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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 128.

Geläster

Für Mia mochte es ein ungewohnter Start in eine Hausarbeit sein. Normalerweise sammelte sie nur schnell die nötigen Bücher zusammen, lud sich passende Paper oder Artikel herunter und verkroch sich dann mit ihrem Laptop an den heimischen Schreibtisch oder ins Bett. Doch im Augenblick war ihr in der Wohnung zu viel Lärm mit der Baustelle im Nachbarhaus. Ihre Hoffnung war gewesen, dass der gleichmäßige und gedämpfte Lärm eifrig lernender Studenten, eine unauffällige Hintergrundmusik sein würde, zu der sie selbst auch fleißig sein konnte.

Für eine Weile hatte es auch geklappt. Sie hatte einige Paper überflogen und die Hälfte gleich wieder als für das Thema irrelevant gekennzeichnet. Zwei Bücher hatte sie ebenfalls schon durchgearbeitet, alles Hilfreiche raus geschrieben und sie gleich wieder auf den Stapel zur Rückgabe gelegt. Und eigentlich hätte sie auch gerne etwas Musik nebenbei gehört, wenn sie denn etwas Passendes dabei gehabt hätte. Gegen die doch ablenkenden Störgeräusche hätte das sicherlich gut helfen können. Doch sie hätte auch nicht bemerkt, dass die Stimmen, welche durch die dünne Trennwand der Lernkabine hallten, nicht unbekannt waren. Sie gehörten zu Jens und Ole, Kommilitonen seit dem ersten Semester, die sie zwar kannte, mit denen sie aber nie viel zu tun gehabt hatte.

„Boa alter, check die da mal. Blaue Jacke, geht gerade raus. Hammer Teile!“

„Nicht so auffällig, man. Kann das nicht auch Push-Up sein? Die sind sonst echt hart.“

Ganz offenbar waren sie beide nicht mit Lernen beschäftigt. Stattdessen führten sie detaillierte Beobachtungen und Diskussionen durch, wenn man es denn so nennen wollte.

„Glaube ich nicht, die könnten schon wirklich echt sein. Ines trägt viel Push-Up, schon mal drauf geachtet? Nicht, dass sie es nötig hätte, aber egal.“

„Dein Ernst? Ines? Alter, die sieht voll bitchy aus, was willst du von der?“

„Was für bitchy? Ich weiß ja, du stehst nicht auf Blond, aber selbst du musst zugeben, dass die echt scharf ist.“

„Naja gut, ich mach sie dir nicht streitig, also viel Spaß. Aber wolltest du nicht was von der Kleinen aus dem Methodenseminar? Heißt die Tina?“

„Ja, Tina, aber bei der muss man echt aufpassen. Irgendwas läuft bei der voll seltsam. Irgendwann wollte die angeblich mal was von Florian, hat sich dann aber übelst an diesen Erik ran gemacht und ist jetzt mit Marco zusammen.“

Mia hatte nie viel auf Klischees gegeben. Besonders, wenn es an Geschlechterrollen ging, wollte sie sich nicht mit dem Status quo zufriedengeben. Daher war ihr auch durchaus bewusst, dass auch Männer gerne einmal lästerten und tratschten. Das Ausmaß, wessen sie hier gerade Zeuge wurde, überraschte sie aber dann doch. Es fiel ihr ein Spruch ein, den sie einmal gelesen hatte, oder besser gesagt, ein Teil davon. Kleine Geister reden über Leute. Sie konnte sich nicht mehr an den anderen Teil erinnern. Irgendeine noble Eigenschaft größerer Geister musste es gewesen sein. Aber für den Augenblick reichte dieses Fragment völlig.

„Verdammt viel Verkehr. Wer soll da noch den Überblick behalten?“

„Musst du gerade sagen. Du springst doch selbst jedes Wochenende auf ne andere. Findest wohl keine, die dich nen zweites Mal lassen würde.“

„Schnauze. Außerdem hab ich Gerüchte gehört, dass die angeblich schwanger ist. Ob sie wenigstens weiß, von wem? Erik oder Marco?“

Die Beiden hatten ganz offenbar keine Ahnung, dass sie neben ihnen saß und zuhören konnte. Auch wenn Erik sich dem Gedanken zu verweigern schien, Mia wusste genau, dass Tina ihn nicht einfach nur als Freund betrachtete. Allein das bloße Hirngespinst, dass es jemand für möglich hielt, ihr Freund könnte Tina geschwängert haben, versetzte ihr einen empfindlichen Stich.

