Die Sonne war untergegangen, die Bäuche gefüllt und die großen Reden gehalten. Vitali Korovof war vor Stolz über seine Kolonie auf der Bühne beinahe geplatzt, konnte sich dann aber gerade rechtzeitig beherrschen, ehe es peinlich wurde. Entgegen aller Erwartungen, platze ihm nicht einmal das Hemd auf, dafür aber der Hosenbund.
Das Orchester spielte eine glanzvolle Aufführung, nur nicht in der mit Korovof vereinbarten Variante und Reihenfolge, was diesen dann doch noch beinahe platzen ließ. Allerdings auch hier wieder nur beinahe.
Die Bürgermeister, Bürgervertreter, Organisations- und Gruppenvertreter hielten nach und nach ihre Reden. Es gab Rückblicke auf die Leistungen des letzten Jahres und Vorstellungen der neuen Errungenschaften. Am Buffet wurden die ersten Trauben vom Boden Beltanes verteilt, nächstes Jahr sollten sie den ersten Wein dieser Welt hervor bringen. Während die Brauerei mit Verstimmung auf die Konkurrenz reagierte, äußerten die Rumbrenner ihre Freude über die Unterstützung der Verköstigung.
Als eine der letzten, betrat Mara Naravova die Bühne.
„Wir erinnern uns noch daran, dass mit dem ersten Kontakt durch das Portal die Anfrage eines Journalisten kam, der einen Bericht über unsere kleine Gemeinde erstellen wollte. Wir haben daraufhin unsere Daten gesammelt und nicht wenige von Ihnen standen für mich und die Kolonie vor der Kamera, und haben ihre Erfahrungen und Geschichten geteilt. Sie sehen nun das Ergebnis, wie es in diesem Moment auch auf der Erde erstmalig gezeigt wird, und es ist für uns alle der erste Blick darauf. Sogar für mich. Ich möchte mich bei Ihnen allen für die fleißige Hilfe bedanken. Es war mir eine große persönliche Freude.“
Damit trat sie zurück und für zwanzig Minuten waren nur noch die Stimmen aus den Lautsprechern zu hören. Alle Augen der Kolonie verfolgten den Beitrag, der die so vertrauten Straßen und Gesichter mit fremden Augen zeigte. Eine Welt, die vorgestellt wurde als eine Gesellschaft mit größenwahnsinnigen Vorstellungen und Zielen. Gigantomanie aus dem Nichts, eine Handvoll unzureichend ausgebildeter und geistig einfacher Menschen, die sich der Illusion hingeben wollten, das Zentrum der Galaxis zu werden, bestenfalls aber eine Randerscheinung sein konnten. Die Zuschauer waren sprachlos.
Die Bilder sprachen eine andere Sprache. Sie konnten nicht leugnen, dass hier aus dem Nichts eine Stadt entstanden war, die auf nichts verzichten musste. Anspruchsvolle und ästhetische Architektur und bedachte Planung mit Raum für große Entwicklungen. Produktive Fabriken mit fähigen wie fleißigen Angestellten und Maschinen, die zwar selbst gebaut, aber denen der Kernwelten in nichts nach standen. Man merkte den Spagat zu deutlich, den Urban versucht hatte. Einerseits die Siedler kleinreden und ihre Leistungen schmälern, andererseits die Errungenschaften loben und mit den Idealen der Allianz abzugleichen.
Maras Vermutungen bestätigten sich. Sie war nicht die Einzige, der dieser Beitrag wie eine Karikatur erschien. Immerhin hatte er es geschafft, die Gemüter zu erhitzen und so ziemlich jede anwesende Seele zu kränken. Urban hatte ihnen bewiesen, dass er nicht verstanden hatte, wieso sie hier waren und diese Arbeit auf sich nahmen. Er konnte nicht verstehen, wieso sie für eine Generation arbeiteten, die sie nicht mehr kennenlernen würden. Mara wollte die Stimmung beruhigen. Dieser Ärger war kein würdiger Abschluss für die Beltanefeier. Sie entschuldigte sich für Urbans Werk und startete ihre eigene kleine Überraschung.
Die ersten Bilder von Beltane, noch als toter Fels auf den Kameras der Sonden und Samenkapseln. Später, mit dem ersten grünen Flaum schon aus den Fenstern der Beltane, dem Kolonieschiff. Die ersten Landungen, Pioniere mit Atemmasken und Sonnenbrillen, welche die Landestellen für das Schiff vorbereiteten. Die ersten Schritte der Siedler auf der neuen Welt, die ersten Hütten und Gebäude. Vor dem Knistern der Schweißgeräte formulierten die Menschen ihre Wünsche und Hoffnungen über die neue Welt, dumpf durch die Filter der Atemmasken. Die Atmosphäre würde noch eine Weile benötigen, bis sie ihre Sättigung an Sauerstoff erreicht hatte.
