Schlagwort-Archive: Leben

It‘s the end of the world as we know it

It‘s the end of the world as we know it

 

Es ist so weit, die Apokalypse ist offiziell angekündigt. Das System ist zusammengebrochen und hat sich abgemeldet. Okay, nur das duale System. Jahre der Umwelterziehung fallen einer Krise zum Opfer, die sich den meisten Menschen in erster Linie durch Massenhysterie um ausverkauftes Klopapier bemerkbar macht. Die lokalen Stadtreiniger kürzen alles zusammen und leeren ab sofort nur noch den Restmüll. Wer keinen eigenen Kompost auf dem Balkon hat, möge ihn bitte im Restmüll entsorgen, auch die Papiertonnen werden auf unbestimmte Zeit nicht mehr abgefahren, Wertstoff- und Recyclinghöfe bleiben ebenso geschlossen.

Die Krise hat Deutschland fest im Griff. Schulen und Kindergärten sind genau so geschlossen wie die Konsumtempel. Bei bestem Frühlingswetter sollen die Menschen motiviert sein, sich in ihre vier Wände zurückzuziehen, nur die nötigsten Ausflüge zum Supermarkt oder Arzt zu unternehmen, nach Möglichkeit von zuhause aus zu arbeiten, um keine Kollegen zu infizieren und grundlegende Hygieneregeln wie Händewaschen zu beachten. Treffen mit Freunden? Lieber nicht, und wenn nötig, bitte nur in kleinen Gruppen und mit ausreichend Abstand.

Flatten the curve! Streckt die Neuinfektionen über eine möglichst lange Zeit, damit das Gesundheitssystem es auch auffangen und bearbeiten kann. Und über allem schwebt, bzw. fällt inzwischen das Damoklesschwert der Ausgangssperre als letztes Mittel der Politik, der Situation noch, wenn schon nicht Herr, dann wenigstens aber doch Lehrling zu werden.

Die Leute lassen sich davon kaum abhalten. Solange die Cafés geöffnet sind, sitzen sie auch voll. Nur langsam nimmt der Abstand zwischen den Passanten zu und nur langsam nimmt die Zahl derer ab, die sich dazu entschließen, das Wetter mit Freunden, Verwandten und Bekannten im Park zu verbringen. Immerhin ist doch fast perfektes Wetter zum Grillen. Was fällt Mutter Natur auch ein, da einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen? Es wirkt beinahe trotzig, wie etliche Leute sich nun in Gruppen in der Sonne sammeln.

Einige halten sich trotzdem an die Aufforderung, zuhause zu bleiben. Wenigstens haben sie ihre eigene Interpretation dessen, was gefordert wird. Mit Hamsterkäufen und allem was dazu gehört. Auf dem Heimweg von der Arbeit kann man die Ströme von Menschen beobachten, die Massen an Lebensmitteln aus den Supermärkten schleppen. Bei den meisten ist der Blick eher nach innen gekehrt. Nur die, die noch eine Packung Klopapier ergattert haben, gucken irgendwie eher beschämt.

Aus der Fußgängerzone schallt das Rattern der Skateboards. Eine Gruppe Jugendlicher nutzt die Schulsperrung, um dieses Hobby noch einmal aufleben zu lassen. Noch ist die Ausgangssperre schließlich nicht in Kraft getreten. Viele Passanten machen dennoch lieber einen Bogen um die kleine Gruppe, die sich um Bluetooth Box und Palette Energydrinks in Dosen versammelt hat. Ein altes Ehepaar schüttelt verständnislos die Köpfe darüber, bevor sie sich zu ihren Freunden ins Café setzen. Zwei Radfahrer rauschen vorbei. Sie sind offensichtlich nicht auf dem Heimweg von der Arbeit oder zum Einkaufen, sondern nur auf Spazierfahrt unterwegs.

Eine Querstraße weiter staut sich der Verkehr hinter einem Lastwagen, der gerade seine Baustelle beliefert. Die Arbeiter können auf Mindestabstände hier keine Rücksicht nehmen und auch der Innenausbau ist im Homeoffice kaum zu realisieren. Spaß an der Arbeit sieht bei den meisten anders aus. Einzig der König der Baustelle in seinem Kran und der LKW Fahrer gucken, als würden sie das Wetter genießen können. Wobei der Kranfahrer sich auch über sein Pausenbrot freuen könnte, welches er gerade mit einem Bier hinunter spült. Natürlich alkoholfrei! Nicht, dass ich das von hier unten erkennen könnte, aber ich unterstelle es ihm. Denn Arbeitssicherheit gilt immer noch, da wird im Kran bitte nicht gesoffen.

Von dort oben kann er sicherlich auch in den Innenhof im übernächsten Block gucken. Die Abendsonne scheint jedenfalls eifrig hinein, spiegelt sich in einigen Fenstern und wird von den zahlreichen offenen Balkontüren geschluckt. Die ersten Blumenkästen sind bunt geschmückt, Balkonmöbel werden raus gestellt und irgendwo tönt R.E.M. aus einer Wohnung. It‘s the end of the world as we know it hallt durch den offenen Hof auf die Straße, auf einzelnen Balkonen wird getanzt. Es hat etwas von Urlaubsstimmung. In der oberen Etage wirft jemand eine Bierflasche über die Ecke auf den benachbarten Balkon. Sein Freund versucht sie mit einem Kissenbezug zu fangen. Man hört das Reißen des Stoffs, bevor die Flasche dumpf auf dem Balkon zerschellt. Ich höre nur noch das Fluchen, als ich um die Ecke verschwinde.

It‘s the end of the world as we know it and I feel fine begleitet mich auf den Metern bis zum letzten Supermarkt vor der eigenen Haustüre, und irgendwie scheint es das passende Motto der Krise zu sein. Eines ist hier sofort deutlich: Es gibt noch Toilettenpapier! Wein in Tetrapacks, Konservendosen und Klopapier, das dominiert hier das Bild der Einkaufstüten. Die Prioritäten sind klar gesetzt.

Die Kassiererin sitzt hinter einem improvisierten Spritzschutz aus Bilderrahmen und Folien, an der Türe begrüßt mich der Hinweis, bitte mindestens 1,5 m Abstand zu anderen Kunden zu halten und mit Karte zu zahlen. Alles, was mir noch fehlt, sind Kartoffeln und Paprika. Dafür sollte es doch heute noch reichen. Selbst in der Ausgangssperre darf man sich schließlich mit frischen Lebensmitteln versorgen. Vielen scheint das nicht so ganz bewusst zu sein.

Was mich am Ende am meisten beunruhigt, ist, dass ich meine Umgebung nicht verstehen kann. Da sind einerseits die völlig Sorglosen, denen alles egal zu sein scheint, die sich über die Grippewelle vermutlich sogar etwas freuen.Und auf der anderen Seite die Hamsterkäufer und Hysteriker, die sich mit Vorräten für Jahre eindecken, um zwei bis drei Wochen in ihrer Wohnung verschwinden zu können. Wo ist das gesunde Mittelmaß geblieben? Achtsamkeit und Rücksicht auf seine Mitmenschen, Einhaltung der Basishygiene, Gelassenheit und ruhiges Abwarten.