„Erik ist doch mit Mia zusammen, der Riesenfrau. Das wird der auch nicht aufs Spiel setzen, die zieht ihn doch durchs ganze Studium. Jede Wette, wenn die mal Kinder bekommen, bleibt er als Papa zu Hause. In der Beziehung ist sie der Kerl.“

Ja, und ich bin mehr Kerl und mehr Frau, als du überhaupt vertragen könntest, ging es Mia durch den Kopf. Vielleicht könnte sie Teile dieser Aussagen als Kompliment aufnehmen. Zum Beispiel, dass sie gut genug für zwei war, oder dass sie charakterstark war. Aber sie wollte einfach nicht. Es war gerade so viel einfacher, sich über diese zwei Kleingeister hinweg zu setzen und sich über haltlose und fantasievolle Unterstellungen zu ärgern. Wenigstens würde sie beim Training nachher dadurch sicherlich einen gründlichen Vorteil haben.

Strickmob im Ringpark

Hörsaalgetuschel -Ausgabe 93

Lange Nacht

Die ausdauernde Sommersonne war schon vor langer Zeit untergegangen. Es konnte nicht mehr ewig dauern, bis auf der anderen Seite der dicken Gardinen die ersten Anzeichen der Morgendämmerung auftauchten und die hoch treibenden Federwölkchen sanft rot färbte. Mia lag auf dem Rücken, die Hände vor dem Bauch verschränkt und starrte an die dunkle Decke über ihr. Wenigstens war das der Ort, an den ihre Augen gucken würden, wenn das Gehirn ihre Informationen nicht aktuell ignorierte. Mia war mit sich selbst beschäftigt, der Blick nach innen gekehrt.

Sie hatte ihre Zeit genutzt, seit die Vorlesungen zu Ende waren. Die ganze Woche hatte sie am Schreibtisch verbracht und war wieder und wieder ihre Abschlussarbeit durchgegangen. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie noch daran arbeitete. Es fühlte sich ja kaum noch wie ihre eigene Arbeit an, nachdem Erik sie restauriert und in eine elegante Form gegossen hatte. Er hatte wirklich ganze Arbeit bei der Formatierung geleistet. Übersichtlich, sauber, einfach zu lesen, professionell und nicht zu sehr gestreckt. Sie war verblüfft gewesen und reichlich neidisch auf diese Fähigkeiten. So verblüfft, dass sie beinahe vergaß, sich zu wundern, wieso er ihr ihre Arbeit geben konnte. Warum hatte er sich diese Arbeit gemacht? Mit seinem eigenem Studium kam er nicht aus dem Quark aber ihre Abschlussarbeit erledigte er mal eben nebenher?

Sie hatte zügig wieder in das Thema gefunden und die restlichen Kapitel geschrieben. Dennoch war sie nicht glücklich damit. Sie konnte nicht sagen, welcher Teil ihrer eigenen Feder, und welcher aus Eriks entsprungen war. Eigentlich sollte sie das nicht stören, versuchte sie sich einzureden. Solange sie es niemandem auf die Nase band, würde es ihr Geheimnis bleiben. Selbst Erik konnte sie sagen, sie habe alles noch einmal umgeschrieben. Er konnte sich wahrscheinlich kaum noch daran erinnern, was der Inhalt, geschweige denn der Wortlaut der Arbeit war. So etwas war ihm nie wichtig gewesen. Er ging so leichtfertig mit dem Vergessen um.

Und sie selbst bemühte sich verzweifelt, so wenig wie möglich zu vergessen. Die Arbeit rannte in ihrem Kopf auf und ab, dass an Schlaf nicht zu denken war. Selbst die Augen schienen nicht müde zu sein, nach all den langen Stunden am Rechner. So sehr sie sich auch bemühte und so sehr die Arbeit doch wieder Produkt ihrer eigenen Anstrengungen war, sie war nicht zufrieden. Von morgens früh bis abends spät bemühte sie sich, nur unterbrochen von der obligatorischen Pause am Nachmittag, wenn „Alles nur aus Liebe“ lief. Erik versuchte sich um sie zu kümmern, wenn er denn da war.

