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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 171.

Heute leider einmal gründlich verspätet, denn das Wochenende ist mit strahlendem Sonnenschein und wunderbaren Temperaturen im Gepäck gekommen. Da muss man doch raus und hat keine Zeit, irgendwelche Geschichten auf ominösen Webbloggs zu lesen. 😉

Rehabilitation

„Was hat sich denn nun eigentlich mit dem Job ergeben? Du meintest doch, der Lehrstuhl hätte sich endlich gemeldet.“

Flo war der Ansicht, dass Erik sich deutlich gebessert hatte. Er war wieder dazu übergegangen regelmäßig zu duschen, trug saubere Kleidung, hatte sich rasiert und wirkte generell wieder etwas wacher, anwesender und neugieriger. Sein Zimmer war aufgeräumt, wenn auch immer noch etwas staubig, aber im Großen und Ganzen sauber. Immerhin hörte er ihm zu und zeigte dies auch noch durch passende Fragen. Das alles war im letzten halben Jahr durchaus sehr viel anders gewesen. Flo hatte sich dabei bereits so sehr an den „neuen“ Erik gewöhnt, dass er nun eine Weile brauchte, um sich zu erinnern, dass er ihm ja bereits vor einer Woche von der ausstehenden Hiwi Stelle erzählt hatte.

„Ja, sieht so aus, als würde er was werden. Unterschrieben ist noch nichts, aber bei dem Lehrstuhl wundert mich das nicht. Sie haben uns jetzt aber immerhin mal zu einer Besprechung in zwei Wochen eingeladen und wollen bis dahin wissen, wer welchen Termin übernimmt. Hatten sie dich nicht auch gefragt?“

Erik spülte seine letzte Kaffeetasse und räumte sie zum Trocknen ins Trockenreck. Eine weitere Eigenschaft, die so langsam wieder zurück kam. Er bekam

„Nein, haben sie tatsächlich nicht. Ich meine, es hätte mich gewundert, wenn sie mich gefragt hätten. Die haben ja meine Hausarbeit auch vorliegen und du meintest ja auch, er hat dich angesprochen, weil du von der Persönlichkeit her auf das Profil passt. Der weiß selbst, dass ich nicht angenommen hätte. Ich mache keinen Job mit Kundenkontakt.“

„Hast du denn wieder was?“

„Noch nicht, aber ich bin dran. Habe ein Angebot bekommen, von da, wo ich schon mein Praktikum im Bachelor gemacht hatte. Den Job kann ich mir dann auch wieder als Praktikum anrechnen lassen.“

„Dann ist es wenigstens ein bezahltes Praktikum. Hat auch seine Vorteile.“

„Stimmt, es kann schließlich nicht jeder Überzeugungstäter sein. Wie geht es eigentlich Kristina?“

„Ganz gut soweit. Viel Arbeit natürlich, aber demnächst hat sie ein paar Tage vor Semesterbeginn frei, da wollten wir mal weg fahren. Wie sieht es denn bei dir aus? Was ist mit Marlene geworden? Sie hieß doch so, oder?“

Erik warf einen vorsichtigen Blick in einen Topf, den er im Kühlschrank gefunden hatte, und stellte erfreut fest, dass der Inhalt etwas angetrocknet aber noch genießbar war. Für den Abend wanderte er zurück in den Kühlschrank.

„Oh ja, läuft ganz gut, wenn man so will. Kommt vielleicht etwas auf die Betrachtungsweise an.“ Flo hob fragend die Augenbrauen. „Nicht falsch verstehen, sie ist eine tolle Frau. Zuckersüß, wunderschön, intelligent, und leider völlig durchgeknallt. Sie hat ein Helfersyndrom und sucht sich wohl unbewusst immer die Männer, bei denen es etwas zu reparieren gibt.“

„Also bist du ihr Projekt und sie will dich reparieren?“

„Nein, das kann sie nicht. Aber ja, ich glaube, das ist es, was mich für sie interessant macht. Sie will immer anderen helfen, oder zu Hilfe verhelfen, aber selbst sieht sie nicht ein, dass sie Hilfe braucht. Ich komme ja wieder aus meinem Loch raus, aber sie sieht nicht einmal ein, dass sie in einem drin steckt. Deswegen wird es am Ende wohl nicht klappen, auch wenn es zur Zeit noch sehr schön ist. Sie braucht mich halt, um glücklich zu sein, aber ich bin nicht auf sie angewiesen. Wir müssen also etwas finden, um sie auf eigene Füße zu stellen. Wenn das klappen sollte, dann kann es funktionieren. Aber wie überzeugt man jemanden davon, dass er Hilfe braucht, der in dem festen Glauben ist, alles würde gut werden, wenn man nur jemand anderem hilft?“

Flo verstand, was Erik damit meinte. Und er spürte Eriks leise Hoffnung, ihr doch noch helfen zu können und vielleicht jemandem an seiner Seite zu haben, der er auf Augenhöhe begegnen konnte, vielleicht zum ersten mal seit … immer.

Steinwands Hauskatze

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 166.

Kontrollverlust

„Ich verliere halt einfach die Kontrolle über mein Leben. Ich stehe auf, weil ich ja nicht den ganzen Tag im Bett liegen kann, gehe duschen, weil es im Zeitplan steht, lasse den Bart stehen, weil das die Mühe zum Rasieren spart, und esse, weil man das halt so macht und ich das schon immer gemacht habe. Ich mein, ich kann es ja auch einfach bleiben lassen. Letztens habe ich es für zwei Tage vergessen und es war auch okay, also wieso isst man überhaupt? Ich verstehe, wieso man duscht. Es ist einfach eine Frage der Höflichkeit, wenn man die Wohnung verlässt. Das Gleiche gilt fürs Zähneputzen. Das Problem ist meines, jemanden anderes da mit hinein zu ziehen wäre unfair. Aber für die Tage, an denen nicht absehbar ist, dass man aus dem Haus kommt, hilft nur der Kalender. Hat man halt immer so gemacht, macht man also weiter. Aus der Konditionierung heraus, nicht aus der Motivation.“

„Und außerdem bist du völlig betrunken. Ein Wunder, dass du noch geradeaus denken kannst. Vielleicht solltest du Alkohol zu deiner Liste von möglichen Problemen mit hinzufügen?“