Tut es wirklich so weh, einmal nicht mit den Kollegen im Büro zu kuscheln, auf die dritte Party in dieser Woche zu gehen und sich mit fremden Menschen in viel zu kleine Straßencafés zu quetschen um teuren Kaffee zu schlürfen? Ist es wirklich unzumutbar, darauf hinzuweisen, medizinische Notfallausrüstung auch für medizinische Notfälle verfügbar zu halten und nicht literweise Desinfektionsmittel zu horten? Offenbar ist das zu viel verlangt! Und wenigstens fürs Erste haben R.E.M. recht und es ist wirklich das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Aber das war noch nie etwas Neues. Es ändert sich immer wieder alles und ein neues „Normal“ stellt sich ein. Wenigstens bis im Sommer die nächste Hitzewelle kommt und den nächsten Ausnahmefall mit bringt. Und gegen Hitze hilft Klopapier genau so gut, wie gegen Grippe. Wenigstens ist Hitze nichts ansteckendes, ihre Opfer dafür umso abstrakter.

Bleibt gesund!!

Arbeitskräfte gesucht!

„Deutschland ist eine Innovationsnation! Wir haben kaum noch natürlich Rohstoffe, die wir fördern können, also ist unser Rohstoff Know-how und Innovationskraft. Darum ist es wichtig, dass ihr euch Mühe gebt, einen guten Abschluss erlangt und etwas Sinnvolles studiert. Deutschland braucht Ingenieure!“

So oder so ähnlich habe ich es damals nicht nur einmal in der Schule zu hören bekommen. Ich erinnere mich nur an eine Realschullehrerin, die von dieser Linie abgewichen ist und die Klasse mahnend erinnert hat: „Handwerk hat goldenen Boden.“ Daran erinnere ich mich inzwischen fast jeden Morgen, wenn ich im Badezimmer stehe und mich das Radio mit der einsetzenden Werbung daran erinnert, dass ich mal wieder zu sehr getrödelt habe. Der Werbeblock besteht hier zu einem guten Teil inzwischen nicht mehr aus „Kauf unseren Scheiß!“-Geblöke, sondern aus „Bitte arbeite für uns!“-Aufrufen.

Maschinenbauer, Tischler, Stahl- und Industriebaufirmen, Supermarktketten und Pflegeeinrichtungen wetteifern mal mehr oder weniger lautstark und kreativ um Personal. Man möchte meinen, wir hätten die Vollbeschäftigung längst hinter uns gelassen. Und vor diesem Hintergrund bekommen im Internet immer noch Leute Gehör, die im Fieberwahn predigen, „die Ausländer“ würden uns die Arbeit wegnehmen und alle nur kriminell sein? Da muss so einiges schiefgelaufen sein, aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.

Das Werben um Arbeitskräfte beschränkt sich auch nicht aufs Radio. Genau so finden sich die Anzeigen in der Zeitung, sei es nun das Gratis-Käseblatt, was hier jeden Mittwoch im Hausflur liegt oder die Lokalzeitung. Einmal im Jahr bricht hier dann auch noch der Kleinkrieg aus und die Krankenhäuser und Pflegeheime der Region werben mit Plakatwänden und an Bushaltestellen mit dem besseren Arbeitsklima, dem höheren Gehalt oder den besseren Zusatzleistungen. Nur eines ist mir dabei aufgefallen: Niemand wirbt um Akademiker.

Erst sollten wir alle an die Uni und nun haben wir doch alle aufs falsche Pferd gesetzt?

Vielleicht, ich weiß es noch nicht. Ich weiß nur, dass man als gelernter Dachdecker, Klempner oder Einzelhandelskaufmann/-frau/-mensch (ich gebe es zu, ich kann nicht gendern. Tut mir leid!) auf der Party weniger anerkennende „Whoa“-s bekommt, als beispielsweise Mediziner oder Ingenieure. Pflegekräfte bekommen da schon eher mal mit „In dem Job würde ich ja sofort kaputt gehen“ so etwas Ähnliches wie versteckte Bewunderung. Arbeit in der Knochenmühle wird wertgeschätzt, aber machen will es trotzdem niemand.

Klar brauchen wir Ingenieure, aber wer soll denn das alles bauen, was sich die schlauen Köpfe da alles ausdenken?

Ich bin Teil des Problems. Meine Arbeitskraft wandert ebenso an einen Schreibtisch und nicht in die Produktion wie bei den anderen Absolventen. Ich habe mich als Handwerker versucht und beschlossen, dass ich dafür nur mäßig geeignet bin. Vielleicht war ich auch einfach viel zu optimistisch, was die Innovationsbereitschaft in Europa generell betrifft. Nicht erst seit gestern wird schließlich der große Durchbruch der Roboter prognostiziert. Durchgeführt wird er sehr viel zögerlicher als nötig.

ICE-Trassen und die darauf fahrenden Züge sind mit der nötigen Signaltechnik ausgestattet, um sie mit nur geringem Aufwand autonom fahren zu lassen. Die Sensortechnik ist inzwischen ausgereift genug, um selbst konventionellen Bahnbetrieb robotisch abzuwickeln, nur die Fahrzeuge müsste es geben. Und die rechtliche Grundlage. Wo, wenn nicht auf der Schiene, könnte man mit einem solchen System beginnen? Nirgendwo sonst sind die Anforderungen an autonomes Fahren so überschaubar wie dort. Stattdessen beklagen die Bahnbetriebe fehlende Lockführer und planen fest mit Sechstagewochen. Stattdessen erzählen mir die Lockführer selbst, wenn ich sie danach frage, dass autonomer Schienenverkehr nicht kommen wird, solange sie noch die Hakenkreuze von den Triebwagen abkratzen müssen, um auf deutschen Schienen fahren zu können. Stattdessen werden immer mehr Fahrassistenten für Autos entwickelt, welche mehr und mehr Autonomie erlauben. Kommen wird es trotzdem nicht so schnell, denn die Rechtslage ist hierbei immer noch ungeklärt.

Als ich mich damals gegen das Handwerk und für den Hörsaal entschieden habe, wusste ich davon allerdings noch nicht viel. Die Technik existierte auch einfach noch nicht. Was aber bereits existierte, waren CNC-Fräsen und Industrieroboter in unterschiedlichsten Ausprägungen. Wie schwer kann es da sein, die beiden Technologien zu kombinieren? Da braucht es noch nicht einmal die später aufgekommenen 3D-Drucker, um gesamte Produktionen automatisieren zu können. In einem handwerklichen Praktikum habe ich zu Schulzeiten noch Tage in der Werkstatt verbracht und von Hand an einem Werkstück gesägt und gefeilt, was zwar am Ende durchaus passabel war, mich aber in einer Überzeugung absolut bestätigt hat: Die Maschine kann das deutlich schneller und präziser als der Mensch.