Einen Teil des Tages verbrachte er selbst in der Bibliothek und lernte mit Flo für die anstehenden Klausuren. Vermutlich war auch Tina dabei, aber das war Mia inzwischen nicht mehr wichtig. Dieses blondierte Schmalspurweib würde ihr ihren Freund nicht streitig machen, wenn sie nicht restlos dumm war. Der eigentliche Grund hinter ihrer Ruhe hatte sie zunächst kräftig erschreckt und ihr sehr viel Selbstbeherrschung abverlangt, ihn sich selbst einzugestehen: Sie vertraute Erik.

Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, klang es fast banal. Vertrauen, die notwendige Basis jeder Beziehung. Es hatte fast zwei Jahre Beziehung gebraucht, bis sie sah, dass sie ihm vertraute. Im Umkehrschluss hieß das, dass sie ihm vorher nicht vertraut hatte? Wie war da überhaupt eine Beziehung möglich gewesen? War überhaupt eine Beziehung möglich gewesen? Sie hatte begonnen, sich selbst und ihre Beziehung mit Erik zu reflektieren. Während am Horizont der erste helle Streifen mit dem dunklen Nachthimmel rang, fielen ihr immer mehr und mehr Details, kleine und große Gesten und Worte ein und auf. Wie sehr Erik sich immer wieder bemüht hatte. Die allgegenwärtige Abschlussarbeit drang in ihr Gedankengebäude ein und mischte sich unter die Erinnerungen.

Auf einmal fühlte sie sich wieder wie ein kleines Kind. Das kleine Mädchen, welches unter dem Baum im Garten stand und, so sehr sie sich auch bemühte, es nicht einmal schaffte, auf den unteren Ast zu kommen. Sie hatte aufgeben müssen, weil sie nicht groß und nicht stark genug war. Jetzt war sie groß und stark genug. Aber war sie auch gut genug? Sie hatte nicht das Gefühl. Nicht bei ihrer Arbeit, nicht in ihrer Beziehung. Sie gab sich so viel Mühe und hatte trotzdem immer nur das Gefühl, nutzlos zu sein, ein Taugenichts. Es verdarb ihr die Laune und machte sie reizbar und mürrisch und was noch viel schlimmer war, herrisch. Sie hatte bisher nicht einmal realisiert, wie sie mit ihrer Umwelt umgesprungen war und wie sie sich verändert hatte. Jetzt tat es ihr entsetzlich leid.

Noch vor zwei Wochen war sie der Überzeugung gewesen, ihr ganzes Leben umkrempeln zu müssen. Sie hatte alleine nach einer Wohnung gesucht, in einer fremden Stadt, einer fremden Umgebung für einen Job, von dem sie nicht überzeugt war, aber den sie hätte haben können. Jetzt lag sie wieder neben Erik in ihrem gemeinsamen Bett und es fühlte sich einfach so viel richtiger an. Er sah so friedlich aus, wie er schlief, strahlte so viel Ruhe aus. Er war ihr Anker in diesem turbulenten Leben und wusste nicht einmal etwas davon. Er war die Konstante, die Regelmäßigkeit und er stand immer hinter ihr, so schwer sie es ihm auch machte. Wieso hatte sie ihm das noch nie gesagt?

Für eine Weile beobachtete sie ihn einfach, wie er dort lag und schlief, streichelte ihm vorsichtig über den Kopf und die Schultern. Irgendwas veranlasste sie dazu, ihn wach zu rütteln. Er war darüber überhaupt nicht glücklich, öffnete nur ein Auge so weit wie eben nötig und brummte sie mürrisch an. Sie erwiderte es mit einem Lächeln, gab ihm einen Kuss und sagte es nun doch einmal.

„Danke, dass du immer für mich da bist. Für alles einfach.“

Dann war sie eingeschlafen und hinterließ einen reichlich verwirrten und irgendwie beunruhigten Erik.

Clematis

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 92

Die Welt ist bekloppt

„Alles okay bei dir? Du bist so abwesend heute“

Flo saß auf Kristinas Sofa und starrte über sein zweites Bier hinweg. Kristina kam gerade aus der Küche zurück, wo sie Kekse und mehr Bier geholt hatte. Im Fernsehen lief die Wiederholung einer alten Science Fiction Serie. Als Kind hatte sie die Serie geliebt und nun hatte sie die Hoffnung, ihren Freund wenigstens ein kleines Bisschen für diese Leidenschaft begeistern zu können. Flo nippte nur abwesend an seinem Bier. Er hatte beiläufig mitbekommen, dass er angesprochen worden war, hatte aber den Sinn der Worte kaum verstanden. Kristina war mit dem unbestimmten Brummen als Antwort nicht wirklich glücklich, als sie sich neben ihm aufs Sofa fallen ließ.