„Und das aus deinem Mund. Siehst du, das meine ich halt. Wir werden langsam alt. Sogar du bekommst dein Leben auf die Reihe und immerhin warst du derjenige, der immer nur auf Saufen und Party aus war. Da hast du auch nie einen Grund gebraucht aber es trotzdem irgendwie gepackt. Aber aus welchem Grund machen wir das hier alles? Aus welchem Grund soll ich den Master fertig machen? Nur um danach trotzdem nichts zu haben, womit ich weiter machen kann?“

Flo grübelte eine Weile über diese Worte und seinem ersten Bier. Erik hatte nicht völlig unrecht, sie wurden alle nicht jünger. Es stimmte auch, dass sein Leben einen gewissen Alltag bekommen hatte, eine gleichmäßige, beständige Ruhe. Aber er fühlte sich sehr wohl damit und sah die Möglichkeiten, die es ihm für die Zukunft bot. Kristina und er würden eine Familie gründen können und vielleicht eines Tages ein eigenes Haus beziehen. Erik hatte bereits lange vor ihm diese Pläne gehabt. Er war mit Mia zwar nicht immer glücklich gewesen, aber es war für ihn wohl der logische Schritt gewesen. Jetzt kam er aus dieser Bahn nicht mehr heraus und sah keinen Grund mehr, irgendetwas fortzuführen.

„Warst du eigentlich inzwischen mal bei der Beratung? Wenigstens bei einer davon? Ich habe dir doch ein paar Adressen gegeben.“

Erik leerte neben ihm sein Bier und bestellte gleich ein neues. Es musste bereits sein zehntes sein. Mit etwas Fantasie konnte man das Kopfwackeln als Nicken deuten.

„Ich habe angerufen und nach einem Termin gefragt. In drei Monaten wäre etwas frei, meinten sie. Marlene ist etwas durchgedreht, als ich ihr das erzählt habe. Sie ist dann mit mir wo hingegangen und es gab sofort ein Erstgespräch. Es war etwas merkwürdig, weil sie vorher noch kurz mit der Therapeutin geredet hat und da klang es so, als wäre ich drauf und dran von der Brücke zu springen.“

„Und das warst du nicht?“

„Nein! Also nicht sofort. Aber das ist doch völlig unerheblich.“

„Doch, es ist erheblich. Du bist ein akuter Fall, deswegen hat sie dich auch hin geschleift und den Termin ausgemacht. Dir ist es einfach inzwischen zu egal. Du würdest dich mit einem Termin in nem Jahr abspeisen lassen und in der Zwischenzeit einfach verschwinden, um niemandem Sorgen zu bereiten. Aber so funktioniert das nicht. Wir bringen dich jetzt erst einmal wieder auf die Kette, danach kannst du uns immer noch die Meinung darüber geigen.“

Oh und wie er ihm die Meinung geigen würde. Flo hatte sich bereits mit Marlene darüber unterhalten und auch wenn sie nie vor hatte, Psychologie zu studieren, wusste sie doch, dass Erik für eine Weile stationär behandelt werden würde und das war nicht nach seinem Geschmack.

Market Theater

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 163.

Ich habe überlegt, ob ich den heutigen Beitrag wirklich veröffentlichen möchte. Er bespielt ein etwas unbequemes Thema und könnte ggf. jemandem fies aufstoßen. Für diejenigen, die wissen, dass ich auch immer wieder einzelne Themen aus meinem Leben und Umfeld zu Geschichten umbaue: Keine Sorge, es ist alles in Ordnung hier 😉 Das ist fiktional.

SVV

Ein wenig bedauerte Erik es, nichts zu spüren, als er Marlene die Tür öffnete. Ähnlich bedauerte er, überhaupt die Tür geöffnet zu haben, aber in seinem allgemein recht nebligen Gehirn, war ihm spontan kein hinreichend guter Grund dagegen eingefallen. Jetzt kamen zwar die Gründe, doch es war bereits zu spät. Marlene war da und sah sich skeptisch um.

Wieso muss ich bloß immer so ein Glück bei der Wahl meiner Männer haben?“ ging es ihr durch den Kopf. Völlig berechtigt seufzte sie schwer. Ihr Blick fiel auf Eriks gleichgültige, maskenhaft unbewegte Mine, auf den rotbraunen Fleck an der Wand und, als er sich umdrehte, um die Tür hinter ihr zu schließen, auf seinen Hinterkopf. Die eh schon strähnigen blonden Haare waren durch das krustige Blut nur noch ungepflegter geworden. Schweigend setzte sie sich auf die Bettkante und sah ihn an.

„Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?“

Erik mühte sich um keine Phrasen wie „schön, dass du da bist.“ Sie hätten beide gewusst, dass es gelogen war. Er hätte nicht gewollt, dass sie ihn so sah, aber jetzt gerade war es ihm ohnehin egal. Alles war ihm egal. Auch die Kopfschmerzen störten ihn nicht, er konnte sie sich später immer noch aus dem Kopf schlagen. Stattdessen zwang er sich, eine Tasse Tee für seinen Besuch zusammenzubekommen. Er fühlte sich schlapp und seine Arme zitterten, als er den Wasserkocher aus dem Waschbecken hob.

„Warum hast du es getan?“

Die Frage klang so unschuldig und harmlos. Sie beide wussten, es würde keine Antwort darauf geben. Marlene konnte sich denken, dass es nicht zum ersten Mal so weit gekommen war. Erik zuckte nur unbestimmt mit den Schultern. Durch seinen dichten geistigen Nebel hindurch fand er einen Teebeutel einer beliebigen Sorte. Vermutlich war es Pfefferminz oder ein Beerentee. Unverfänglich und daher sicherlich geeignet.

Er würde ihr nicht sagen, dass er es getan hatte, weil es sich gut anfühlte. Das war nicht die Antwort, auf die sie hinaus wollte. Sie wollte wissen, wieso es sich gut anfühlte und wie es vorher gewesen war. Den ersten Punkt konnte er nicht beantworten, den Zweiten wollte er nicht. Das war ja der Sinn der Sache gewesen, sich nicht mehr damit befassen zu müssen. Hinfort mit der Anspannung, dem Herzrasen, dem widerlichen Geschmack auf der Zunge und der ewig hysterisch schreienden Stimme in seinem Kopf. Hinfort mit dem Drang, hinauszugehen und weg zu rennen, irgendwohin ganz weit weg, wo ihn niemand fand. Er wollte sich keinen Wecker mehr stellen, der ihm vorschrieb, duschen oder essen zu müssen. Lästige aber notwendige Zeitverschwendung, die er dennoch zu oft ausließ. Nicht, dass er die Zeit stattdessen nicht anders verschwendet hätte.