Wir haben Technologien zur Verfügung, von denen unsere Vorfahren nicht einmal zu träumen gewagt haben. Wir haben offenbar auch den Bedarf dafür, denn ansonsten können viele Arbeiten einfach nicht ausgeführt werden. Dennoch kommt es nicht, oder nur sehr viel langsamer, als man vielleicht erwarten würde. Mich überrascht das immer wieder.

Ich vergesse immer wieder zu gerne, dass Deutschland ein digitales Entwicklungsland ist, dass „Vorsprung durch Technik“ zwar der Werbeslogan einer bekannten großen Marke hier ist, aber eben nicht viel mehr. Das Vertrauen in die Technik ist nicht da und was ich als logische Weiterentwicklung sehe, erscheint vielen eher als Dystopie. Exoskelette, welche in japanischen Krankenhäusern die Pflege schwerer Patienten erleichtern sollen, oder Roboter als Rezeptionist im Hotel werden als gruselige Kuriosität aus einem fernen und fremden Land präsentiert. Roboter im Gesundheitssystem gibt es zwar auch bei uns, aber nur im OP und nicht in der Pflege.

Die Anzeigen und Werbeclips, in denen „junge und dynamische Teams“ nach neuen Kollegen suchen, werden mich also noch eine Weile begleiten, bis der Druck irgendwann vielleicht doch so groß ist, dass auch unsere Systeme auf den Stand der Technik gebracht werden. Aber was das alles an Entwicklungen mit sich bringen wird, steht auf einem ganz anderen Blatt. So oder so stehen wir vor großen Herausforderungen.

20180209_103158

 

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 168.

Terminmanagement

Die Klausur hat erst einmal Vorrang, danach habe ich ja dann immer noch eine Woche in der ich die eine Hausarbeit schreiben kann, die andere ist ja fast fertig, das dauert doch sicherlich nur noch einen Tag und die dritte kann ich ja dann immer abends nach dem Praktikum machen und an den Wochenenden. Also Samstag abends und sonntags dann. Das ist dann eine effektive Zeitnutzung.

So hatte Flo es sich ausgemalt und seine Zeit durchgeplant, obwohl er bereits von Anfang an genau wusste, dass es nicht aufgehen würde. Er kannte sich gut genug und wusste, dass er dafür zu faul sein würde. Abgesehen davon, würde Kristina es ihm übel nehmen, wenn er sie zu sehr vernachlässigte. Wenn er sich dazu überhaupt selbst hätte überreden können. Er hätte also jetzt seine Zeit am Schreibtisch verbringen und eifrig die Tastatur müssen. Es wunderte niemanden, dass er das nicht tat.

Stattdessen füllte er seine Oxytocinvorräte wieder auf und verbrachte den Abend mit Kristina auf dem Sofa. Worüber sie sich unterhielten könnte er in ein paar Minuten nicht mehr sagen, sein Gehirn lief bereits auf Sparflamme und ohne Filter. Er reagierte darauf, was sie ihm erzählte, erzählte selbst, was ihm gerade durch den Kopf wanderte, aber nichts davon schaffte es bis in sein Langzeitgedächtnis. Selbst das Kurzzeitgedächtnis hatte bereits Feierabend und sammelte nur noch das Nötigste ein.

Und so verpasste er dann auch, dass sie ihm mitteilte, an welchem Tag sie denn auf dem Geburtstag ihres Vaters bei ihren Eltern sein würden. Er verpasste, dass sie nächste Woche erst später zuhause sein würde, weil sie das Firmenjubiläum vorbereiten mussten und er verpasste auch, dass sie ihn bat, mit ihrem Rezept auf dem Heimweg am Montag in der Apotheke vorbei zu gehen.

In den kommenden Wochen würden einige Überraschungen auf ihn warten, mit Terminen, von denen er vorher noch nie etwas gehört hatte, obwohl Kristina ihm jeden einzelnen davon aufgezählt hatte. Wäre sie selbst etwas aufmerksamer gewesen, dann hätte sie bemerkt, dass ihr Freund bereits zur Hälfte im Traumland weilte, und hätte lieber Notizzettel geschrieben. So aber würden die Überraschungen genau so auf sie selbst warten..

Discovery Park

Hinterm Horizont – Teil 7.

„Unterteilt ihr inzwischen auch in wir und die, wobei wir neben uns die Roboter einschließt und die sich auf die anderen Menschen bezieht? Ich fühle mich inzwischen eher den Maschinen zugehörig, immerhin arbeiten wir auf das gleiche Ziel hin. Wir sind es, die das Schiff am Laufen halten und die Systeme reparieren. Wir sind es, die eine Kolonie gründen werden und gemeinsam etwas erschaffen. Wir werden ein Erbe hinterlassen. Ist es verrückt, das als ein erstrebenswertes Ziel zu sehen?“

 

Das betretene Schweigen fand erst ein Ende, als es bereits Zeit war, das Essen zu beenden. Vielleicht war ich nicht der erste gewesen, der diesen Gedanken gehabt hatte, aber ich war der erste, der ihn aussprach. Auch wenn es den tiefsten Instinkten zu widersprechen schien, irgendwo mussten sie mir zustimmen. Teils missmutiges Murmeln, teilweise aber auch versteinerte Mienen umringten den Tisch. Ja, sie sahen es ebenfalls so. Selbst Katharina, die jeden Abend wieder zu ihrem Mann ins Bett kroch, den sie angeblich so liebte, stimmte mit leiser und bebender Stimme zu. Bald würde sie sich eingestehen müssen, dass ihre Liebe inzwischen zu Verachtung geworden war, und eine schwere Zeit würde für sie anbrechen. „Generation Taugenichts“ waren unsere Ahnen gerufen worden und ihre Kinder hatten es als einen stolzen Titel etabliert. Wieso wollte uns das einfach nicht mehr reichen?

Wie jeden Samstag war heute Abend Kinoabend und wie jeden Samstag würden wir auch diesmal wenigstens die Hälfte der Zuschauer sein. Die restliche Besatzung würde, statt vor der Leinwand, zu hunderten weiterhin vor dem Fenster kleben oder irgendwelche Streitereien suchen. Sie hatten nichts, wovon sie sich erholen mussten. Wir hingegen schon. Und noch etwas war da, was wir erst spät realisiert hatten.

Unsere Gruppe, welche im Kino immer einen Cluster zu bilden schien, hatte mehr Köpfe als schlagende Herzen. In unserer Mitte fanden sich immer auch einige Androiden, die sich unter dem Vorwand sozialer Studien mit in die Filme setzten und mit uns um die Wette fieberten, ob der Held es schaffen würde, den Tag zu retten, beziehungsweise auf welche Weise er es schaffen würde. Sie waren Bestandteil unserer Gruppe und gehörten zu uns, niemand stellte das infrage. Die Anzahl der stumpfen Augen, manischer Besatzungsmitglieder, welche hier nur ihre Zeit absaßen, war im Laufe der Zeit beständig gesunken. Wenn ich ehrlich mit mir selbst war, dann kam mir das nur gelegen. Ich wollte meine Zeit nicht mit ihnen verbringen. Die meisten von ihnen waren ungepflegt und stanken, wenn sie etwas zu sagen hatten, dann war es meistens nichts von Belang oder Interesse und ihre ewig gelangweilten und müden Blicke strengten mich an.