„Was geistert dir im Kopf herum?“

„Die Welt ist bekloppt.“

Das war nicht viel bestimmter als das Brummen, aber immerhin ein guter Ansatz. Im Fernsehen rannte ein Astronaut mit einer Salatschüssel als Helm seines Anzugs über einen fremden Planeten. Sie seufzte innerlich.

„Du hast wieder Nachrichten gesehen, stimmts?“

„Hmm auch.“

„Welche?“

„Einige.“

Er machte eine Pause und trank einen ausgiebigen Schluck. Sie ließ ihn machen. Manches mal half es ihm, über Themen zu reden, die über Banalitäten hinaus gingen. Flo war ein Meister des Small Talks, aber wenn es um etwas ging, was ihn bewegte, dann sah die Sache anders aus.

„Hab Anfang der Woche nicht gut geschlafen. Der Rettungshubschrauber ist laufend übers Haus geflogen. Wegen dem Bekloppten in der Bahn. Dann gibt’s hier und da noch ein wenig Krieg oder mal ein Amoklauf oder Selbstmordanschlag.“

„Ja, das ist schon wirklich schrecklich und traurig.“

„Was mich viel mehr stört, ist, dass es normal geworden ist und niemand mehr wirklich zu fragen scheint, wieso das passiert. Es ist einfacher, dass auf religiöse Spinner oder Psychopathen zu schieben. Hast du heute schon Nachrichten geguckt? Kinder sind tot und die Sender haben nichts Besseres zu tun, als den Bruder von einem Mädchen vor die Kamera zu zerren und den erzählen zu lassen, wie er durch die Krankenhäuser und Polizeistationen gezogen ist, in der Hoffnung, sie noch lebend zu finden. Ein Mann legt eine Blume am Unglücksort ab und rund herum stehen zehn oder fünfzehn Journalisten mit ihren Kameras, die begeistert drauf halten. Die Welt ist einfach völlig bekloppt geworden.“

Kristina sah ihm schweigend dabei zu, wie er seine Flasche leerte und sich eine neue öffnete. Sie wusste nicht, was sie hätte sagen können, um ihn zu beruhigen. Nach außen hin war er schließlich auch ruhig. Es war eher Resignation, die aus ihm sprach. Er hatte seine Artgenossen schlicht aufgegeben, fühlte sich mal wieder von ihnen verraten und im Stich gelassen. Das kannte sie bereits von ihm. Das Ausmaß überraschte sie dennoch.

„Ach ja, und ich habe Post bekommen. Vor etwa einem Monat hatte ich ein Vorstellungsgespräch, für nach dem Abschluss. Hab wohl keinen guten Eindruck hinterlassen. Sie haben jedenfalls jemand anderen genommen. Aber das war keine Überraschung.“

Doch, das war es. Für sie auf jeden fall. Sie hatte nicht gewusst, dass er sich bereits auf Stellen beworben hatte, wo er doch noch wenigstens ein Semester vor sich hatte. Und so oder so, in ihren Augen war er reichlich qualifiziert, vielleicht sogar überqualifiziert. Egal, was das auch immer für eine Stelle gewesen sein mochte. Sie probierte einen Keks und stellte fest, dass sie überhaupt nicht zum Bier passten.

Lindau

Hörsaalgetuschel – Ausgabe „wie gehts weiter?“

Nach gut 90 Ausgaben Hörsaalgetuschel weiß ich nicht mehr so ganz, wohin die Reise gehen will. Sehr vieles aus dem Unialltag ist bereits vorgekommen, auch wenn die alten Ausgaben kaum gelesen wurden. Der Versuch in den letzten Ausgaben, ein wenig auf die Anfänge der Serie zurück zu verweisen, hat nur mäßig gut geklappt. Vereinzelt haben sich Leser auf die alten Folgen locken lassen und diesen hat es auch gefallen, viel mehr hat es aber auch nicht ergeben. Viel mehr habe ich allerdings auch nicht erwartet. Die Serie hatte immer wieder schwächere Phasen, in denen ich recht uninspiriert an die Sache heran gegangen bin. Dann gab es aber auch immer wieder Phasen, wo mir eine Idee gekommen ist, die wieder einen frischen Hauch hinein gebracht hat. Wer mir schon länger folgt, der hat eventuell ein gewisses Auf und Ab bemerkt.

