte das Thema anders und er kannte Leute, die das Ganze ‚liberaler‘ handhabten, aber dermaßen wild? Und dieses ganze Betrügen und Fremdgehen, wo sollte es das denn bitte geben?

Wobei, wenn er sich recht erinnerte… Tina hatte sich letztes Semester recht auffällig an Flo ran geschmissen. Der war dafür allerdings völlig blind und komplett auf seine Kristina fixiert gewesen. Irgendwann hatte Tina dann aufgegeben, sich kurz bei ihrem eigenen Freund getröstet und dann munter an Erik rangeschmissen. Ihrer Clique gegenüber war ihr die Aussage herausgerutscht, der einfachste Weg ins Herz eines Mannes sei der, über das Bett seines besten Freundes. Erik hatte sie fünf mal abblitzen lassen, ehe er Mia einweihte. Daraufhin hatte sie ganz dezent ihre hölzernen Trainingswaffen mit in die Uni genommen. Weil sie nach der Vorlesung noch eine Prüfung für den achten Dan habe. Erik und Flo hatten noch darüber gespottet, wie plump der Einschüchterungsversuch war, aber er brachte das gewünschte Ergebnis. Wenigstens fürs Erste. Dabei hatte Tina ihn wirklich ins Wanken gebracht. Erik konnte nicht sagen, ob er Tina wirklich toll fand, oder einfach nur das Gefühl genoss, begehrt zu sein, aber sie schien ihm immer anziehender. Dabei wusste er eigentlich zu gut, dass er nicht ihr eigentliches Ziel war. Er bereute nicht, Mia auf sie losgelassen zu haben. Tinas nervöser Blick war im Nachhinein ein wunderbarer Anblick gewesen.

Wenn Erik jetzt so darüber nachdachte, vielleicht war das wahre Leben überhaupt nicht so schrecklich weit von den kitschigen Seifenopern im Fernsehen entfernt. Man musste sie einfach nur als extrem billige, plumpe und überspitzte Realsatiren sehen.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 71

Notenfrust

Erik hatte das Kinn auf die verschränkten Arme gelegt und starrte missmutig auf den Bildschirm. Seit einer Woche kontrollierte er mindestens einmal am Tag seine Notenlisten und wartete auf die jüngsten Klausurergebnisse. Er war enttäuscht gewesen, wie die Prüfungen gelaufen waren. Fleißiges Lernen und viel Vorbereitung hatten ihm eigentlich das Gefühl gegeben, gut gewappnet zu sein, für was dort kommen mochte. Doch dann kamen die Klausuren und er hatte sich bei jeder Einzelnen gründlich in der Zeit verschätzt und war nicht fertig geworden. Dabei hatte er wirklich gehofft, endlich einmal Mia Konkurrenz machen zu können.

Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass das eine schöne Idee, aber nicht viel mehr sein konnte. Wenn es um Klausuren ging, war er noch nie besonders gut gewesen und würde es auch nie sein. Trotzdem gab er sich Mühe, besonders in den letzten paar Semestern. Und er hatte sich der süßen Illusion hingegeben, tatsächlich einmal wirklich gut sein zu können und schöne Noten zu schreiben. Selbst nachdem die Klausuren geschrieben waren, und er wusste, dass sie nicht optimal gelaufen waren, hatte er noch auf halbwegs gute Ergebnisse gehofft. Dabei wusste er es eigentlich hier schon besser, der Gedanke war nur einfach zu verlockend.

Doch nun flackerten die Ergebnisse hier vor ihm auf dem Bildschirm, Schwarz auf Blassblau. Unmissverständlich. Vielleicht war ja etwas übersehen worden und nicht jede Aufgabe bei der Wertung gezählt worden. Um das herauszufinden, würde er in die Einsicht gehen müssen. Und schon wieder war sie da, die leise Hoffnung, irgendwoher doch noch einige Punkte holen zu können, um den Schnitt minimal zu heben. Die Korrekturen waren in der Regel sehr gründlich und in der Einsicht noch Punkte zu finden eigentlich kaum möglich. Das wusste er genau und deswegen war es ihm selbst nicht begreiflich, wieso er sich gleich wieder an solche Hoffnungen klammerte.

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Es war einfach an der Zeit, sich die Resultate einzugestehen. Die Noten standen fest und waren verbucht. Sie waren nicht gut aber immerhin bestanden, und wenn er sich noch so lange wünschte, besser durchgefallen zu sein. Es waren weitere Punkte auf seinem Punktekonto und dem Weg zum Abschluss, der immer näher rückte und ihm ebenso Sorgen bereitete. Nun, wenigstens diese konnte er noch eine kleine Weile auf die lange Bank schieben.

Er seufzte schwer und scrollte durch die Liste. In den letzten Semestern waren seine Noten im Schnitt wenigstens ein wenig besser geworden. Schlechter als seine ersten Hochschulsemester konnte er auch nicht werden. Damals hatte er alles zu sehr auf die leichte Schulter genommen und feststellen müssen, dass sich die Uni doch massiv von der Schule unterschied. Plötzlich hatte er aktiv viel machen müssen, um Kurse zu bestehen. Nur das hatte er nicht getan. Das Ergebnis waren durchgefallene Klausuren in Großserie. Wenn er sich jetzt daran erinnerte, war er beinahe amüsiert. Wie leichtsinnig er an das Studium herangegangen war und wie verbissen er sich an der Idee des faulen Studentenlebens mit vielen Partys und wenig Aufwand geklammert hatte. Wenigstens bis zu dem Punkt, an dem er sah, was noch alles ausstand und er drauf und dran war, einfach alles hinzuschmeißen.