Viel faszinierender war es außerdem, die Androiden zu beobachten. Sie erschienen mir so viel menschlicher und wärmer, als die fleischlichen Begleiter. Sie folgten den Filmen mit Begeisterung und vor Neugier glühenden Augen. Sie diskutierten mit uns und verstanden nicht, wieso in den alten Zukunftsszenarien so oft ein böser Roboter vorkam, der die Menschheit versklaven wollte. Woher rührte diese Panik vor den eigenen Geschöpfen? Kam es daher, dass sie nach dem Vorbild ihrer Erschaffer entstanden waren und die menschlichen Eltern Angst davor hatten, ihre mechanischen Kinder könnten zu menschlich werden?

Ebenfalls wenig Verständnis gab es für die Geschichte einer lebendigen Holzpuppe, die unbedingt ein echter Junge sein wollte. Wieso wollte er nicht seine Situation analysieren und die Vorteile, die sich ihm daraus boten entsprechend nutzen? Wieso wollte er fehlerhaft, schwach und verletzlich sein, nur um einem Status zu entsprechen? Unseren robotischen Freunden erschloss sich das nicht und einige von uns gaben die Diskussion einzig und allein aus dem Grund auf, weil sie es genau so wenig verstehen konnten.

Ich konnte das Unverständnis ebenfalls gut nachvollziehen. Auch wenn meine Verletzung wieder gut heilte und der Arm bald wieder uneingeschränkt nutzbar war, er würde dennoch immer schwächer bleiben, als ein mechanischer Arm. In den meisten Fällen wäre das völlig unproblematisch, aber immer wieder auch ein nerviges Hindernis, welches mir meine eigene Unzulänglichkeit vor Augen hielt.

20170521_220340

Hinterm Horizont – Teil 6.

Das tat ich ganz sicher nicht. Ich wollte wissen, was passierte und wie es passierte. Dafür benötigte ich mein Gehirn unvernebelt. Mir kam die komplette Situation recht merkwürdig und absurd vor. Das Handbuch schrieb vor, dass die Roboter den Menschen dienbar zur Hand gehen sollten. Die Programmierung sah dabei höfliche Zurückhaltung vor. Halt so, wie mit mir umgegangen wurde. Aber andererseits scheuten die Maschinen inzwischen nicht mehr, mit roher Gewalt gegen die gelangweilte und psychotische Besatzung vorzugehen. Sie bemühten sich überhaupt nicht mehr um eine Behebung des Problems oder Behandlung der Störungen. Und das war ein ziemlicher Widerspruch zur Programmierung. Ein Verstoß gegen das Protokoll, an dem sich niemand zu stören schien. Es schien sogar notwendig zu sein, um das Getriebe in Bewegung zu halten.

Pflegebot und Arzthelfer ließen sich davon nicht beirren. Binnen weniger Minuten war mein Arm vorzüglich versorgt und benötigte nur noch etwas Zeit zum Heilen. Und wieder war da etwas, was ich bemerkte. Eine kleine Veränderung an mir selbst. Natürlich erwartete ich eine solche kompetente und unkomplizierte Behandlung durch die Maschinen, das war nicht, was mich überraschte. Viel mehr war es, dass ich es für mich als selbstverständlich erachtete und ebenso vollstes Verständnis für die konsequente Betäubung der anderen Besatzungsmitglieder hatte. Ihre Sedierung erschien mir völlig angemessen und richtig.

Immerhin leisteten sie auch nichts für ihren Aufenthalt. Sie waren nur da und verbrauchten Ressourcen, die man ansonsten besser hätte nutzen können. Schlimmer noch, in ihrer gelangweilten Zerstörungswut beschädigten sie das Schiff und seine Crew, was wiederum mehr Ressourcen und Rohstoffe beanspruchte. Sie waren abgestumpft, verroht, primitiv im Geist und dabei auch noch furchtbar überheblich, ohne etwas dafür bieten zu können. Sie waren einfach nicht wie wir.

Wie wir. Diese Worte hallten durch mein Gehirn wie ein Schuss, als ich die Krankenstation verließ. Vielleicht war es das leichte Schmerzmittel, was mir verabreicht worden war, aber mein Verstand schien heute wie durch Pudding zu laufen, und das auch noch auf obskuren, verschlungenen Wegen. Dennoch verbrachte ich die Zeit bis zum Abendessen nicht in meinem Quartier oder vor einem der Fenster, sondern mit einem Tablet in der Hand in den Eingeweiden des Schiffs.

Routinemäßige Kontrollarbeiten, die eigentlich von Beginn an durch Menschen hätten ausgeführt werden sollen, und die tatsächlich einen tieferen Sinn hatten, waren in vielen Bereichen sehr vernachlässigt worden. In der Konsequenz hatten sich Moose und andere Ablagerungen an Stellen breit gemacht, wo sie zu Schäden führen konnten. Die internen Systeme konnten die Beeinträchtigungen zwar erfassen und dann auch schnell beheben, aber von alleine verhindern nicht. Genau dafür war diese Aufgabe geschaffen worden. Nur war sich ein Großteil der Besatzung zu schade für diesen niederen Dienst. Sollten es doch die Androiden erledigen, genau dafür waren sie schließlich da. Ihre ganze Existenz war darauf ausgelegt, niedere Arbeiten für die Menschheit zu verrichten, damit diese sich um die wichtigen Probleme kümmern konnte. Wenigstens war das einmal die Intention gewesen. Nun aber gab es diese wichtigeren Probleme seit zwei Generationen nicht mehr, aber die alten Muster blieben bestehen. Wir existierten nur, atmeten, aßen, vertrieben uns die Zeit. Niemand wäre auf die Idee gekommen, aus reiner Langeweile den Maschinen ihre Arbeit wieder abzunehmen. Fast niemand. Da ich mich gerade keiner meiner üblichen Aufgaben widmen konnte, wollte ich mich wenigstens hiermit ablenken.

Beim Abendessen erregte der Verband direkt die Aufmerksamkeit der anderen am Tisch. Verletzungen waren selten, besonders solche, und es tauchten Fragen auf, die ich mir auch teilweise schon gestellt hatte. Wieso wurde ich gut behandelt, während andere verletzte Menschen einfach nur aus dem Verkehr genommen wurden? Wurden wir von den Maschinen eventuell als eine Art fleischliche Androiden wahrgenommen? Waren wir die einzigen Menschen, die im System des Schiffs noch als Besatzung galten, während alle anderen inzwischen als Fracht kategorisiert waren? Eine gewisse Ehrfurcht breitete sich aus und auch wenn es mir einerseits unangenehm war, ein Teil von mir genoss die Aufmerksamkeit durchaus. Es schien, dass diese Verletzung als Opfer für eine größere Sache gesehen wurde, als würde es meine Kompetenz in meinem Arbeitsfeld hervorheben und durch die gute Behandlung die Wichtigkeit meiner Position bestätigen. Und dann stellte ich die Frage, die das Tischgespräch für eine Weile verstummen ließ.