Ich muss mich allerdings entscheiden. Möchte ich versuchen, die Serie fort zu führen und die Geschichte um Flo, Mia und Erik noch etwas weiter spinnen? (Und wenn ja, in welche Richtung?) Oder entscheide ich mich lieber für eine Pause, und versuche an dieser Stelle einmal etwas anderes? Vielleicht ein kleiner Blick in die Sterne? Ab wann kann das Auf dem Ab nicht mehr entgegen wirken? Ich will auf jeden Fall weiter schreiben. Einfach, weil ich es auch brauche. Vielleicht eine etwas längere Geschichte, vielleicht auch nur etwas kurzes.

Ich wäre auf Eure Meinung dazu gespannt. Was lest Ihr gerne? Was hat Euch überhaupt erst auf meine kleine Buchstabensuppe gebracht, und vor allem, hier gehalten? Möchtest Du als Nächstes gerne eine weitere Ausgabe Hörsaalgetuschel lesen, oder doch lieber einen Ausflug in eine frischere, unverbrauchtere Welt? Lass es mich gerne wissen.

Bis dahin, euer Graf

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 91

Damals…

Ein Hoch auf den ÖPNV und seine Freuden. Wie sehr es Flo doch liebte auf den Bus zu warten. Er hatte nicht mitgezählt aber inzwischen musste jeder einzelne Bus der gesamten Stadt an der Haltestelle vorbei gekommen sein, außer dem, der zur Uni hoch fahren sollte. Ein kurzer Blick auf die Uhr und ein langer Blick auf den Fahrplan. Vor zwanzig Minuten hätte er da sein sollen aber das war ja nur der Bus, der auf dem Plan stand und Fahrpläne waren entweder vorsichtige Vorschläge oder dekorative Elemente, die einem das Auffinden einer Bushaltestelle erleichtern sollten. Wahrscheinlich wäre er schneller gewesen, wenn er gelaufen wäre. Später ist man immer schlauer aber das war nun schon das vierte mal in zwei Wochen, dass Flo darauf herein gefallen war. Jetzt noch los zu laufen würde ihm auch nichts mehr bringen und der andere Bus zwei Blocks weiter war um diese Zeit auch längst durch. Für einen Augenblick erwog er, einfach nach hause zu gehen und sich einen schönen Tag zu machen aber dann würde er seine fällige Hausübung nicht abgeben können und das konnte und wollte er sich nicht leisten.

Er atmete tief durch, zwang sich zur Ruhe und trat nervös von einem aufs andere Bein. Um ihn herum bot sich das einheitliche Bild von Menschen, die mit stoischem Gesichtsausdruck, jeder für sich auf den Bus warteten und dabei den Blick auf Smartphones gefesselt. Auf Flo wirkten sie immer etwas wie Wachsfiguren oder Schaufensterpuppen. Die meisten hatten sich mit Kopfhörern abgeschottet und bekamen von der Umwelt nur noch das Nötigste mit. Er selbst hatte sich genau so gern mit Musik abgeschottet und sein Blick reichte entweder bis zur Nasenspitze oder bis zur Kreuzung, von wo aus der Bus kommen sollte. Die Wachsfiguren schienen geduldiger als er selbst zu sein. Offensichtlich wussten sie etwas, was er nicht wusste. Den genauen Zeitpunkt zum Beispiel, an dem der Bus kommen würde.

Wäre Flo gelaufen, er wäre jetzt ungefähr an der Uni angekommen. Stattdessen kam jetzt erst der Bus, überfüllt und mit einem offensichtlich übermüdeten Busfahrer, der überlegte, ob er nicht einfach vorbei fahren sollte. Glücklicherweise entschied er sich nicht nur zum Halten sondern auch noch dazu, die Türen auch zu öffnen. Wieder etwas nicht so selbstverständliches in dieser Stadt, so verrückt es auch klang. Flo seufzte und quetschte sich in das Getümmel. Verbrauchte Luft schlug ihm entgegen und er machte seine Musik lauter, um wenigstens nicht viel hören zu müssen. Er bemühte sich, möglichst wenig von den Menschen um ihn herum mitzubekommen. Es war ihm nicht nach Zoo zumute.