Sie nahm ihm den fertigen Tee ab und sah ihn mit ehrlicher Sorge an. In ihrem Blick lag keine Verurteilung oder Tadel, wie er es von Mia kannte, wenn er etwas anders gemacht hatte, als sie es sich vorstellte. Es war einfach offene und ehrliche Anteilnahme. Konnte diese Frau ihre Gefühle eigentlich verbergen, wenn sie es wollte? Konnte sie lügen, wenn es sein musste? Erik konnte es sich nicht vorstellen.

Er musste dringend aufhören nachzudenken. In seinem Hinterkopf begann es bereits wieder zu kribbeln und das Gefühl von Luftblasen, die sich durch zähen Sirup kämpften, knetete seinen Brustkorb von innen durch. Mit Mühe widerstand er dem Zwang, sich wieder an die Wand zu stellen und sich jede Gefühlsregung aus dem Kopf zu schlagen. Stattdessen setzte er sich neben Marlene auf die Bettkante und war ein ganz kleines Bisschen stolz, wenigstens diese Spur Kontrolle zurück erlangt zu haben.

Kontrolle. Um die hatte er sich immer bemüht. Jetzt hatte er sie vollends verloren. Das hier war nichts mehr, was er abtun konnte. Beim Blick auf den blutigen Fleck war ihm das deutlich. Es war in einem Ausmaß eskaliert, das er nie hätte zulassen dürfen. Wieder stieg Panik in ihm auf und wieder rang er sie nieder. Dieses Mal konnte er es noch schaffen, aber bald würde ihm die Kraft ausgehen. Was würde dann werden? Wer würde überhaupt etwas davon mitbekommen? Wer würde sich daran stören? Er durchforstete seine Erinnerungen und fand nur graue Schleier. War da echt niemand mehr, der wichtig war? Da musste jemand sein. Voller Verzweiflung rannte er durch ein Labyrinth grauer, imaginärer Wände und Bilder. Von außen war davon nur zu sehen, wie er vor Anstrengung zitterte.

Marlene konnte sich keine Vorstellungen davon machen, was gerade in seinem Kopf vor sich ging. Sie konnte allerdings sehen, dass er litt. Dafür, dass er den Weg in die reale Welt nicht geschafft hatte, sprach auch, dass in ihrer Tasse zwei Teebeutel schwammen. Einmal liebliche Himbeere, einmal Pfefferminz. Die Mischung harmonierte nicht gut.

In einem Versuch, etwas Trost und Kraft zu spenden, stellte sie die Tasse beiseite und legte ihren Arm um seine Schultern. Als Reaktion darauf zerbrach er unter ihren Händen. Hilflos streichelte sie über das Häufchen aus verkrustetem Blut und frischen Tränen neben ihr. Sie konnte nur abwarten, ihn dann unter die Dusche scheuchen und in der Zeit den nächsten psychologischen Notdienst finden. Für sie war das hier eine ganze Reihe von Hausnummern zu groß.

Falls Du selbst Schwierigkeiten mit solchen Themen hast, oder jemanden kennst… Warte nicht darauf, bis es so eskaliert, wie bei Erik hier. Es gibt Leute, die nur dafür da sind, da wieder raus zu helfen. Ausreden gibt es nicht, sie sind leicht zu finden. Eine kleine Übersicht und Hilfestellung gibt es beispielsweise auf Achterbahn.Ninja.

Schwarzes Moor

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 161.

Kein Bock und keine Zeit

Flo war ganz grundsätzlich ein Freund von Ehrlichkeit. Bequeme Lügen mochten auf kurze Sicht manches leichter machen, aber auf lange Sicht kam es doch immer wieder zurück. Ehrlichkeit in einem Ausmaß, wie in diesem Gespräch mit Erik aber, irritierte ihn dann doch. Dabei hatte er eigentlich nur wissen wollen, ob er mit in den Pub kommen wollte.
„Nein, tut mir leid. Heute schaffe ich es nicht mehr, ich bin schon ausgebucht.“
„Alles klar. Liebe Grüße, falls du etwas mit Marlene geplant haben solltest. Ihr habt doch noch Kontakt, oder?“
„Ja, haben wir, aber heute werden wir uns nicht sehen. Ich wollte eigentlich etwas lernen, habe schließlich immer noch eine Klausur ausstehen. Die Letzte.“
Daran hätte er denken können. Erik hatte die Klausur schon oft genug erwähnt, nur in letzter Zeit hatte er nicht mehr besonders motiviert gewirkt. Abgesehen von Seminararbeiten würde dies seine Letzte Prüfung vor der Abschlussarbeit sein. Die Zeit raste regelrecht. Nur was war dieser Unterton?
„Eigentlich? Klingt nach etwas viel Konjunktiv für eifrige Begeisterung.“
„Stimmt. Eigentlich sitze ich die ganze Zeit am Rechner und prokrastiniere. Wahlweise gucke ich Dokus oder zocke etwas. Aber es ist schön ruhig und entspannt und niemand stört mich dabei.“
„Du willst also einfach etwas Ruhe haben im Moment.“
„Ja.“
„Hat sich Mia bei dir gemeldet?“
Bei dem Namen zuckte Erik kaum merklich zusammen. Flo konnte ihm ansehen, dass er sich nicht einig war, ob er über das Thema reden wollte oder nicht. In seinen Augen zeigte sich allerdings keine Regung, weder Leidenschaft noch Wut oder Liebe.
„Wieso hätte sie das denn tun sollen?“
„Sie fragt gelegentlich nach dir, will wissen, wie es dir geht und so. Bei dir direkt melden wollte sie dann aber auch nicht.“
„Gut. Ich hätte ihr auch sicherlich nichts zu sagen gehabt, also wäre es vergebene Liebesmüh.“
Das konnte Flo sogar gut nachvollziehen. Es war ihm immer etwas merkwürdig vorgekommen, mit welcher Beharrlichkeit Mia versuchte über Erik auf dem Laufenden zu bleiben. Irgendetwas hinderte sie daran, ihn wirklich hinter sich zu lassen. Es schmerzte ihn allerdings zu sehen, dass auch Erik sich offenbar nicht gut von dem Schlag erholt hatte. Es war nicht das erste mal in den letzten Tagen und Wochen, dass Erik sich als Beschäftigung für das Wochenende die Isolation des heimischen Zimmers ausgesucht hatte. Es war allerdings selbst für ihn nicht typisch, dermaßen deutlich zu sagen, dass er einfach keine Lust hatte. Er ließ sich für Flos Geschmack etwas zu sehr gehen.