„Unterteilt ihr inzwischen auch in wir und die, wobei wir neben uns die Roboter einschließt und die sich auf die anderen Menschen bezieht? Ich fühle mich inzwischen eher den Maschinen zugehörig, immerhin arbeiten wir auf das gleiche Ziel hin. Wir sind es, die das Schiff am Laufen halten und die Systeme reparieren. Wir sind es, die eine Kolonie gründen werden und gemeinsam etwas erschaffen. Wir werden ein Erbe hinterlassen. Ist es verrückt, das als ein erstrebenswertes Ziel zu sehen?“

20170521_220340

Hinterm Horizont – Teil 5.

Wenn ich nun durch die Gänge ging, meinte ich zunächst, eine Veränderung bei den Leuten zu bemerken. Es dauerte etwas bis ich begriff, dass die Änderung bei mir stattgefunden hatte. Das teilnahmslose Herumstreifen, die leeren ausdruckslosen Augen, das lethargische Ausharren vor den Bullaugen. All das hatte ich bis vor kurzem genauso beherrscht. Die Filmvorführungen, das Essen, die Sporteinheiten. All das hatte auch bei mir kaum einen Effekt gegen die Depression und Antriebslosigkeit bezwecken können und bei den Anderen sah es nicht viel anders aus. Wie Mastvieh hingen sie herum, wartend auf ihr Ende.

Doch inzwischen hatte ich eine Aufgabe, wenn auch keine bedeutsame. Ich war bei leichten Beschädigungen die zweite Anlaufstelle für die Roboter geworden, wenn die automatische Reparatureinheit belegt war. Und ich begann zu begreifen, wie das Schiff funktionierte. Unter den mehr als tausend Kolonisten fand sich kaum mehr als ein Dutzend, welche, wie ich selbst, einer geregelten Tätigkeit nachgingen. Sie waren leicht zu erkennen, wenn man nur einmal hinsah. Ihr Gang war zielgerichtet, die Augen wacher und meistens waren sie sogar gewaschen und frisiert. Außerdem hatten wir inzwischen, einem ungeschriebenen Gesetz folgend, unseren eigenen Tisch in der Kantine. Es war der einzige Tisch, an dem sich tatsächlich unterhalten und ausgetauscht wurde. Immerhin waren wir auch die einzige Gruppierung, bei der tatsächlich etwas von Bedeutung passierte, bei der generell etwas passierte.

Eine Erkenntnis dieser Gespräche war, dass das Schiff inzwischen komplett von Robotern betrieben und kontrolliert wurde. Wir waren Angestellte der Maschinen und aus irgend einem Grund entsetzte oder überraschte uns diese Information nicht im Geringsten. Von den Menschen war niemand übrig, der wirklich Befehlsgewalt gehabt hätte und wenn doch, über wen hätte er verfügen sollen? Und über was? Im Grunde genommen war das Schiff ein sich selbst erhaltender mechanischer Organismus, genau daraufhin war es konstruiert und gebaut worden. Selbst die Planer des Schiffs, die obskuren „privaten Initiatoren“, mussten schon Androidennetzwerke gewesen sein. Wir Menschen waren nur an Bord, um den Bedingungen der Regierung gerecht zu werden. Für die Mission und die Kolonie waren wir obsolet, wenn nicht sogar direkt unerwünscht.

Es sei denn, wir suchten uns eine Aufgabe und machten uns nützlich. Vielleicht war das der einzige Grund, wieso wir nicht geschlossen aus der Luftschleuse geworfen worden waren, als die ersten Fälle von Depression und ausfallenden Verhaltens bemerkt worden waren. Aber das konnte eigentlich nicht sein. Möglicherweise waren die Maschinen einfach sehr viel toleranter als wir Menschen, oder aber sie sorgten sich um ihre Artgenossen auf der Erde, und was mit ihnen geschehe würde, wenn die ersten Kolonisationsbemühungen einer gemischten Besatzung plötzlich in einem Bürgerkrieg gescheitert wären. Das Echo könnte verheerend sein.

Dass uns Arbeitern auch von den Maschinen eine Sonderbehandlung zugeteilt wurde, fiel mir erst auf, als ich wegen einer Verletzung ins Hospital ging. Ich hatte die Spannung auf einer Feder unterschätzt und ihr loses Ende hatte mir tief in den Arm geschnitten, als ich ein gebrochenes Skelettteil austauschen wollte. Vor mir wurde eine untersetzte Frau behandelt, die sich bei einer Prügelei den Handrücken aufgeschnitten hatte. Der Pflegebot behandelte sie karg, indem er ihr eine Liege zuwies, sie sedierte und die Wunde abband. Mit dieser Art der Behandlung würde ich auf meinem Posten für mehrere Tage ausfallen. Das war keine Option für mich. Zu meiner Überraschung kam die Maschine meinem Einwand zuvor.

„Keine Sorge, heute sollten Sie ihre Schicht noch aussetzen aber morgen sind Sie wieder einsatzfähig. Der Einschnitt hat Muskelfasern beeinträchtigt. Ich werde dagegen ein Heilgel auftragen und einen Stimulator ansetzen. Der Prozess wird etwa eine Stunde dauern, danach steht es Ihnen frei, zu gehen. Bitte kommen Sie nur morgen vor Antritt ihrer Schicht zur Kontrolle noch einmal vorbei, um sicherzugehen, dass es zu keinen Komplikationen gekommen ist. Bestehen Sie auf einer kompletten Betäubung für den Eingriff?“

Das tat ich ganz sicher nicht. Ich wollte wissen, was passierte und wie es passierte. Dafür benötigte ich mein Gehirn unvernebelt. Mir kam die komplette Situation recht merkwürdig und absurd vor. Das Handbuch schrieb vor, dass die Roboter den Menschen dienbar zur Hand gehen sollten. Die Programmierung sah dabei höfliche Zurückhaltung vor. Halt so, wie mit mir umgegangen wurde. Aber andererseits scheuten die Maschinen inzwischen nicht mehr, mit roher Gewalt gegen die gelangweilte und psychotische Besatzung vorzugehen. Sie bemühten sich überhaupt nicht mehr um eine Behebung des Problems oder Behandlung der Störungen. Und das war ein ziemlicher Widerspruch zur Programmierung. Ein Verstoß gegen das Protokoll, an dem sich niemand zu stören schien. Es schien sogar notwendig zu sein, um das Getriebe in Bewegung zu halten.

20170521_220340

Hinterm Horizont – Teil 3.

Wir hatten das Äquivalent des Punktes überschritten, an dem sich damals die primitiven Seefahrer befunden haben. Der Punkt, wo die letzte Insel und Mastspitze in den Wellen versunken waren und es nur noch eine winzige Nussschale und die unbarmherzige See gab. In den Geschichtsbüchern stand, die Seefahrer hätten sich anhand der Sterne orientiert, mit ihrer Hilfe navigiert und ihren Weg gefunden. Mit jedem weiteren Reisetag sahen die Sterne anders aus und verschwammen für mich zu einem beinahe belanglosen Einerlei. Völlig unbrauchbar zur Navigation.