Je nach Laune würde er eine solche Situation nutzen, um seine Mitmenschen zu beobachten und zu beurteilen. Er war realistisch genug, zu sehen, dass auch er sich immer wieder nicht musterhaft verhielt. Mal war er angetrunken unterwegs, mal waren seine Haare nicht ordentlich frisiert oder der Bart nicht ganz sauber gestutzt. Vielleicht hatte er auch einmal einen Fleck auf dem Hemd. Doch wenn er sich im Bus umsah, dann hatte er den Eindruck, vielen Leuten wäre einfach alles egal. War es Ignoranz oder Überheblichkeit? So oder so war es ihm heute egal. Er war unterwegs, seine Mission zu erfüllen und das wars.

Vor dem Fenster herrschte strahlender Sonnenschein und ein traumhaftes Wetter. Es war eigentlich viel zu gut, um Bus zu fahren. Bislang war es überhaupt das Beste am ganzen Tag. Dicht gefolgt von der Endhaltestelle, an der der Bus nun klappernd zum Stehen kam. Die Türen öffneten sich und die lebende Ladung purzelte und taumelte auf den Bürgersteig davor, ehe sie sich verteilte. Auch Flo hangelte sich aus dem Bus und versuchte dabei, mit so wenigen seiner Mitreisenden, wie möglich, zu kollidieren. Eine Herde Yetis stapfte vorbei. Vielleicht waren es auch nur Hirngespinste.

Flo überprüfte seinen Rucksack. Er war noch da und der Inhalt genau so. Diesmal hatte er rechtzeitig an alles Wichtige gedacht, im Gegensatz zu diversen anderen Malen. Inzwischen konnte er es sich einfach nicht mehr leisten, schludrig zu sein. Bei dem Gedanken an frühere Semester wurde er beinahe etwas wehleidig. Damals war alles noch etwas leichter gewesen. Damals…

Bodensee 2

Backtracking zum Vergleichen: Hörsaalgetuschel – Ausgabe 2

Falls Du es noch nicht gelesen hast und neugierig bist 😉 Alles hat irgendwo einmal angefangen.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 90

Referat

Das tolle am Donnerstag war in diesem Semester, dass Flos erstes Seminar erst mittags um zwölf war. Das war nicht nur mehr als genug Zeit zum Ausschlafen, man bekam im Vorfeld sogar richtig etwas erledigt. Wenigstens hatte er den Morgen bereits zum Wäsche waschen und Einkaufen genutzt. Das Zimmer war auch gesaugt und alle Mails beantwortet, sogar eine besonders kreative Spam Mail. Ein alberner Spaß, den er sich immer mal wieder gönnte, um sich kreativ auszutoben.

Nun saß er gemeinsam mit Tina und Erik im Seminarraum und träumte vor sich hin. Dass er ausschlafen konnte, hieß nicht, dass er auch ausgeschlafen war. Er hatte grundsätzlich in letzter Zeit nicht oft das Gefühl gehabt, gut ausgeschlafen gewesen zu sein. Wieso das so war, konnte er nicht genau sagen. Sein Körper schien sich einen eigenen Biorhythmus überlegt zu haben, der in keinem Bezug zu irgendetwas anderem stand. Nicht zum Sonnenstand, einer beliebigen Zeitzone des Planeten oder seinem eigenen Tagesrhythmus.

Erik sah ebenfalls nicht so aus, als habe er in letzter Zeit viel geschlafen. Im Augenblick erzählte er der besorgt und eifersüchtig dreinblickenden Tina, dass er das schöne Wetter am letzten Wochenende dazu genutzt hatte, mit Mia ans Meer zu fahren. Einmal weg, einmal raus, abseits der Arbeit. Einmal den Kopf freibekommen, Zeit zu zweit genießen, sich auf das Wesentliche besinnen. Er hatte versucht, ihre Zukunft auszublenden aber an einem Punkt war es trotzdem durchgebrochen. Sie schien mit sich selbst zu hadern und sich unsicher zu sein, sah aber keinen Weg zurück mehr. Also gab es keinen Grund mehr für sie, über das Thema nachzudenken. Der Weg war vorgegeben wie die Trasse einer Achterbahn.