Wieso hatte er das eigentlich nicht getan? Vielleicht wäre ein anderer Lebensweg tatsächlich leichter für ihn gewesen. Er wusste bis heute nicht einmal wirklich, wieso er damals angefangen hatte zu studieren. Persönlicher Ehrgeiz konnte es jedenfalls nicht sein, den hatte er noch nie besessen. Vielleicht war es wirklich die Vorstellung des entspannten Lebens gewesen.

Entspannung war eine gute Idee. Er schloss die Notenliste und goss sich einen großen Schnaps ein. Es wäre ihm zwar lieber gewesen, sich im Bett zu verkriechen, dicht an Kristina gekuschelt, und einfach für eine Weile die Augen zu und den Kopf aus zu machen, aber das Leben ist halt nicht perfekt.

Wieso waren ihm die Noten überhaupt so wichtig geworden? Wer würde sich dafür interessieren? Klar, ein Personalchef, der ihn erstmalig einstellen wollte. Aber danach? Wie unüberwindbar sollte diese Einstiegshürde am Ende wirklich sein? Das war doch etwas, was zu schaffen sein müsste. So viele Menschen vor ihm hatten das schon geschafft, mit teils deutlich schlechteren Abschlüssen, als er schaffen konnte. Irgendwie musste es doch möglich sein. Und trotzdem hatte er das Gefühl, dass Noten zum Maß aller Dinge im Studium avanciert waren. Der ultimative Index für erlerntes Wissen.

Wobei schon das allein glatt gelogen war. Klausurnoten waren kein Indikator für das Wissen des Prüflings. Sie waren nicht einmal ein Indikator für die Fähigkeit, Wissen abzurufen. In vielen Fällen waren sie einfach nur ein Zeugnis darüber, wie gut einige Personen mogeln konnten. Die Macht der Noten regte die Kreativität vieler Kommilitonen zu ungeahnten Höchstleistungen an, wenn es darum ging, in Prüfungen zu pfuschen. Er hatte es selbst auch probieren wollen, aber dann festgestellt, dass er dafür einfach nicht taugte. Das war allerdings auch schon wieder eine ganze Weile her.

Vielleicht sollte er es einfach mal wieder versuchen. Das System einfach ändern konnte er schließlich nicht. Dafür müsste er in die Köpfe der Menschen hinein. Vielleicht zu allererst in seinen Eigenen.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 70

Wohnungsbesichtigung

„Schöne, sanierte Altbauwohnung in zentraler Lage“ hatte es in der Anzeige geheißen. Es war heute schon die dritte Wohnung, durch die Mia ihn schleifte und es schien ihm immer unwahrscheinlicher, dass sie jemals etwas finden würden. Saniert war die Wohnung sicher einmal. Wenigstens kurz nach dem Krieg, vielleicht sogar nach der Wende, wahrscheinlicher aber davor. Die Fenster waren zugig, die Wände zeigten dunkle Flecken von Wasserschäden oder Schimmel und die Stuckdecke zeigte Risse entlang der Verzierungen, die wahrscheinlich aus Schaumstoff waren. Erik lehnte sich gegen die Wand, die ihm am standsichersten erschien, und stellte fest, dass er entweder betrunken, oder aber die Wand schief war. Die Wohnung wäre vielleicht sogar schön gewesen, wenn sie nicht so schrecklich heruntergekommen wäre. Hohe Decken, schöner (wenn auch leider sehr lauter) Holzboden und große Fenster. Auch die Fassade der Gründerzeitvilla hatte durchaus Stil, wenn auch mehr Potenzial als tatsächlichen Charme.

Bei der zentralen Lage hatte die Anzeige nicht gelogen. Die Wohnung lag im zweiten Obergeschoss direkt auf der Ecke zu der Kreuzung, an der die drei innerstädtischen Hauptverkehrsadern zusammenliefen. Einen Block weiter, in Sichtweite, begann das Kneipenviertel, wo das gesellschaftliche Herz der Stadt schlug. Zwanzig Meter neben dem Hauseingang war die Bushaltestelle, von der aus man die ganze Stadt erreichen konnte, unter anderem in jeweils zehn Minuten die Uni oder den Bahnhof.

Zentraler konnte man wirklich nicht sein. Bei diesen dünnen, zugigen Fenstern war es für ihn allerdings indiskutabel. Er liebte seine Ruhe, verkroch sich gerne mit seinem Laptop ins Bett und wollte von der Welt nichts mehr mitbekommen. Hier konnte er allerdings jeder Unterhaltung an der Bushaltestelle Wort für Wort folgen. Das größte Rätsel war für ihn gerade, wieso Mia sich trotzdem noch im beige-braun gekacheltem Bad und der bunt zusammengewürfelten Küche umsehen wollte. Er würde hier auf keinen Fall einziehen, egal ob ohne oder mit ihr. Das war es ihm nicht wert.

Die letzte Wohnung war definitiv ruhiger gelegen. Ein Plattenbau aus den Siebzigern, allerdings tatsächlich recht frisch renoviert. Die Lage war ruhig, jedenfalls, wenn gerade keine Bahn fuhr. Dafür drang ein penetranter, unangenehmer Geruch aus der Kanalisation unter dem Balkon. Mia hatte entsetzt die Nase gerümpft und es war nicht besser geworden, als plötzlich ein lauter Streit von den Nachbarn, eine Etage höher, das ganze Haus unterhielt. Erik war froh, sich keine Argumente ausdenken zu müssen, wieso die Waschbetonromantik für ihn nicht infrage käme. Er hatte sich einfach auf Anhieb unwohl hier gefühlt. Und dabei war es nicht einmal der Plattenbau, mit dem er ein Problem hatte. Es war einfach der Gesamteindruck, den er hatte, ohne einen Grund dafür nennen zu können. Das war es jedenfalls, was er sich eingestehen wollte.