Wasserkuppe

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 160.

Murmeltiertag

Es wäre gelogen, zu behaupten, Erik hätte sich gefreut, als Marlenes Nummer auf dem Display seines Telefons erschien. Er wusste sogar bereits, worauf sie aus war, was sie wollte, und er wusste, dass es ihm heute nicht gelegen kam. Im Dämmerlicht wickelte er einen Arm aus der dicken Bettdecke, sodass er wenigstens nach dem Telefon greifen konnte. Vielleicht war es besser, sie einfach zu ignorieren. Nicht, dass das irgendeinen Zweck gehabt hätte. Sie würde einfach später noch einmal anrufen. Es gab also keinen Grund, es nicht jetzt hinter sich zu bringen.

Sein Blick glitt zur Uhr, und wenn es ihm nicht eigentlich egal gewesen wäre, dann hätte es ihn vielleicht erstaunt, dass sie bereits drei Uhr nachmittags anzeigte. Gestern hatte er es wenigstens geschafft, bis zwei Uhr das Bett zu verlassen. Auch wenn er auch danach nichts mit dem Tag hatte anfangen können. Er hatte in seinem Schreibtischstuhl gesessen und sich einem traumlosen Halbschlaf hingegeben, während beliebige Streamingvideos auf dem Monitor vor sich hin brabbelten. Er hätte nicht ein Einziges davon noch mit Namen benennen können.

Was Marlene betraf, hatte er sich nicht geirrt. Seine Gesellschaft hatte sie gewollt, zum Abendessen oder Kino. Seine Anwesenheit bei gesellschaftlichen Aktivitäten, für die er das Haus verlassen musste. Noch schlimmer, er würde dafür sein Bett verlassen müssen. Und allein die Höflichkeit gebot es, sich dann auch die Zähne zu putzen und zu duschen. Immerhin bot ihm die aktuelle Mode die Option, seinen fleckigen und absolut kümmerlichen Bartwuchs dennoch als Versuch gelten zu lassen, einen Vollbart zu züchten. Das würde ihm zwar mitleidige Blicke einbringen, aber die würde er so oder so bekommen. Davon war er überzeugt.

Es tat ihm ehrlich leid, ihr abzusagen. Das war vielleicht die intensivste Gefühlsregung der ganzen Woche gewesen. Erik wusste, dass sie es nur gut meinte, und vermutlich wäre es sogar genau das, was er zurzeit benötigte. Es würde ihm gut tun und vielleicht sogar gefallen. Aber war es ihm das wirklich wert? Dann müsste er sich ebenfalls eingestehen, dass er vielleicht ein kleines Problem mit sich selbst hatte. Eines, das er nicht so ohne Weiteres alleine lösen konnte. Eines, von dem auch Marlene lieber nichts wissen sollte, obwohl sie es sicherlich bereits lange vor ihm gewusst hatte.

Mürrisch drehte er sich im Bett um, leerte seine Wasserflasche und ärgerte sich, keine weitere da zu haben. So oder so würde er wohl heute noch aufstehen müssen. Er schlug die Decke zur Seite und der beißende Geruch viel zu lange nicht mehr gewaschener Bettwäsche und darin vegetierender Menschmasse kroch ihm in die Nase. Er ekelte sich vor sich selbst und konnte nicht verstehen, wie Marlene so hartnäckig seine Aufmerksamkeit suchte.

Und dann überraschte er sich doch noch selbst, als er sich mit einem dumpfen Platschen auf den kalten Boden vor dem Bett fallen ließ. Es war zwar nicht sein Plan gewesen, aber er hätte diesen und die folgenden Tage gerne einfach im Bett verbracht, ohne irgendetwas zu tun oder zu denken. Stattdessen kroch er jetzt in Richtung Badezimmer, um sich dennoch herzurichten. Nicht für sich selbst, sondern für Marlene. Er würde sie anrufen, sich entschuldigen und fragen, ob sie noch Interesse an einem kurzen Spaziergang oder Kino hätte. Wer weiß, vielleicht würde sie ihm ja sogar eine weitere Gefühlsregung bescheren.

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Bildquelle: Pixabay

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 159.

Silvester allein

Erik stand am Fenster seiner winzigen Studentenbude, allein und mit einer Flasche Sekt in der Hand, die jedes Mal übermäßig schäumte, wenn er sie sich an den Hals setzte. Draußen beobachte er die Gruppen von Menschen, die unterwegs waren zu irgendwelchen Partys oder von der einen zur anderen. Es herrschte allgemeine Ausgelassenheit und immer wieder erleuchtete das bunte Aufblitzen einer verfrühten Rakete die Nacht. Das war es also dann gewesen, das letzte Jahr.

Vor einem Jahr noch hatte die Welt gründlich anders ausgesehen. So vieles war passiert und hatte sich verändert. So vieles war noch immer wie damals und so vieles würde in einem Jahr schon völlig in Vergessenheit geraten sein, was aktuell wie ein Ereignis von globaler Tragweite wirkte. Wahlweise im ganz Großen oder auch im ganz Kleinen.

Vor einem Jahr hatte er mit Mia gemeinsam das Feuerwerk bewundert, Arm in Arm, und vom Balkon ihrer gemeinsamen Wohnung aus. Sein größtes Problem war es gewesen, dass Mia ihm eine Affäre mit Tina unterstellte, die so nie stattgefunden hatte. Eben jene Tina wohnte jetzt gemeinsam mit eben jener Mia in ihrer ehemals gemeinsamen Wohnung. Sie belegte nun die Seite im Bett, auf der er einst geschlafen hatte. Es war ein seltsames Gefühl daran zu denken, eines, welches ihm nicht besonders behagte und auch der Sekt wollte es nicht recht aus dem Mund spülen, mochte er auch noch so sehr prickeln und schäumen.