Andere Reisende hatten ein besseres Gespür dafür. Sie konnten Muster erkennen, einzelne Sternbilder, die sich wandelten, und größere Strukturen. Nebel und Galaxien, selbst das Band unserer eigenen Milchstraße. Dieses war sogar für mich deutlich genug, doch es war genauso unnahbar und entfernt, wie alles andere außerhalb des Schiffs. Es veränderte sich nicht. Nicht so jedenfalls, dass ich einen Unterschied hätte ausmachen können. Ebensogut hätte jemand die Sterne als Tapete auf die Fenster kleben und dahinter die große, unendliche Leere übrig lassen können.

Die wenige Millimeter dicke Bordwand war alles, was uns von der großen Leere trennte. Die einzige Materie für viele Tausende und Hunderttausende Kilometer. Ich verbrachte viel Zeit vor den Bullaugen. Irgendeiner dieser winzigen, hellen Punkte, irgendwo hinter dem Antrieb des Schiffs, war der Ursprung. Einer dieser unzählbaren Punkte war unsere Heimat gewesen und alles, was je ein Mensch kennengelernt haben konnte. Alles, was wir kannten umfasste nicht mehr, als einen Punkt, kaum größer als ein Nadelstich in einer Folie. Ein Staubkorn auf einem Spiegel. Und wir hatten noch nicht einmal unser komplettes Sonnensystem erfasst. Wozu auch? Es war unwirtlich, die Mühe nicht wert.

Was veranlasste uns dazu, alle uns bekannten Ufer hinter uns zu lassen und in die lebensfeindlichste Umgebung, die es für uns geben konnte, vorzudringen? Fernab von jeder Hilfe oder rettendem Hafen war nie jemand auch nur auf den Gedanken gekommen, dass wir scheitern konnten. Aber auch wenn wir uns auf dem größten Schiff befanden, was je von Menschenhand gebaut wurde, für den unendlichen Kosmos war es kaum der Rede wert. Es verschwand in der Bedeutungslosigkeit.

Jetzt waren wir die Seeleute, die hinter dem Horizont verschwunden waren, ohne zu ahnen, was auf der anderen Seite auf sie warten würde. Wir waren diejenigen, welche apathisch auf die endlosen Wellen hinaus starrten und uns unserer eigenen Bedeutungslosigkeit bewusst wurden. Uns blieb nichts weiter, als davon zu träumen, was wir hinter uns zurückgelassen hatte und was vor uns eventuell noch warten mochte. Nichts und niemand hatte uns auf diese Situation vorbereiten können. Es war schlicht von niemandem berücksichtigt worden. Und dabei war es bekannt, dass so etwas passieren konnte. Doch das erfuhren wir erst im Nachhinein. Den größten Schaden aber erlitt wohl unser Selbstbewusstsein. Mit brutaler Gewallt bekamen wir zu spüren, dass wir, all der Jahrhunderte von technischem Fortschritt und Entwicklung zum Trotz, immer noch nur die primitiven, lethargischen Seefahrer waren.

Die Kommunikation mit dem Sonnensystem wurde immer schwerer. Nachrichten benötigten bereits eine Woche und immense Energiemengen, als die Situation zu einem Problem wurde, und sie ließen immer länger auf sich warten. Und in der Zentrale auf der Erde ließ man sich Zeit mit den Antworten. Man wolle sichergehen, dass man uns keine Fehlinformation mitteilte, behaupteten sie. Sie wollten uns nicht mit halb garen Übergangslösungen aufhalten, sondern direkt die bestmögliche Methode liefern, behaupteten sie. Uns wäre es egal gewesen, solange es die Situation nur irgendwie verbessert hätte. Inzwischen machte sich das Phänomen wirklich bemerkbar. Es verging kaum noch ein Tag, an dem nicht irgendwer ausfiel, weil er seinen Tag damit verbrachte, aus dem Fenster in die Leere zu starren. Vermutlich hätten wir die betreffenden Personen zur Arbeit gezwungen, wenn nicht sowieso all unsere Aufgaben eine Beschäftigungstherapie darstellten. Die einzigen wirklich wichtigen Aufgaben waren die Überwachung der Roboter und der Schiffssysteme. Ein Ausfall fiel oft genug nicht einmal jemandem auf. Wie ein schlechter Witz erschien uns daher dann auch der Lösungsvorschlag aus dem Sonnensystem: Veranstalten sie eine oder zwei Filmvorführungen pro Woche, um sich von der Arbeit zu erholen. Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein, Zynismus.

Es gab kaum Arbeit, von der man sich hätte erholen müssen. Stattdessen saßen wir stundenlang vor den Fenstern und starrten in die Leere, die Glieder bis zur völligen Bewegungsunfähigkeit verkrampft vor Panik, angesichts der Leere rundherum. Wir hätten andere Orte aufsuchen können, aber dann hätten wir nicht den Stern finden können, der langsam größer wurde. Uns war bewusst, dass es noch Monate dauern würde, und doch suchten wir verzweifelt einen kleinen Punkt, der einmal unsere Heimat werden sollte. Ein rettendes Stück Treibgut, auf dem endlich wieder oben oben war und unten unten. Eine Insel, die von diesem hauchfeinem Schleier umgeben war, wie jenem, der auf der Erde alles Leben ermöglichte. Die Telemetrie hatte uns versprochen, dass es eine Atmosphäre dort geben müsse. Nur der Stern dazu blieb für uns unsichtbar, der Planet sowieso.

20170521_220340

Hinterm Horizont – Teil 2.

Feuer, das Rad, der Buchdruck, Eisenbahnen, Flugzeuge, Computer, das Internet, Raketenantrieb und viele andere „große“ Erfindungen lagen weit in der Vergangenheit. Unsere Urgroßeltern stammten noch aus einer Generation, in der man sich an vergangene, große Taten erinnerte. Sie erinnerten sich auch noch an ihren Spitznamen. „Generation Taugenichts“ waren sie gerufen worden und es hatte einen schrecklichen Beigeschmack gehabt. Ihre Kinder hatten damit angefangen, das Schimpfwort als einen Titel zu tragen. Das war ihr Protest gegen die alten Strukturen und er war von Erfolg gekrönt, wie so oft, wenn eine Gruppe ihre Beschimpfung in einen Anzug steckt und stolz auf die Bühne stellt.

Was folgte, war die große Stagnation. Wirtschaftlich, gesellschaftlich und intellektuell. Der Zeitpunkt, als wir satt, zufrieden und träge geworden waren. Allen ging es gut, mehr oder weniger. Jedenfalls so gut, wie noch nie zuvor in der Geschichte. Und dann, mitten in diese große Zufriedenheit hinein, brach die Revolution los. Plötzlich forderten Androiden ihre Rechte ein und Menschen wollten wieder arbeiten gehen und „ihrem Leben einen Sinn geben.“ Was für ein esoterischer Unfug. Dennoch sind auch wir aus dieser Bewegung hervorgegangen.