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Wohlgefühlt hatte er sich bisher in nur einer Wohnung. Es war ein ziemliches Loch gewesen. Dunkel und eigentlich auch viel zu klein. Auch wenn die komplette Wohnung in kaltem Weiß gestrichen war, hatte es sich für ihn irgendwie warm angefühlt. In der kleinen Wohnküche hatte es sogar einen offenen Kamin gegeben. Das war für ihn ein sehr gutes Argument und für Mia ein sehr gutes Gegenargument. Vor allem wohl deswegen, weil dann kaum noch Raum für einen Fernseher blieb. Auf den bestand sie vehement, obwohl sie ihren Aktuellen kaum nutzte. Für Erik war das absolut unbegreiflich, aber er war an einem Punkt angekommen, wo er sogar schon bereit war, sich selbst einzugestehen, dass er sich keine Mühe gab, sie zu verstehen. Mit ihr zu streiten war sowieso sinnlos.

Um dem Streit gleich vorzubeugen, hatte er die Auswahl der Wohnungen auch komplett ihr überlassen. So konnte sie ihm wenigstens hinterher keinen Vorwurf machen und gleichzeitig bekam er selbst auch ein kleines Argument in die Hand. Wenigstens dieses eine Mal wollte er auch einen Vorteil haben, den er nutzen konnte. Auch wenn er es am Ende wohl eh nicht tun würde. So sehr sie es auch zu lieben schien, er hasste es, wenn sie stritten. Sie suchte laufend nach Gründen oder Ansätzen und fand auch beinahe immer etwas, worüber sie einen kleinen Streit losbrechen konnte.

Vielleicht war es schon allein deswegen keine gute Idee, mit ihr in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Auch wenn sie im Augenblick relativ zahm war und es so aussah, als könnten sie wirklich einmal gut harmonieren. Er hatte den Verdacht, dass es die ungewöhnliche Stresssituation war, die ihr keine Energie zum Zanken ließ. Immerhin zerrte der ganze Umzugsplan sie weit aus ihrer Komfortzone heraus.

Die dünnen Scheiben klapperten im Rahmen, als auf der Straße ein Bus die Haltestelle anfuhr. Mia kam aus dem Bad und wirkte positiv eingestellt und glücklich. „Mit ein wenig frischer Farbe und Arbeit kann man es doch recht hübsch gestalten.“ Hoffentlich meinte sie damit nicht, dass sie das komplette Bad herausreißen wollte. Auch wenn das in seinen Augen das einzig Sinnvolle war, so viel Aufwand wollte er auf keinen Fall in eine Wohnung stecken. Die Zeit wollte er sich nicht nehmen. Auf dem Weg hinaus fiel ihm auf, dass Mia ziemlich kräftig Blinzelte. Der Stress musste ihr kräftig zusetzen.

„Was für eine schreckliche Wohnung! Ich meine, sie ist schon hübsch, aber diese Farben gehen gar nicht und die Fenster müssten auch dringend neu gemacht werden. Willst du wirklich hier einziehen?“

Mit dieser Frage hatte er gerechnet. Wortlos hielt er ihr die Türe auf, in dem Versuch, sie möglichst elegant zu ignorieren und kam sich dabei tollpatschig wie ein junger Hund vor. Langsam gewöhnte er sich an dieses Gefühl.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 69

Nachtschicht

Es war doch jedes mal das Gleiche. Erik nahm sich vor, den Tag über fleißig zu sein und mit Mia gemeinsam zu lernen und dann frühzeitig ins Bett zu gehen. Aber vielleicht war es allmählich an der Zeit, sich einzugestehen, dass dies einfach nicht seinem Biorhythmus entsprach. Tagsüber hatte er noch nie wirklich viel geschafft, das war schon zu Schulzeiten so gewesen. Wenn er auf seine Geschwister hörte, dann hatte er generell noch nie etwas geschafft, aber damit würde er sich bei ihnen in guter Gesellschaft befinden. Das war aber eine ganz andere Geschichte. Die Uhr tickte und lief unerbittlich auf halb drei zu und inzwischen bekam er sogar wieder Hunger.

Dabei hatte Erik sich sogar vorgenommen, den späteren Abend in seinen Lernplan mit aufzunehmen. Dieser Lernplan hätte allerdings um Mitternacht enden sollen. Stattdessen war er erst dann wirklich produktiv geworden. Mia lag schon seit fast vier Stunden im Bett und schlief friedlich. Er hoffte nur, dass sie tief genug schlief, um nichts mehr mitzubekommen, wenn er dazu kroch. Andernfalls dürfte er sich morgen einen kleinen Vortrag anhören, wieso es denn nicht gesund war, so lange wach zu bleiben.

Schlafen gehen könnte er aber so oder so gerade nicht. Gegen zehn Uhr war er noch müde gewesen, aber inzwischen fühlte er sich wie nach einer guten Nacht voll Schlaf. Frisch und ausgeruht, obwohl er genau wusste, dass es nicht so war. Es gab keine Ablenkungen mehr, außer dem gelegentlichen Rascheln der Bettdecke, wenn seine Freundin sich umdrehte. Das wäre vielleicht eine Idee für die gemeinsame Wohnung: Ein Arbeitszimmer. Dann bräuchte er sich auch nicht damit zurückhalten, mit den Papieren zu rascheln. Aktuell klang jedes Umblättern in seinen Ohren wie Gewitter. Außerdem sirrte die kleine Schreibtischlampe wie eine Mücke. Vermutlich würde sie bald durchbrennen.Gneis

Trotzdem war das alles nicht Ablenkung genug, um ihn vom Lernen abzuhalten und obwohl er sich fest vorgenommen hatte, allerspätestens um zwei Uhr ins Bett zu kriechen ging er inzwischen dazu über, Fehler in den Vorlesungsfolien zu korrigieren. Im Hinblick auf die Klausur machte es ihm Mut, dass er den Stoff offenbar gut genug verstanden hatte. Er ging probeweise eine Altklausur durch. Bei einigen Fragen setzte er ein kleines Fragezeichen daneben. Nicht, weil er sie nicht beantworten konnte, sondern weil er sich bei einzelnen Formulierungen und Details unsicher war, die für die Fragestellung uninteressant waren. Er war durchaus zufrieden mit dem Ergebnis.