Überhaupt schien dieses Jahr die ganze Welt den Verstand verloren zu haben. Die politischen Führer dieser Erde mussten geschlossen zu dem Entschluss gekommen sein, dass gesunder Menschenverstand nicht mehr zeitgemäß war, und hatten alle Regeln der Diplomatie über Bord gegeben. Wie in blindem Wahn prügelten sie nun verbal aufeinander ein. Angeblich so gerechte und souveräne Demokratien inhaftierten nach Belieben unbequeme Persönlichkeiten oder eigentlich unbeteiligte Angehörige von politischen Gegnern. Alle Seiten drohten blindlings mit Kriegen, die sich keiner der beteiligten hätte leisten können. Gleichzeitig war Hirnleistung in diesen Kreisen derart rar gesät, dass diese ansonsten hohlen Phrasen so ernst genommen wurden, wie lange nicht mehr.

„Die Welt ist im Wandel“ geisterte die Zeile eines seiner Lieblingsbücher durch Eriks Kopf und eine weitere Welle bitteren Geschmacks flutete seinen Mund. Er hatte Flo immer für zu sorglos und naiv gehalten, wenn er mit seiner positiven Grundstimmung nach außen hin und wenigstens zwei Bier nach Innen hin durch die Gegend gehüpft war. Jetzt beneidete er ihn um diese Unbedarftheit, doch auch Flo hatte sich in letzter Zeit geändert. Er war sehr viel ruhiger geworden, öfter einmal einen ganzen Abend nüchtern geblieben und hatte sogar das ein oder andere Mal Pläne für mehr als eine Woche im Voraus gemacht und gehalten. So vieles war passiert.

Von seinen eigenen Plänen war nicht mehr sehr viel übrig geblieben. Dieses Jahr hatte doch eigentlich das seine werden sollen. Die gemeinsame Zukunft mit Mia hatte konsolidiert werden sollen, und wenn sie dann im nächsten Jahr ihren Abschluss schaffte, hatte er mit ihr eine Familie gründen wollen. Klar, sie waren schon lange nicht mehr auf Wolke Sieben. Eher auf Wolke Fünf oder sogar Vier, aber es war beständiger geworden und das hätte ihm völlig gereicht. Die große Liebe war schließlich eh ein Mythos. Es galt immer Kompromisse einzugehen und dies hier wäre seiner gewesen. Er hätte zu Hause bleiben und sich um das Kind kümmern können, während sie ihre Karriere verfolgte.

Statt eines Kinderzimmers hatte er dann aber diesen Schuhkarton von einer Wohnung eingeräumt.

Marlene hatte seinen Kinderwunsch aufgegriffen und hätte diese Lücke liebend gerne gefüllt. Sie hatte sich wirklich um ihn bemüht und es hatte sich für eine Zeit sogar wirklich herrlich angefühlt. Doch er hatte keine wirkliche Verbindung zu ihr finden können und musste sich eingestehen, dass er nicht so weit war. So sehr er ihr diese Chance auch hatte geben wollen, sie wäre für ihn immer nur eine Art Ersatz-Mia gewesen. Ihm wäre das unfair vorgekommen.

Er hatte versucht sich vorzustellen, wie er sich fühlen würde, wenn er nur ein Lückenfüller oder ein Spielzeug in einer Beziehung sein würde. Das Gefühl, was er fand, ähnelte sehr dem, welches er in den letzten Monaten bei Mia empfunden hatte. Allein die Vorstellung, das jemand anderem anzutun, löste Ekel vor sich selbst in ihm aus. Und dennoch hatte er sich auf die Idee fixiert, mit dieser Person eine Familie gründen zu wollen? Vielleicht sollte er doch Flos Rat befolgen und einmal professionelle Hilfe konsultieren.

Vielleicht wäre das ein guter Vorsatz für das neue Jahr. Er konnte sich zwar nicht ausmalen, was das denn bringen sollte, aber was konnte es denn schon schaden? Er würde ohnehin viel Kraft für das Jahr benötigen. Ein Jahr, in dem er vor viel Arbeit stand und an dessen Ende hoffentlich sein Abschluss nur noch in Rufweite stand. Dann würde sich schon wieder alles ändern. Wenigstens in diesem Punkt waren Mia und er sich sehr ähnlich gewesen. Sie waren beide sehr unflexibel und nur mit viel Vorlauf spontan.

Und während draußen immer mehr und mehr Raketen in den Himmel stiegen und die Uhr unerbittlich auf Mitternacht zu hielt, griff er zum Telefon, um Marlene einen guten Rutsch und ein Jahr voller erfüllter Träume zu wünschen. Er traute sich so gerade eben noch zuzugeben, dass er selbst gerne einer dieser Träume war.

Und in diesem Sinne wünsche ich euch einen guten Rutsch in ein erfolgreiches und wunderbar glückliches neues Jahr. Macht das Beste daraus und geht doch einmal diesen einen großen Traum an, der euch schon so lange im Hinterkopf herum spukt (und ich bin überzeugt, Dir ist gerade ein sehr spezifischer Gedanke durch den Kopf gegangen). Bis nächstes Jahr!

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 156.

Familienfeiern

Erik fühlte sich etwas verloren, wie er in dem großen Raum stand, in den immer mehr Menschen strömten. Die meisten kannte er, viele nur flüchtig, aber einige auch besser. Entfernte Verwandte, die man nur wenige Male im Jahr, wenn überhaupt, sah, aber auch der harte Kern, den man mit einer gewissen Regelmäßigkeit sah, und der für ihn das Bild der Familie ganz klar geprägt hatte. Aber zu größeren Familienfeiern, wie dieser hier, kamen wirklich alle zusammen.