Die Erde entpuppte sich als zu klein für uns alle und die logische Konsequenz war, auszuwandern. Der Vorschlag zu diesem Projekt kam von den Androiden. Einige wollten eine eigene Kolonie auf den äußeren Planeten oder deren Monden gründen. Natürlich erhielt so etwas keine Genehmigung. Die Umweltbedingungen wären dort für Menschen kaum tragbar gewesen und was wäre ein Roboter ohne Aufseher? Die Androiden mussten doch einsehen, dass so etwas unmöglich war. Es musste eine andere Lösung her. So suchte und fand man die zweite Erde, den Planeten, zu dem wir aufbrachen.

Gleichzeitig konnte man den Beweis antreten, dass Roboter nicht immer nur logisch motiviert handeln. Die Androiden waren mit dem Kompromiss nicht glücklich und zeigten eindeutig emotionale Reaktionen. Sie bestanden weiterhin auf einer Kolonie im äußeren Sonnensystem. „Notfalls auch ohne Menschen vor Ort.“ Dabei war man ihnen doch bereits in so vielen Punkten so weit entgegen gekommen. Statt dankbar für ihre Möglichkeiten zu sein, forderten einige von ihnen gar ein Recht auf Selbstbestimmung! In der Regierung riefen solche Forderungen Unverständnis und Verstimmungen hervor. Dennoch, das Kolonieprojekt lief an, vorangetrieben allein durch Privatinitiativen. Hinter einigen vorgehaltenen Händen krochen Gerüchte hervor, das Projekt existiere nur aus Angst vor einer Revolte der Maschinen. Aber diese verstummten sehr schnell wieder.

Es wurde ein Schiff gebaut, Fracht und Passagiere zusammengestellt. Wir alle, die ausgewählt wurden, mussten eine lange Reihe von Tests und Vorbereitungen über uns ergehen lassen. Im Gegensatz zu den Androiden konnte man uns nicht einfach in den Ruhemodus schicken und in den Frachtcontainern verstauen. Mir ist es trotzdem ein Rätsel, wie es hilfreich gewesen sein soll, mit einem Drehwurm eine gerade Linie entlang zu gehen. So vieles aus dieser Vorbereitungszeit schien einfach nur dafür da zu sein, uns irgendwie zu beschäftigen oder zu foltern. Die genauen Auswahlkriterien sind auch nach dem Start nicht bekannt, aber ich kam an Bord und startete die vermutlich einzige wahre Reise meines Lebens. Ein Aufbruch in Gefilde, der nicht möglich zu sein schien.

Je länger der Start nun zurück liegt, umso mehr kann ich die Siedler im System verstehen, welche die Erde als solch prächtige Perle sahen. War sie aus der Nähe noch ein schmutziger, gräulicher Ball, mit jedem Tag der Reise wurde sie kleiner und schöner. Aus einiger Entfernung konnte man selbst den blauen Schimmer erkennen, welcher dem „Blauen Planeten“ seinen Namen gegeben haben musste. Ein bläulicher Punkt, mitten im immer heller werdenden Sternenkleid des Kosmos.

Wie hatte die Erde eigentlich geheißen, bevor die ersten Menschen ihre Raumsonden bis in die äußeren Ausläufer des Sonnensystems geschickt hatten? War es zunächst einmal der graue Planet gewesen, oder der grüne? Und wie weit hatte man damals reisen müssen, um das schmutzige Braun der Landoberfläche nicht mehr sehen zu können? Angeblich hatte die Erde damals anders ausgesehen. Das erzählt man uns bereits in der Grundschule, aber ich habe es noch nie glauben können. Bis zu diesen Momenten, als wir in die Richtung sahen, aus der wir kamen, und die Erde nur noch einer der vielen Sterne ist. Selbst unsere Sonne lässt sich nicht mehr davon unterscheiden. Egal, in welche Richtung man seine Blicke wendet, der Himmel sieht immer gleich aus.

Wir hatten das Äquivalent des Punktes überschritten, an dem sich damals die primitiven Seefahrer befunden haben. Der Punkt, wo die letzte Insel und Mastspitze in den Wellen versunken waren und es nur noch eine winzige Nussschale und die unbarmherzige See gab. In den Geschichtsbüchern stand, die Seefahrer hätten sich anhand der Sterne orientiert, mit ihrer Hilfe navigiert und ihren Weg gefunden. Mit jedem weiteren Reisetag sahen die Sterne anders aus und verschwammen für mich zu einem beinahe belanglosen Einerlei. Völlig unbrauchbar zur Navigation.

20170521_220340

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 153.

Arbeitskreise

In einem nicht weiter genutzten aber geräumigen Büro am Campus trafen sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit eine Gruppe von Studierenden, um den Tag ausklingen zu lassen und über einen bunten Blumenstrauß an Themen zu diskutieren oder gemeinsam einen Film auf dem im Raum verbliebenen Beamer anzusehen. Ein besonderes Hobby des kleinen Filmclubs war es, Filme zunächst ohne Ton anzusehen und zu versuchen zu erraten, worum es überhaupt ging. Alternativ gab es Filme in Sprachen, die keiner der Anwesenden beherrschte.

Einer dieser Studenten war Flo. Nadja hatte ihn irgendwann mit hierhin gebracht und seitdem gehörte er irgendwie dazu, ohne dass es jemand explizit erwähnt hätte. Mal war er dabei, mal hatte er keine Zeit, mal brachte er den Tee mit, die Kekse, die Schokolade, oder jemand anders war dran. Die Interessengemeinschaft mochte nicht organisiert sein, aber sie funktionierte irgendwie.

Da ein Großteil der Gruppe ebenfalls Mitglied im Referat für Ökologie und Nachhaltigkeit der Universität war, fielen viele Filme, Diskussionsthemen und Aktionen in diesen Bereich. Flo sah keinen Grund, wieso er sich nicht daran beteiligen sollte. Er war zwar kein Mitglied im Referat, aber wenn er schon einmal da war, dürfte es doch niemanden stören. Er war halt da, und das war okay so, also konnte er sich auch nützlich machen. Und da er nicht einmal Mitglied war, gab es auch keinerlei Verpflichtungen für ihn. So jedenfalls sah er das.

Doch es sollte der Tag kommen, an dem die Diskussion über die Pflege der Streuobstbäume an der Uni eine Richtung einschlug, der er nicht mehr ganz folgen konnte.

„Wir hatten das ja bereits abgesprochen. Nächste Woche bekommen wir vom technischen Betrieb die Hebebühne, dann können wir die Reste von den Bäumen noch abernten, bevor sie Frostschäden bekommen. Es haben sich nur kaum Freiwillige auf die Mail hin gemeldet. Wenn ihr also vielleicht noch ein paar Leute finden könntet, dann wäre das super.“

Nadja sah erwartungsvoll aber eindringlich in die Runde, stieß auf vielfaches Nicken, aber von Flo kam nur ein verständnisloser Blick.