Die Uhrzeiger überschritten die drei Uhr Position. Komme was wolle, aber morgen früh würde ein durchaus anstrengender Morgen sein. Vielleicht sollte er einfach einmal liegen bleiben und akzeptieren, dass das nun einmal die Art und Weise war, wie er funktionierte. Wobei, wenn er ehrlich mit sich war, er fühlte sich wohl auf diese Weise. Das, was ihn störte, war Mias Reaktion daraus. Sie war damit offenbar nicht zufrieden und bemühte sich, ihn in dieser Hinsicht zu ändern. Sie war ein Kontrollfreak und das führte regelmäßig zu Streit zwischen den beiden. Der Unterschied war nur, dass sie es ein oder zwei Tage später für sich selbst abgehakt hatte und als erledigt ansah. Für ihn selbst war das deutlich weniger einfach.

Für heute hatte er seine Sachen zusammengelegt und sich bettfertig gemacht. Inzwischen war er sogar tatsächlich müde. Wenigstens hatte er das Gefühl, sich seinen Schlaf heute wirklich verdient zu haben und wenn er sich morgen noch an alles erinnerte, dann konnte er vielleicht einfach einen Tag etwas ruhiger angehen lassen. Er konnte es sich zwar eigentlich nicht leisten aber letzten Endes war er halt einfach viel zu faul.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 68

Projektseminar

Da war es schon wieder, das Ende des Semesters. Flo hatte das Gefühl, die Vorlesungszeit wurde von Jahr zu Jahr immer kürzer und die Klausuren und Endabgaben waren immer schneller da. Er hatte den Eindruck, das Semester hatte gerade erst begonnen und schon saß er da und musste sich um die Prüfungen sorgen. Außerdem musste er das, was er am allerwenigsten konnte. In einer Gruppe arbeiten und ein gemeinsames Ergebnis fertigstellen. Wessen Idee war das eigentlich schon wieder gewesen? Mia oder Erik konnte es nicht gewesen sein, die waren beide in einem anderen Seminar untergekommen. Natürlich im Gleichen. Erik wäre vermutlich aufgeschmissen gewesen, wenn er nicht von Mias Fahrwasser profitieren könnte. Außerdem waren die beiden noch immer durch ihre Wohnungssuche abgelenkt. Zeitweise hatte Flo den Eindruck, dass sie das zu gerne als Ausrede und Entschuldigung missbrauchten, sich mit anderen Dingen zu befassen als der Uni.

Nur wieso hatte er sich auf Gruppenarbeit eingelassen? Er konnte sich nicht erinnern, wann das jemals gut ausgegangen war. Klar, auch so etwas musste geübt werden, schließlich stand in fast jeder Stellenausschreibung „Teamfähigkeit“ in den Anforderungen ziemlich weit oben. Doch so sehr er sich auch bemühte und es versuchte, Flo war einfach nicht teamfähig. Er fand sich selbst ganz generell und im Allgemeinen unfähig, aber das würde er niemals offen zugeben. Was das anging, war sein Stolz einfach stärker als sein Selbstwertgefühl. Und vielleicht war es auch ganz praktisch, nicht die komplette Arbeit alleine erledigen zu müssen, sondern die Aufgaben aufteilen zu können. Dafür musste er allerdings mit den Leuten reden.

HofBei der letzten Gruppenarbeit war genau das reichlich daneben gegangen. Sie hatten ein Protokoll als Gruppe abgeben müssen und seine Erinnerung der Ereignisse war einfach eine völlig unterschiedliche, als die der anderen. Er war zu faul gewesen, seine Sicht der Dinge mit Literatur zu belegen und sein Ruf als fauler Taugenichts hatte wahrscheinlich dazu beigetragen, dass seine Kommilitonen ihren eigenen Formulierungen den Vorzug gegeben hatten. Das Ergebnis war nicht zu seiner Zufriedenheit gewesen und, was vielleicht das größte Problem war, auch nicht zur Zufriedenheit des Professors.

Seinen Gruppenmitgliedern jetzt traute er mehr zu. Dafür sich selbst umso weniger. Das letzte Semester war für ihn nicht schlecht gelaufen, aber seitdem hatte er kräftig abgebaut und große Lücken wachsen lassen. Vielleicht war es ja das, was ihm so Bauchschmerzen bei diesem Projekt bereitete. Hatte er einfach nur ein schlechtes Gewissen, seine Gruppe hängen zu lassen? Er hatte es nicht vor, ging aber unbewusst wohl davon aus, dass sie am Ende von ihm enttäuscht sein würden. Der leere Stundenplan dieses Semester motivierte ihn einfach zu sehr zum faul sein. Er hätte einfach mehr Fächer belegen können und sich so mit Arbeit beladen, dass er nicht zur Ruhe kommen könnte. Aber es wäre freiwillige Mehrarbeit gewesen und bisher war er eigentlich recht zufrieden damit gewesen, nur das Nötige zu machen.