Für ihn war das einfach zu viel. Dabei hatte er seine Familie eigentlich gern, aber zurzeit konnte er gut auf die vielen Fragen verzichten. Es musste allen auffallen, dass er diesmal keine Begleitung hatte, das erste Mal seit über zwei Jahren. Das würde viele Fragen aufwerfen und ein einfaches Vertrösten würde ihm nicht abgekauft werden. Auch wenn Mia immer gut beschäftigt gewesen war, zu seinen Familienfeiern hatte sie ihn immer begleitet. Vielleicht lag das in ihrer Natur als Familienmensch. Und sie hatte ihn immer so ungerne alleine wegfahren lassen, aber darüber hatte er sich nie wirklich Gedanken gemacht.

Sie würde jetzt wirklich als Wellenbrecher fehlen, konnte nicht mehr das Interesse von ihm ablenken und Gespräche für ihn führen. Jetzt würden alle zu ihm selbst kommen und Fragen stellen. Was noch schlimmer war, sie würde Gegenstand dieser Fragen sein. Jeder kannte Mia, dafür hatte sie gesorgt, und jetzt würde ihr Fehlen auffallen. Alle würden nach ihr fragen, und wenn es ein Thema gab, über das er nicht sprechen wollte, dann war es Mia.

Was sollte er ihnen denn sagen, wenn sie fragten, wo er seine Freundin gelassen habe? Dass sie keine Zeit gehabt hätte? Dass er sie nicht gefragt hätte? Dass er sie bei ihrer Freundin gelassen hatte? Dass sie nicht mehr seine Freundin war? Dass er ohne sie in eine andere Wohnung umgezogen war? Dass sie ihn für eine seiner Freundinnen verlassen hatte und nicht einmal den Anstand besessen hatte, es ihm auch zu sagen? So oder so würde es weitere Fragen geben. Fragen, auf die er mehr als gerne verzichten würde. Wieso war er überhaupt hierher gekommen?

Die letzte Frage konnte er sich zwar beantworten, wollte aber nicht so wirklich. Es war reine Langeweile gewesen. Er war es leid gewesen, die Wochenenden alleine in seinem Zimmer zu verbringen, den Blick wahlweise auf die nackten Betonwände oder den Monitor voller Paper, oder auch einmal einem Film, gerichtet. Flo hätte ebenfalls keine Zeit gehabt, die Abende mit ihm in der Kneipe zu versacken und Tina gehörte aktuell auch nicht zu den Menschen, die er zu seiner bevorzugten Gesellschaft zählen wollte. Das hier war ihm sogar wie eine tatsächlich verlockende Alternative vorgenommen.

Wie er sich für diese Entscheidung verfluchte. Klar, seine Cousine hatte mit viel Verständnis und wenig Fragen reagiert, genau wie der Rest des harten Kerns. Nur seine Tante hatte es für nötig befunden, ihr Bedauern auszudrücken. Vermutlich aber auch das nur deswegen, weil sie nicht wissen konnte, auf welche Weise sie sich getrennt hatten. Sie wussten alle nur, dass diese Beziehung Geschichte war.

Für Tante Irma würde das nicht gelten. Die in irgendeinem entfernten Verwandtschaftsverhältnis angeheiratete Frau war laut, schrill, neugierig und niemals still. In diesem Moment wuchtete sie ihr „klein wenig Wohlstandsspeck“, welches mehr als genug für eine mittlere Großstadt in einer wirtschaftlich sehr gut aufgestellten Region war, über die Schwelle, und fiel sofort hemmungslos Küsschen und vom Schweiß klebrige Umarmungen verteilend, über jeden, der nicht schnell genug außer Reichweite war. Vermutlich war das Atmen selbst bereits anstrengend genug für sie, dass sie permanent schweißnass war.

Ein schwärmerisches Kompliment über das Kleid der Tante hier, ein unangemessener Kommentar, wie fesch der Cousin doch geworden war und wie gerne sie da noch einmal jung sein würde, eine offensichtlich viel zu herzliche Umarmung seiner Oma und ein verschwörerisches Zwinkern zu einem der Verwandten, dessen Namen sich Erik noch jedes Mal neu sagen lassen musste. Dann hatte sie auch schon ihn entdeckt und quetschte sich mit einem vergnügten Quietschen durch die Reihen, hinter denen er sich so gut versteckt hatte halten wollen. Ein schrilles „Jungchen“ von sich stoßend fiel sie ihm um den Hals, wenigstens soweit es ihr möglich war. Es war offensichtlich, dass sie nur verbergen wollte, dass sie seinen Namen vergessen hatte, sich aber an das Gesicht erinnerte.

„Wo hast du denn die schöne Frau an deiner Seite gelassen?“

Mit neugierigen Äuglein, die in ihm irgendwie immer die unbewusste Assoziation mit Schweineaugen auslösten. Heute hatte er nicht einmal ein schlechtes Gewissen deswegen. Es würde ein sehr langer Abend werden und er fühlte sich jetzt schon müde.

Vancouver ArtGalery

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 154.