Die ersten Tiere wurden ausgewildert und die ersten Gärten blühten um ihre stolzen Besitzer. So eifrig sie auch waren, müde wirkten die Vorfahren selten. Sie sprühten viel mehr vor Begeisterung und Tatendrang. Viele waren ungeduldig, die schroffen Felsen unter Wäldern verschwinden und die weiten Täler mit Weiden bedeckt zu sehen.
Der Betonrumpf der Fähre rutschte unter dem Jubel der Anwesenden ins Wasser, damals noch in einem blauen, fast unsichtbarem Schimmer. Der alte Fährmeister war noch jung und stand bis zur Brust im Wasser, einen kleinen Vogel auf den Schultern. Die natürliche Pyramide von Belenos erhob sich stumm und kahl in die Wolken über dem See. Eine Expedition kletterte bis auf ihre Spitze und posierte vor einem improvisierten Banner. Die Familie Gruber mit Mira als kleinem Mädchen präsentierte stolz das erste geförderte Erz, später den ersten Hochofen von Belenos. Die Gewächshäuser wurden teilweise geöffnet, sodass das Getreide unter freiem Himmel wachsen konnte. Das erste Obst aus heimischer Erde wurde geerntet und noch vor Ort von den Kindern vernascht.
Mara hatte befürchtet, ihre Chronik könnte zu lang geworden sein. Mitternacht war längst verstrichen aber ihr Publikum war noch da und hellwach. Es war nicht mehr ruhig und still, die Leute hatten ihre Sprache wieder gefunden. Ahs und Ohs kamen auf, wenn jemand sich oder seine Lieben von früher wieder erkannte. Die Erinnerung an inzwischen verstorbene trieb Tränen in das ein oder andere Auge, und die Mode vergangener Jahre rief Kopfschütteln und Gelächter hervor. Jeder erkannte sich selbst, seine Vorfahren oder seine Arbeit und Werke irgendwo wieder. Geschichten wurden im Flüsterton getuschelt oder einfach nur stumme Blicke gewechselt.
„Seht doch, da bin ich. Ja, wir hatten ja damals noch nicht so viel wie heute.“
Bilder von früheren Beltanefeiern und Errungenschaften. Die U-Bahn, Flugzeuge, Roboter im Haushalt, den Werkstätten oder auf Baustellen. Das Nachrichtennetz, die ersten Frachter von den Kernkolonien oder die Uraufführung des ersten hier gedrehten Films.
„Daran erinnere ich mich! Das erste Mal, dass wir das hier hatten. Meine Großeltern haben mir davon immer Geschichten erzählt aber es dann wirklich selbst zu erleben …“
Den Abschluss bildete ein Zusammenschnitt der Interviews und Stadtaufnahmen, die Mara in den letzten Wochen erstellt hatte. Eine Kolonie von gerade einmal dreißig Jahren wirkte plötzlich, als würden ihre Wurzeln in die dunkelsten Tiefen der Geschichte zurückreichen. Ungebremste Aufbruchstimmung und Begeisterung klangen heraus. Niemand hier war einfach nur da, jeder hatte seinen Sinn und Zweck. Jeder war gebraucht und prägte auf seine Weise das Leben und das Gesicht dieser ganzen Welt. Die vielen kleinen Geschichten mochten jede für sich gelten können aber zusammengenommen bildeten sie etwas Großes. Das war das Erbe dieser Welt. Vor Beltane lag ein langer, fruchtbarer Sommer.
Tosender Applaus vieler Tausend Hände und lauter Jubel dröhnte durch die Nacht, sobald der Abspann das letzte Bild ablöste. Die Hoffnungen, Träume und Gedanken der Generationen, festgehalten vor der Welt ihrer Zeit. Erinnerungen und Geschichten, manche schon eher Legenden. Die Bänke waren noch immer voll besetzt, als die Morgensonne über die Dächer strich. Mara Naravova bekam das nicht mehr mit. Die Erleichterung, dass ihr Werk gefiel, hatte ihr alle Steine vom Herzen genommen, und sie ihre Erschöpfung spüren lassen. Den Weg nach Hause hatte sie noch bewältigen können aber nun träumte sie von ihrem ganz persönlichen Beltane, ihrem Sommeranfang.
Das war meine kleine Reise, die abenteuerlichen ersten Schritte auf neuen Welten zu begleiten. Ich bedanke mich herzlich bei allen, die mich begleitet haben, und hoffe, Ihr hattet viel Spaß dabei. Vielleicht hat es ja den ein oder anderen Gedanken anregen können. Ich hatte jedenfalls viel Freude dabei, mir die einzelnen Schritte auszumalen und die Herausforderungen in Worte zu bannen. Ich hoffe, ein wenig von der Aufbruchstimmung eingefangen zu haben. Auch weiterhin gilt natürlich, Kommentare und Kritik sind jederzeit gerne gesehen und willkommen.
Bis zum nächsten Mal
Euer Graf