Dafür würde es allerdings deutlich bessere Selbstbeherrschung verlangen. Er musste die Zeit, die er hatte, sinnvoll nutzen. Jetzt im Augenblick zum Beispiel sollte er eigentlich aufmerksam an der Gruppenbesprechung teilnehmen. Sonst wusste er am Ende wieder nicht, was denn überhaupt sein Aufgabenbereich war und was die anderen übernahmen. Das Projektthema war schon eine Sache für sich gewesen. Er war der Gruppe beigetreten ohne eine Ahnung zu haben, wovon das Projekt überhaupt handelte. Unter dem Namen hatte er sich nichts vorstellen können und bis heute war das nur geringfügig besser geworden. Es würde auch nicht sein Lieblingsthema werden. Er kam nur schwer damit zurecht und es wollte nicht so echt in seine Denkmuster passen. Je öfter er die Literatur zum Thema befragte, umso verwirrter schien er zu werden. Für gewöhnlich erreichte man irgendwann doch den Punkt, an dem der Knoten platzte und plötzlich alles schön klar und deutlich war. Bislang wartete er vergeblich darauf.

Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den Schein zu wahren. So zu tun, als wäre alles in Ordnung und sich dann hinsetzen und, nach Möglichkeit mit dem Material der anderen, seinen Stand zu konstruieren und die Aufgabe abarbeiten. Überragend würde es nicht werden, aber wenn er deutlich machen konnte, welcher Teil seiner war, würde wenigstens der Rest der Gruppe nicht darunter leiden müssen. So hoffte er jedenfalls, obwohl er es eigentlich besser wusste. Bis dahin durfte er nur nicht auffallen aber irgendwie hatte er das bisher immer geschafft.

„Also gut, dann mache ich das bis nächstes mal fertig. Flo, wie weit bist du denn bisher? Hast du bei dir schon was rausbekommen?“

„Bisher“ war offenbar mit dem heutigen Tag zu Ende. Wie kam er da nun bloß durch, wenn nicht mit etwas Ehrlichkeit?

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 67

Kinderlachen

Ein Freitag Nachmittag bei strahlend blauem Himmel und statt sich mit den anderen am Fluss oder im Park zu tummeln, und das schöne Wetter zu genießen, saß Flo in einem stickigen Eisenbahnwaggon und kritzelte auf Karteikarten herum. Er war nicht allein. Das halbe Land schien sich dazu entschlossen zu haben, diesen Freitag auf der Schiene zu verbringen und so war der Zug reichlich voll. Fast jeder Sitzplatz war besetzt, und das, obwohl der Zug schon zwei Wagen mehr als üblich hatte.

Mia und Erik konnten das Wetter auch nicht voll genießen. Sie hatten eine kleine Serie von Wohnungsbesichtigungen, in der Hoffnung, ihre Traumwohnung zu finden, um ihre Beziehung auf eine neue Ebene zu heben. Flo wusste, dass sie alle beide etwas Angst vor diesem Schritt hatten, aber es auf jeden Fall, wenigstens versuchen wollten. Und dass sie nie miteinander über ihre Sorgen geredet hatten, sondern sich immer nur gegenseitig Begeisterung vorspielten. Er selbst hatte keine wirkliche Motivation, mit Kristina zusammenzuziehen. Soweit fühlte er sich noch nicht. Natürlich, er liebte sie sehr, aber sie wohnten und arbeiteten nicht einmal in der gleichen Stadt. Er selbst studierte sogar noch und nichts und niemand konnte ihm sagen, wo er denn nach der Uni landen würde. Dort, wo er Arbeit bekommen konnte.

Aber für den Augenblick war alles gut, so wie es war. Er genoss die freitägliche Fahrt zu ihr und die ihn begleitende Vorfreude. Manches mal nutzte er die Zeit im Zug, um etwas für die Uni zu erledigen. Manches mal beobachtete er einfach die Leute. Meistens saßen sie mit ausdruckslosen Mienen, gelegentlich auch mürrisch oder gelangweilt dreinblickend, den Blick oft auf ein Smartphone oder Tablet gesenkt. Nur ein gelegentliches Lächeln, bei einer unterhaltsamen Nachricht. Die Jüngeren waren oft zusätzlich mit Kopfhörern von der Außenwelt abgeschirmt, die Älteren versteckten sich lieber hinter seriösen Zeitungen oder bunten Heften. Man blieb für sich, man blieb stumm, man blieb unauffällig. Die ungeschriebene Etikette des Bahnfahrens. Oder auch des Aufzugfahrens oder des Besuchens einer öffentlichen Toilette. Gelegentlich hob einer der Passagiere verstohlen den Kopf, sah sich schüchtern in dem vollen Wagen nach Gesellschaft um, resignierte dann aber doch wieder, und zog sich in seine Einsamkeit zurück.

Der Zug hielt, die Türen öffneten sich und brachten einen Moment der Unruhe mit sich, als einige Passagiere aufstanden und den Zug verließen, während andere hinzustiegen. Jeder suchte sich seinen Platz, stets bemüht, nicht zu aufdringlich Kontakt mit seiner Umgebung herzustellen. Aus dem Türbereich kam protestierendes Gebrabbel. Ein Kleinkind, im Kinderwagen sitzend, kaute ärgerlich auf seinem Schnuller, der einfach nichts Essbares abgeben wollte. Seine Mutter war voll und ganz von der Suche nach ihrer Fahrkarte und dem Smartphone in Beschlag genommen. Irritiert ließ das Kind seinen Blick durch den vollen, stillen Waggon wandern, und wirkte seinen Zauber.

2016-01-17 13.12.40.jpgJe jünger ein Kind ist, um so unwahrscheinlicher ist es, dass es bereits von gesellschaftlichen Normen verdorben ist. Es mag das Leben leichter machen, sich an bestimmte Regeln zu halten, aber oft genug auch schwerer. Es gibt immer wieder Exoten, die versuchen, mit den Normen der Gesellschaft zu brechen und wahllos fremden Leuten einen schönen Tag wünschen oder, die nicht so schöne Variante, sich konsequent nicht mehr wuschen. Dieses kleine Kind hatte für sich beschlossen, dass es völlig okay ist, andere Leute in der Bahn anzusehen und zu lachen. Unkompliziert und unvoreingenommen, einfach, weil es Lust dazu hatte.