Schönheitsideale

In all den Jahren, die Erik inzwischen an der Uni war, hatte er fast immer Gesellschaft beim Essen gehabt. Zunächst, weil er anfangs fast nie in der Mensa gewesen war und danach, weil er immer Gesellschaft gehabt hatte. Sei es durch Mia, Flo, Tina oder wen anders. Wenn es einen Ort gab, wo sich der ganze Studiengang, wenn nicht die ganze Uni traf, dann war es die Mensa. Und doch schlurfte Erik heute, wie schon die letzten Male, hungrig aber lustlos und vor allem alleine in Richtung der Fütterungseinrichtung. Mit müden Augen suchte er die Menge nach bekannten Gesichtern ab, fand aber nur solche, die hektisch in kleinen Grüppchen unterwegs waren oder nicht minder hektisch allein, aber in Richtung kleiner Grüppchen ihrer Freunde.
In der vagen Hoffnung, doch noch irgendwo Anschluss zu finden, bemühte er sich um eine Haltung, die nicht ganz so deutlich zeigte, wie erschöpft er sich eigentlich fühlte. Mit einer vollständig gespielten Offenheit versuchte er zwei Mädels zuzulächeln, die ihm gerade entgegen kamen. Es wäre gelogen zu behaupten, sie wären ihm schon von Weitem aufgefallen. Dafür war er aktuell viel zu kurzsichtig. Aber jetzt, wo sie schon näher herangekommen waren, fand er, die Wahl wäre definitiv auf die Richtigen gefallen. Leider sahen die beiden das etwas anders und blieben völlig in ihr Gespräch vertieft.
„…die dann erwarten, dass man immer perfekt hergerichtet ist und geschminkt und alles, aber sich selbst nicht vernünftig rasieren können.“
„Ja, das ist wirklich schrecklich. Vor allem scheuert das dann so. Ich mein, mal nicht geschminkt ist nicht so ein Drama. Dann macht man halt das Licht aus und schon passt es wieder. Aber nicht rasiert? Du würdest dich wundern, wie dünn deine Haut auf einmal ist.“
„Ja, aber ehrlich. Und dann auch noch Ansprüche stellen. Wie der Typ von letztens, der mit den dunklen Locken, der sich für den größten Stecher gehalten hat. Echt, ich hab nur kurz mit dem rum gemacht und hatte schon keinen Bock mehr, dafür aber das ganze Kinn zerkratzt. Stell dir vor, ich hätte den mitgenommen, dann könnte ich jetzt noch immer nicht mehr laufen.“
Erik strich sich geistesabwesend über sein eigenes stoppeliges Kinn. Er hatte sich die letzten Tage nicht unbedingt vorbildlich um sich selbst gekümmert aber beim Blick in den Spiegel war ihm heute Morgen aufgefallen, dass er sich eigentlich auch einmal einen Bart stehen lassen konnte. Das würde ihm jedenfalls das Rasieren ersparen. Nur den beiden Damen hier würde er damit dann keinen Gefallen mehr tun. Die Frage wäre sowieso gewesen, ob er das überhaupt gewollt hätte. Das Seltsame an Schönheitsidealen war doch, sie bezogen sich meistens auf das Äußere und vernachlässigten den Geist sträflichst. Dennoch war das Aussehen nun einmal die Visitenkarte, das Erste, was man in der Regel von seinem Gegenüber wahrnahm. Persönlichkeit war auf den ersten Blick hin unsichtbar, oft genug sogar im ersten Gespräch noch.
In einem Punkt aber musste er den beiden Mädels recht geben. Es war immer alles ein Geben und Nehmen. Besonders Beziehungen funktionierten immer nur als Duett. Ob es sich auf Arbeitsteilung im Haushalt bezog, auf das Erfüllen von zwischenmenschlichen Bedürfnissen oder offenbar wie hier auch auf die Körperpflege. Der Kompromiss war das Zauberwort.
Nur beim Essen wollte er heute keinen eingehen. Als er das Angebot der Mensa sah und die langen Schlangen an der Ausgabe, entschied er sich für ein einfaches Brötchen in der Cafeteria, und ging wieder. Das einzige Gericht, was ihn nicht schon vom Namen her abgestoßen hatte, sah so aus, als sei es schon einmal gegessen gewesen und das verdarb ihm einfach den Appetit.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 152.

Marlene

„Vielleicht war das wirklich ein wenig leichtsinnig. Aber halt einfach auch viel zu verlockend. Ich meine, du hast sie ja selbst gesehen, das ist niemand, wo man freiwillig nein sagen würde.“

Erik saß neben Flo an der Bar und starrte abwesend über sein inzwischen eins-zu-vielte Bier hinweg. Seine sonst immer so akkurate Frisur war reichlich in Unordnung geraten und die Jacke war zerknittert. Mit einem schweren Seufzen kippte er den Rest des Bieres hinunter und bestellte das inzwischen viel-zu-vielte Bier. Flo grübelte inzwischen, ob ihm irgendeine hilfreiche Antwort einfallen wollte, aber seine Kreativität wollte trotz Bier zu dieser späten Stunde nicht mehr aus dem Bett kommen. Und dabei hatte es alles so vielversprechend angefangen.

Marlene war offensiv auf Erik zugegangen, hatte sich bei ihm gemeldet und Kontakt nicht nur einfach aufgebaut, sondern auch gehalten. Das Herz auf der Zunge und keine versteckten Karten in der Hinterhand, jedenfalls keine offensichtlichen. Das hatte ausgereicht um Erik zunächst einmal völlig zu verunsichern. Aber eine Falle finden konnte er auch nicht und so hatte er doch begonnen, sich ihr zu öffnen. Ein Date im Park, ein gemeinsamer Spaziergang am Fluss, ein Abend im Kino oder ein Nachmittag mit Eis. Flo war überzeugt, die beiden waren ein Paar und trauten sich nur noch nicht, es zuzugeben. Sie hatten sich definitiv gemeinsam die Zeit verschönert.

Und doch saßen sie nun hier, wieder in der alten heruntergekommenen Bar, und starrten trübselig in ihre Biere. Flo verstand die Welt nicht mehr.

„Erklär es mir noch einmal. Du sagst, es war soweit alles perfekt. Sie hat offenbar Gefühle für dich, ist in jeder Hinsicht perfekt, sieht toll aus, ist hoch intelligent, hat ähnliche Interessen wie du und ist eigentlich alles, was du dir wünschen könntest. Du hast ebenfalls Gefühle für sie und sie rennt nicht gleich vor dir weg, obwohl sie inzwischen ziemlich gut wüsste, worauf sie sich einlässt. Wieso blockierst du dann?“

„In fast jeder Hinsicht perfekt. Sonst gäbe es ja kein Problem. Sie hatte noch nie einen Freund. Außer ab und zu knutschen ist bei ihr noch nie etwas gelaufen, sie ist völlig unerfahren.“

„Im ernst? Das ist dein Problem? Dann lernt ihr es halt gemeinsam! Wie sonst soll sie denn an die Erfahrungen kommen? Aus dem Internet runterladen vielleicht?“

„Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich der Richtige dafür bin.“

„Wieso nicht? Sie scheint keine Zweifel daran zu haben.“

„Wieso will sie mich dann verkuppeln?“

Das war jetzt neu und ein absolut legitimer Punkt. Flo starrte Erik eine Weile nur an. Marlene hatte es sich zur Aufgabe gemacht den Mann unter die Haube zu bringen, den sie offensichtlich liebte? Wäre es ihre eigene gewesen, hätte es mehr als nur Verständnis dafür gehabt, aber so … ?