„Wann wurde das denn besprochen? Ich habe davon bisher nichts mitbekommen. Dienstag und Mittwoch kann ich natürlich helfen, da hat Kristina sowieso Spätschicht, aber welche Mail meintest du?“

„Doch, natürlich weißt du darüber Bescheid. Ich habe doch extra dafür eine Mail herumgeschickt. Hast du die nicht bekommen?“

„In welchem Verteiler hast du die denn verschickt? Referat Öko oder Filmclub?“

„Na Ref Öko.“

„Dann ist es klar, da bin ich doch überhaupt nicht drin!“

„Wieso bist du da nicht drin? Ich trag dich da gleich mal mit ein. Aber wieso bist du da nicht drin? Ich dachte, die Liste wäre vollständig.“

„Das kann ja sein, aber ich bin doch überhaupt nicht im Ref Öko. Ich bin doch immer nur als Gast dabei.“

„So ein Quatsch, natürlich bist du im Ref Öko. Du bist doch immer da und machst mit, mehr als die meisten anderen Mitglieder. Und schließlich sind wir alle davon ausgegangen, dass du eh längst in der Liste stehst. Du bist jetzt also dabei und gut ist.“

Und so war es gekommen, dass Flo ein gutes Jahr lang in einem studentischen Arbeitskreis involviert war, ohne davon etwas zu wissen. Es war faszinierend, wie planlos und unkoordiniert er durch sein Leben ging. Gelegentlich fragte er sich, wie er es überhaupt durch sein Studium schaffte. Aber irgendwie ging es immer gut, selbst wenn jetzt etwas mehr Arbeit auf ihn zukommen konnte.

20170521_192232

Hinterm Horizont – Teil 1.

 

Man erzählt sich, die alten Seefahrer hatten damals, als sie auf ihren Windjammern loszogen, die Welt zu erkunden, ein kleines Problem. Immer dann, wenn das letzte Stückchen Land, die letzte Insel oder auch nur das letzte bisschen Treibgut hinter dem Horizont zurückblieb, überkam die Seeleute eine merkwürdige Stimmung. Wenn es nur noch das Schiff, sie selbst und die schier endlosen Weiten des Ozeans mit seinen bodenlosen Wellen gab, verfielen sie in eine Art der Depression oder Apathie.

Aber solche Dinge gehörten der Vergangenheit an. Inzwischen hatten sich die Welt und die Menschheit stark weiterentwickelt. Vieles, was einst undenkbar erschien, war nun Realität. Damals träumten die Menschen noch davon, ihren eigenen Planeten zu erkunden. Fremde Welten waren keinen Gedanken wert, und wenn es die Bälle des eigenen Systems wären. So vieles hatte sich seitdem verändert. So viel mehr hatte man in der Zwischenzeit gelernt. Zum Beispiel, dass es nicht nur das eigene Sonnensystem gab und auch nicht nur diese eine Erde. Die andere Erde war nur allem Anschein nach völlig tot, aber in direkter Nachbarschaft. Und die Menschheit hatte die Möglichkeit erlernt, genau diese zweite Erde zu erreichen.

Vor nur zehn Jahren war dies noch völlig unmöglich erschienen. Ein Schiff, welches lebende Menschen und ihre Ausrüstung im Verlauf nur eines Menschenlebens über zig Lichtjahre hinweg transportieren konnte. Ein Schiff, welches am Zielort landen konnte, und als Keimzelle für die Biosphäre einer ganzen Welt dienen konnte. Eine Samenkapsel, die eine raue, tote Insel in ein blühendes Paradies verwandeln sollte. Das waren wir.

Nicht nur für uns war es das ganz große Abenteuer. Die halbe Menschheit sah es als ein Jahrhundertprojekt, vielleicht sogar als Jahrtausendprojekt. Nie zuvor hatten Menschen das Sonnensystem verlassen, nie zuvor eine fremde Welt besiedelt, um eine zweite Erde zu erschaffen. Mond, Mars und die Monde der Gasriesen hatten ihre Basen bekommen, teilweise waren sie sogar dauerhaft besiedelt. Doch immer waren es nur kleine Stationen zur Erforschung und Organisation der Bergbauaktivitäten. Wer so weit draußen gewesen war, kam oft zurück und schwärmte von der wärmenden Sonne auf der Erde oder ihrer Schönheit, die sie erst aus der Ferne offenbarte.

Wir Menschen von Erde und Mond konnten das nie nachvollziehen. Die Sonne war einfach da und wir kannten sie nicht anders. Was die Schönheit der Erde betraf, so musste es wohl wirklich an der Perspektive liegen. Oder aber, die Kolonien dort draußen mussten wahrhaft trostlos sein. Dabei kamen doch von dort die Bilder mit den tollsten Aussichten. Ein immenser Jupiter, welcher sich über den Horizont erhob oder die Ringe des Saturn, wie sie den Himmel seiner Monde so beeindruckend dominieren konnten. Die teils roten und gleichzeitig blauen Sonnenuntergänge, wie sie sich auf dem Mars zeigten, dagegen konnte die Erde einfach mit nichts aufwarten.

Trostlose Großstädte, die wie raue Felswüsten ganze Landstriche prägten. Enorme Äcker und Felder, die sich schier endlos wie verkrustete Wunden über Hügel und Täler erstreckten und giftig grüne Ozeane, von Algenblüte und Hydrofarmen bedeckt. Wer es sich leisten konnte, verbrachte seine Zeit in einer der vielen bunten virtuellen Realitäten. Die anderen suchten wenigstens mit augmentierten Realitäten ihren Trost. Künstliche, aufregende Fassaden über einer schmutzigen und grauen Realität. Doch das alles konnte nicht darüber hinweg täuschen, dass es alles nicht wirklich echt war.

Die VR und AR Programme sollten die Leute motiviert halten und wenigstens ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Doch sie waren nie gut genug geworden, um wirklich allen Träumen und Hoffnungen gerecht zu werden. Sie mochten das menschliche Grundbedürfnis nach immer mehr Mehr drosseln, aber gänzlich unterdrücken oder gar befriedigen konnten sie es nie. Es war nicht länger der große Wunsch nach noch mehr kleinen Dingen. Was sich in der Gesellschaft mehr und mehr aufstaute, war die Sehnsucht nach dem nächsten ganz großen Wurf.

Feuer, das Rad, der Buchdruck, Eisenbahnen, Flugzeuge, Computer, das Internet, Raketenantrieb und viele andere „große“ Erfindungen lagen weit in der Vergangenheit. Unsere Urgroßeltern stammten noch aus einer Generation, in der man sich an vergangene, große Taten erinnerte. Sie erinnerten sich auch noch an ihren Spitznamen. „Generation Taugenichts“ waren sie gerufen worden und es hatte einen schrecklichen Beigeschmack gehabt. Ihre Kinder hatten damit angefangen, das Schimpfwort als einen Titel zu tragen. Das war ihr Protest gegen die alten Strukturen und er war von Erfolg gekrönt, wie so oft, wenn eine Gruppe ihre Beschimpfung in einen Anzug steckt und stolz auf die Bühne stellt.

20170521_220340