Flo sah den abgestellten Kinderwagen und das leise Kichern steckte ihn unweigerlich mit noch mehr guter Laune an. Er folge dem Blick des Kindes in den Wagen und fand ein Mädchen, welches er aus der Uni vom Sehen her kannte, und welches die ganze Fahrt über noch kein einziges mal gelächelt haben mochte, oder von ihrem Telefon aufgesehen hatte. Nun saß sie da, das kleine Gerät unbeachtet im Schoß, und in den eben noch so traurig drein blickenden Augen spiegelte sich ein zaghaftes Lächeln. Kein höfliches oder künstliches, sondern ein pures, ehrliches Lächeln, hinter dem echtes Glück stand. Das kleine Kind zog sich die Mütze vom Kopf und zappelte fröhlich jauchzend in seinem Kinderwagen auf und ab.

Ein Erwachsener, der in der Bahn so viel Aufsehen erregt, kassiert hauptsächlich irritierte Blicke und offene Missbilligung. Ein kleines Kind aber wirkt auf die meisten Menschen ganz anders. Solange es nicht das Eigene ist, kann man seinen Lärm so einfach ertragen, wie sonst kaum ein Geräusch, und es bricht durch alle Zeitschriften, Tablets und Kopfhörer hindurch. Überall im Waggon hoben die Leute die Köpfe, um dem Kind an der Tür ein schüchternes Lächeln zuzuwerfen. Flo sah lieber in die andere Richtung. Es bereitete ihm Freude und eine merkwürdige Genugtuung, zu sehen, wie ein einfaches Kichern und unartikuliertes Gebrabbel die ernsten Gesichter veränderte. Es war ihm, als würde eine heiße Dusche dicke Krusten Schlamm von den Geistern spülen und darunter schimmerte ein kleiner Rest des Kindes, das jeder von ihnen einmal gewesen war.

„Was machst du denn für einen Lärm, Eva? Setz dich hin, du störst die anderen Leute nur.“

Die Mutter hielt sich nicht mit einem Blick in den Wagen auf. Man sah im Zug schließlich keine Mitreisenden an. Sie drückte ihrer Tochter nur die Nuckelflasche in die Hand und hoffte auf Ruhe. Eva nahm die Flasche entgegen und stopfte sie sich tollpatschig in den Mund. Ein kurzer Moment der Magie war es gewesen, der für die meisten Reisenden in diesem Wagen den Tag ein kleines bisschen schöner gemacht haben mochte. Das Mädchen aus der Uni lächelte noch immer in Richtung des Kinderwagens, eine stumme Sehnsucht in den Augen. Das zufriedene Brummen des Kindes mit der Flasche ließ auch sie selbst leise kichern, während im Rest des Wagens wieder das Rascheln von Stoff und Papier dominierte.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 66

Zahnschmerzen

„Jedenfalls habe ich mit Erik darüber geredet und er fand die Idee gut. Es erspart uns das ewige Hin und Her und außerdem ist es von der Miete her etwas günstiger. Und jetzt suchen wir also eine Wohnung. Wenn du eine hast, immer her damit. Ist alles okay bei dir? Du verziehst so seltsam das Gesicht.“

Mia hatte Redebedarf, und zwar reichlich. Es war schon ein kleines Wunder, dass sie überhaupt genug von ihrer Umwelt mitbekam, um zu sehen, wie Flo mit mürrischem Gesichtsausdruck auf seiner Zunge kaute. Er hatte selbst nur mit einem Ohr zugehört und schämte sich ein wenig dafür, so abwesend zu sein. Gelegentlich fragte er sich, wieso es überhaupt jemand mit ihm aushielt. Er war ganz offensichtlich kein guter Freund. Seine Aufmerksamkeitsspanne war kurz und er war auch sicher nicht besonders eloquent, um das auszugleichen. Er versuchte es trotzdem jedes mal erneut.

„Ist schon okay. Hat Erik nicht im Wohnheim sowieso eine recht gute Miete? Aber gut, da könnt ihr ja nicht zusammen einziehen. In sein Bett dort passt ja nicht einmal eine Person vernünftig rein. Wie auch immer ihr das trotzdem schafft. Wie sieht es denn im Augenblick aus, so wohnungstechnisch?“

„Das Zimmer ist zwar preiswert aber echt kümmerlich. Das ist ja auf Dauer keine Lösung, und wenn wir beide hier in der Gegend bleiben wollen, dann wird das so nichts. Und wir haben wohl Glück, weil momentan nicht so sehr viele Leute eine Wohnung suchen. Trotzdem war bis jetzt nichts wirklich Überzeugendes dabei. Entweder ist die Wohnung schick oder die Lage, aber irgendwie nie beides. Irgendwo gibt es sicher die perfekte Wohnung für uns. Bist du sicher, dass alles gut ist? Du wirkst so angespannt. Gibt es Stress mit Kristina?“

„Nein, mit ihr ist alles super. Ich habe nur Zahnschmerzen. Frag mich nicht, wieso. Es ist noch nicht einmal ein halbes Jahr her, dass ich da quasi grundsaniert wurde. Eigentlich darf da nichts mehr sein. Trotzdem tut es irgendwo beim Aufbeißen weh. Ich kann nur nicht einmal genau sagen, welcher Zahn das ist.“