„Wir waren letztens in der Stadt unterwegs und es war ein ziemlich toller Nachmittag. Am Markt sind wir dann Mia begegnet und haben uns kurz unterhalten. Aber wirklich nur kurz, und das war schon mehr als lang genug. Ihr geht es übrigens soweit ganz gut, aber das weißt du vermutlich selbst schon. Danach meinte Marlene jedenfalls, was denn mit uns wäre, da müsse doch was laufen. Und wenn nicht, dass wir das doch nicht aus den Augen lassen sollten. Immerhin hätten wir so eine gute Chemie. Da wäre einfach etwas zwischen uns, was perfekt passt. Also, zwischen Mia und mir jetzt, nicht zwischen Marlene und mir. Hast du eine Ahnung wie absurd das ist, wenn dein Date versucht dich mit deiner Ex zu verkuppeln? Sag Bescheid, wenn du einen besseren Stimmungskiller gefunden hast.“

Das war der Moment, an dem Flo feststellte, dass er offenbar auch bereits beim zuvielten Bier angekommen war. Wäre er noch halbwegs nüchtern, wäre ihm nun sicherlich eine schlagfertige Antwort eingefallen, und sei es für das Thema von vor zehn Minuten. Jetzt rechnete er nicht mehr vor morgen früh damit. Ein Bild wanderte durch seinen Kopf, wie Kristina versuchte ihm Jenny schmackhaft zu machen und alles in ihm sträubte sich. Vielleicht musste er mit Marlene reden, wobei es wohl besser wäre, wenn Erik das selber tat. Wieso nicht gleich jetzt?

Market Theater

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 151.

„Durch“

„Guck dir das an, der Verlag heißt Friedrich Pustet. Was pustet er denn? Hat er sich verbrannt? Oder hat er eine Pusteblume gefunden?“

Flos hysterisches Lachen schien seine tiefen und dunklen Augenringe fressen zu wollen und endete dabei eher in einem seltsamen Paarungstanz mit ihnen. Der Name seiner Quelle allein hatte ausgereicht, ihn völlig aus der Fassung zu bringen. Von Erik erntete er dafür nur einen irritierten Blick über den Rand der Lesebrille, die er seit Neuestem hatte. Aber Erik hatte gut reden. Sein Weg zur Bibliothek war sehr viel kürzer und außerdem war er heute wie auch die letzten Tage erst über eine Stunde später als Flo gekommen und zusätzlich noch früher wieder gegangen. Es half dennoch nichts, die Hausarbeit musste fertig werden.

Erik nahm seine Brille ab, massierte sich intensiv die Augen und platzierte das Gestell mit einer theatralischen Geste wieder auf der Nase. Eine schrecklich übertriebene Aktion, wie Flo fand. Insgeheim war er sowieso der Meinung, dass Erik die Brille nur hatte, um damit besser auszusehen und Leute vorwurfsvoll über den Rand hinweg ansehen zu können. Ebenso insgeheim musste Flo zugeben, dass ihm beides erschreckend gut gelang. Würde er die interessierten Blicke bemerken, die ihm immer wieder zugeworfen wurden, er würde vermutlich noch eingebildeter wirken, als sowieso aktuell. Seine sture, allgemeine Lustlosigkeit und Gleichgültigkeit, gepaart mit der trotzigen Haltung und kurz angebundenen Sprache ließen ihn ohnehin bereits sehr von sich eingenommen wirken. Dabei war es eher der Kampf mit sich selbst, nicht in ein tiefes emotionales Loch zu fallen. Es fehlte ihm einfach etwas.

Flo fehlte auch etwas, aber im Gegensatz zu Erik konnte er genau sagen, was das war. Schlaf, Zeit, Ruhe und etwas Vernünftiges zu essen. Seit inzwischen zwei Wochen saß er an der Hausarbeit, die inzwischen schon seit einer Woche fertig sein sollte. Eigentlich sogar schon viel länger, aber es war ihm so vieles dazwischen gekommen und die Arbeit, welche er mit Erik gemeinsam als Teamarbeit schrieb, war immer weiter nach hinten gerutscht und in Verzug geraten. Jetzt war der Zeitpunkt erreicht, wo nicht mehr geschoben werden konnte. Seit Tagen saßen sie in der Bibliothek, Stunde um Stunde, über Büchern, Artikeln und die Tastaturen gebeugt. Und wenn er dann einmal zuhause war, verbrachte er noch immer einige Stunden am Rechner, während Kristina schon in aller Seelenruhe schlief. Er beneidete sie um ihren Tag und ganz besonders um ihren Feierabend.

Langsam aber sicher forderte dieses Verhalten seinen Tribut. Zu wenig Schlaf, unregelmäßige Mahlzeiten, Stress und keine Möglichkeit, ihn für eine Weile beiseitezuschieben. So etwas nannte sich Semesterferien, auch wenn diese streng genommen inzwischen seit einer Woche vorbei waren. Die Klausurwoche zu Semesterbeginn lief inzwischen und entsprechend voll war es in den Lernräumen. Von den drei Klausuren, die er eigentlich hatte schreiben wollen, hatte er zwei bereits vor Wochen aus dem Lernplan streichen müssen. Alle erzählten ihm immer, wie schön doch das Studium sei, besonders die Alten, und dass er es ja genießen sollte. Die Handwerker auf der Straße sahen ihm missbilligend nach, wenn er um halb zehn aus dem Zug ausstieg und er beneidete sie im Stillen um ihren Feierabend, den sie hatten, wenn er sich eine Mittagspause erlaubte.

Jetzt löste sich das Problem von ganz alleine, indem sein Gehirn das Spiel nicht mehr mitspielen wollte. Wegen alberner Kleinigkeiten hysterisch kichernd saß er vor seinem Rechner, unfähig noch einen sinnvollen Satz zuwege zu bringen. Auch wenn er selbst den Großteil der Arbeit bisher geschrieben hatte, würde Erik ihm dennoch Vorhaltungen machen, wenn er ihn jetzt alleine ließ. Die Genugtuung konnte er ihm unmöglich gönnen. Er sammelte seine Kraftreserven, raffte Konzentration zusammen und bemerkte, dass Erik mit allem Möglichen beschäftigt war, nur nicht mit der Hausarbeit. Von der Hoffnung auf eine gute Note hatte er sich schon vor einer Weile verabschiedet. Nun aber zersplitterte seine Zuversicht gänzlich. Hauptsache irgendetwas abgeben, um sich wenigstens selbst einreden zu können, man habe es ja versucht.

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