Er konnte nicht einmal genau sagen, wie viele Zähne denn überhaupt das Problem waren. Vielleicht waren es sogar überhaupt nicht die Zähne, sondern das Zahnfleisch oder der Knochen darunter. Wer konnte das schon sagen? Alles, was er an Anhaltspunkten hatte, war der dumpfe Schmerz, der jedes mal beim Zähneputzen oder drauf beißen durch seinen Kopf wanderte. Das war keine besonders gute Ortungsmethode. Flo fühlte sich von seinem Körper im Stich gelassen und das ärgerte ihn noch einmal extra. In Filmen gab es immer irgendeine Form der Wunderheilung. Wieso konnte nicht mal jemand so etwas für die reale Welt erfinden? Oder auch nur Körperteile zum Austauschen. Geklonte Zähne, extern gezüchtet und dann nur noch einzusetzen. Die Welt könnte so perfekt sein. Wieso versuchte eigentlich niemand einmal, so etwas zu erforschen? Stattdessen gab es Maiskolben, die unter UV-Licht leuchteten wie ein kleiner Sternenhimmel oder selbstverdichtenden Beton, der sich so effektiv selbst verdichten konnte, dass er zwangsläufig seine Schalung sprengte. Und das nannte man dann technischen Fortschritt. Welch meisterhafte Erfindungen.

KupferbergEr spielte mit der Zunge zwischen den Zähnen herum und war sich inzwischen relativ sicher, dass das Problem tatsächlich bei den Zähnen lag. Allerdings auch nicht sehr viel sicherer, als ein belgisches Atomkraftwerk. Im andauernden Zustand der Notabschaltung, wenn eine geringere Gefahr davon ausging, weil mal wieder ein Transformator brennt oder das sekundäre Kühlsystem leckgeschlagen ist. Immerhin war es wohl wenigstens einer, aber auch nicht mehr als drei Zähne.

„Das verrückte ist, ich war doch vor nicht einmal einem halben Jahr beim Zahnarzt. Der hat mir gefühlt den halben Kiefer in Trümmern gelegt und alles wieder neu zusammengesetzt. Wieso hab ich da jetzt schon wieder Ärger mit? Sollte das nicht für eine gewisse Weile vorhalten oder hat der da nur etwas übersehen? Und dafür habe ich es in kauf genommen, eine halbe Woche lang nur Joghurt und so zu essen. So was geht mir dann auf die Nerven.“

„Aber wenn du Schmerzen hast, dann solltest du wirklich einfach zum Zahnarzt gehen. Die können dich dann ja nicht einfach wegschicken.“ Mia runzelte die Stirn. „Es ist ja schon seltsam. Ein halbes Jahr, und du hast schon wieder Zahnschmerzen? Vielleicht ist eine der Füllungen undicht geworden oder er hat wirklich unsauber gearbeitet und etwas vergessen. Aber es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Geh zum Arzt!“

Das war genau die Möglichkeit, die ihm am allerwenigsten gefiel. Flo konnte Ärzte nicht ausstehen. Immer gut gelaunt, immer irgendwie gespielt makellos in ihren weißen Kitteln und hübsch hergerichteten Praxen, mit dem allgegenwärtigen Geruch von Desinfektionsmitteln. Sie wirkten einfach von vorne bis hinten falsch auf ihn und diesen Menschen sollte er sich ausliefern? Er konnte sich Besseres vorstellen.

Und dann machten sie offenbar nicht einmal gute Arbeit. Wieso hatte er denn jetzt schon wieder Probleme? Wäre es ein Toaster oder ein Fernseher gewesen, er würde ihn zurückbringen und reklamieren. Seine Zähne waren nur leider fest mit seinem Kiefer verwachsen und den konnte er nicht einfach herausnehmen. Wäre das nicht eigentlich eine praktische Lösung? Kiefer abnehmen, zum Zahnarzt bringen, in der Zwischenzeit etwas Sinnvolles tun und dann irgendwann das reparierte Produkt wieder abholen und neu einsetzen. Wieso forschte eigentlich niemand an solchen Ideen? Man konnte doch auch Organe transplantieren, auch wenn das sehr viel Aufwand war und mit teils hohen Risiken behaftet war. Aber irgendwann musste man doch auch einmal so etwas beherrschen. Nur für den Moment war noch niemand so weit. Es half nichts.

„Schätze wohl, das werde ich müssen. Zu schade nur, dass es nicht einfach Ersatzteile gibt, die man im Internet bestellen kann und dann nur noch einbauen muss. Bei Robotern würde das gehen.“

„Du bist verrückt! Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kristina dich auch nicht mehr besonders lieben würde, wenn du plötzlich als Roboter vor ihr stehen würdest. Immerhin liebt sie dich ja so, wie du bist. Bei Erik ist es das Gleiche. Er ist gut, so wie er ist. Da muss nichts ausgetauscht oder verändert werden.“ Mia blühte in einem kurzen Anfall von ich-will-mich-jetzt-mal-aufregen auf. Sie genoss es regelrecht, etwas gefunden zu haben, womit sie ihn kritisieren konnte. Doch plötzlich geriet sie ins Stocken. Ihr Blick nahm etwas Verträumtes an, wanderte an einer imaginären Figur hinab und sie seufzte leise. „Jedenfalls, fast nichts…“

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 65

Heimkehr

Eigentlich wollte Mia stolz auf ihre Mitbewohnerin sein. Immerhin hatte sie es doch wenigstens versucht, einmal kein Schlachtfeld zu hinterlassen. Für eine Woche war sie in Urlaub gefahren und hatte die Wohnung alleine gelassen. Mia war nur für das Wochenende mit Erik weggefahren und hatte darauf verzichtet, sie beim Packen zu stören. Zwei Tage Ruhe, Erholung, Zweisamkeit und Beziehungspflege. Ob ihr das nun lieb war oder nicht, inzwischen harmonierten sie beide immer besser und was als eine vielleicht nur harmlose Liebelei begonnen hatte, war inzwischen zu einer ernsthaften Beziehung geworden. Das einzige Thema, bei dem sie sich immer geweigert hatte, vernünftig zu sein, und nun geschah das ganz von alleine.

Erik hatte in dieser Beziehung einen kräftigen Einfluss auf sie gehabt. Ob gut oder schlecht, darüber wollte sie noch nicht nachdenken. Aber so eifrig, wie sie sich in der Uni bemühte, arbeitete er an ihrer Beziehung. Das schien sein großes Ziel zu sein, die gemeinsame Zukunft mit ihr. Und es war der Grund für ihre zahllosen kleinen Streitigkeiten gewesen. Wobei, das war eigentlich gelogen. Wenn sie wirklich ehrlich mit sich selbst war, dann war das immer nur der Vorwand gewesen. Der eigentliche Grund war viel mehr, dass er ihr damit ziemlich Angst einjagte. Die Situation zwang sie, sich jemandem zu öffnen und zu vertrauen. Das war wohl vermutlich ihr größter Albtraum. Sie merkte, wie es ihm schwerfiel, das zu verstehen und zu akzeptieren aber er gab sich große Mühe und sie war immer mehr bereit, sich ihrem Horror zu stellen. Immerhin würde ihr das gut tun, im Gegensatz zu anderen Dingen in ihrem Leben.

Sie hatte versucht mit den Mädels zu reden, sie zu bitten, nicht einfach alles hinter sich liegen zu lassen oder einfach nur einmal Missstände anzusprechen. Der Effekt war, dass sie jetzt überhaupt nicht mehr mit ihr redeten. Es war ihr vielleicht sogar recht so, solange sie dann wenigstens die Wohnung in gutem Zustand hinterließen. Ihre Mitbewohnerin hatte es wohl immerhin versucht. Ihr Geschirr stand im Abtropf, das Leergut war in Tüten verstaut und der Müll war im Mülleimer. Selbst der Herd war gewischt, was konnte sie eigentlich noch verlangen?

DSC02850.JPGGut, das Geschirr war vielleicht kurz mit Wasser in Kontakt geraten, aber weit davon entfernt, sauber zu sein. Und es war ihr Lieblingsteller, der benutzt worden war und jetzt ganz rau vor eingetrockneten Essensresten war. Die Tüten mit Leergut belegten den halben Küchentisch und den Obstkorb. Hoffentlich befand sich dort kein Obst mehr drin, welches unbemerkt vor sich hin schimmelte. Die Kartoffeln und Zwiebeln jedenfalls würden nicht mehr zum Schimmeln kommen. Auch wenn sie noch in gutem Zustand waren, lagen sie im Müll. Den Restmüll hätte sie ja noch verstehen können, der übernahm so oder so den halben Biomüll, wenn dieser wiedereinmal voll war. Aber wie kam jemand auf den Gedanken, so etwas im gelben Sack zu entsorgen? Angesichts dieser Kuriosität war es schon langweilig, dass „Herd gewischt“ hieß, altes Mehl, Eier und Fett nur einmal gründlich zu verteilen.

Fast wäre es ein Fortschritt gewesen. Nur wie wollte sie sich denn das hier schön reden? Es war kein Versuch, sich selbst zu verbessern. Es war der Versuch, mit möglichst wenig Aufwand ihr die Argumente zu rauben. Sie hatte schließlich geputzt und aufgeräumt und gespült. Nur eben dermaßen schlampig, dass sie es genauso gut hätte bleiben lassen können. Für Mia war diese Erkenntnis vielleicht das Frustrierendste. Hier war nichts mehr zu retten. Diese Mädels würden nie fähig sein, einen halbwegs gesitteten Haushalt zu führen. Vielleicht, wenn ihnen auch einmal eine Beziehung wie Erik und ihr passieren würde. Nur fehlten ihnen dazu die Voraussetzungen. Jeder Mann, den sie in den letzten anderthalb Jahren mit nach Hause gebracht hatten, hatte angesichts des Zustands ihrer Zimmer seinen Besuch nicht mehr wiederholt. Mia redete sich gerne ein, dass sie daran nicht ganz unschuldig war oder besser gesagt der Umstand, dass sie ihren Fußabtreter nicht vor der Wohnungstür, sondern vor ihrer Zimmertüre liegen hatte. Es sollte ein gewisses Signal aussenden, wofür die zwei Mädels offenbar blinder waren als ihre Besucher.

Diese Mängel hatten sie offenbar versucht, mit einer makellosen Haut und schönen Haaren zu übertünchen. Das Waschbecken im Badezimmer war fleckig von Haarfarbe und die Armaturen verbargen sich unter einer soliden Schicht aus Peeling, Gesichtsmasken und Hautcremes. Wenigstens wollte Mia es für genau das halten und nicht wissen, was sich sonst noch dort verbarg. Es war schon schlimm genug, dass offenbar die Puderdose explodiert war, und ihr Make-up auf so ziemlich jeder Fläche im Bad klebte. Außer auf der Fußmatte, die in die Ecke geknüllt vor sich hin moderte.

Mia stellte ihre Schuhe neben der Zimmertüre ab, ging hinein, schloss sie gut hinter sich ab und setzte sich auf ihr Bett. In ihrem Kopf formte sich ein Entschluss, den sie für unmöglich gehalten hatte. Sie würde hier ausziehen. Bald! Und nicht nur das, sie würde bei dieser Gelegenheit einmal ihren Freund überraschen wollen. Kopfüber in einen Ozean aus eiskaltem Wasser, hinein in ihr großes Abenteuer. Er würde überrascht sein und es für einen Scherz halten, aber sie wollte es tun. Sie wollte ihn fragen, ob er mit ihr zusammen in eine gemeinsame Wohnung zog. Oh, wie sehr musste sie sich morgen für diesen Entschluss hassen.