„Ich darf Sie heute zum vorletzten mal in diesem Seminar begrüßen. Nächste Woche ist der letzte Termin, der aber noch stattfindet. Wir werden da noch zwei Vorträge hören. Herr Tümmler und Frau Yasici stehen noch auf der Liste. Das stimmt noch so weit?“ Die Dozentin blickte kurz suchend ins Publikum, sah die beiden Angesprochenen nicken und machte sich zufrieden eine Notiz. „Für heute gibt es leider eine kleine Planänderung. Eigentlich wäre als Erstes gleich Frau Reinhard dran, aber sie hat uns offenbar verlassen. Weiß da jemand etwas Genaueres?“

Erik schluckte sichtbar. So direkt und öffentlich auf seine Freundin angesprochen zu werden behagte ihm überhaupt nicht. Unter vier Augen hätte er ihr die Situation vielleicht erklärt, aber so war ihm eher danach, sich in einem Loch zu verkriechen. Er war dankbar, dass Flo ihm diese Last abnahm und der verdutzten Dozentin eröffnete, dass Mia ihr Studium wohl abgebrochen hatte. Die Nachricht wurde mit verhaltenem Gemurmel und ungläubigem, stummen Staunen aufgenommen. Irgendwo im Haus knallte eine Tür, im Raum klappte ein Kiefer geräuschvoll zusammen. Die Musterstudentin fehlte, und das offenbar nicht krankheitsbedingt. Es war ein kleiner Schock.

Der zweite Vortrag der Stunde wurde also entsprechend nach vorne gezogen. Der stille Markus aus der letzten Reihe war dran. Erhob sich zitternd und stolperte ungeschickt aus der Reihe, um nach vorne zu kommen. Man sah ihm sein Lampenfieber an. Die fünfzehn Leute, vor denen er hier reden musste, waren ihm wenigstens fünfzehn zu viele. Der Kurs nahm seine Nervosität amüsiert zur Kenntnis. Flo atmete tief durch. Er kannte Markus‘ Vortragsstil und konnte ihm wenig abgewinnen. Die Panik ließ ihn unkontrolliert stottern und stammeln, was die Erfahrung für ihn selbst nur noch schlimmer machte und für die Zuhörer zu einer kleinen Tortur.

Markus war noch nicht ganz aus seiner Reihe heraus, da flog die Tür auf und eine völlig außer Atem geratene Mia stand mit hochrotem Kopf im Raum. Entschuldigend hob sie die Hand voller Blätter.

„Entschuldigung, der Drucker in der Bib wollte mein Handout nicht drucken. Ich musste erst einen anderen finden, der nicht drei Stunden Wartezeit hatte. Es war alles etwas knapp kalkuliert.“

„Frau Reinhard,“ die Dozentin wirkte ehrlich überrascht „uns wurde soeben mitgeteilt, dass sie sich einen anderen Beruf als den der Studentin gesucht hätten.“

„Ja, das stimmt schon.“ Mia funkelte Flo vielsagend an „Allerdings sollte man gewisse Dinge nicht übereilen. Das Semester ist ja nun auch nicht mehr so lang.“

Markus hatte sich still, heimlich und unendlich dankbar wieder auf seinen Platz zurückgezogen. Er wusste, dass er nur etwa eine halbe Stunde gewonnen hatte, doch ihm war jede Minute mehr nur recht. Hätte er als einer der Ersten gehalten, hätte er es nun hinter sich. Und nebenbei würde er nicht im Vergleich zu Mia stehen.

Sie hat es sich also noch einmal überlegt. Flo und Erik waren beide gleichermaßen überrascht. Vermutlich sogar noch deutlich überraschter, als sonst jemand im Raum. Später würde sie ihnen eröffnen, dass sie immer noch weg wollte, aber wenigstens ihren Abschluss noch fertig machen wollte. Erik würde ihr die „Sicherungskopie“ später geben und sie würde ihn nicht umbringen. Jedenfalls nicht gleich. Zunächst aber würde sie ihm erstmalig in ihrer Beziehung das Gefühl geben, ihn wirklich als gleichwertigen Partner zu sehen, dessen Meinung ihr tatsächlich etwas bedeutete.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 89

Dejavu

Erik, früher Mittzwanziger, dunkelblond mit aktuell etwas ungepflegter, strubbeliger Frisur und einem unsauber rasierten Stoppelkinn, ließ sich auf dem Weg zur Vorlesung noch einmal die letzte Nacht durch den Kopf gehen. Wortwörtlich!

Angekündigt war die Party des Jahrhunderts, schon zum mindestens zwanzigsten Mal dieses Jahr und er war schon wie zu allen anderen davor nicht hingegangen. Was am Ende dabei herumkommen würde, war ein einziges Besäufnis mit billigem Bier, schlechter Musik und zu vielen Leuten, mit denen er nüchtern wohl nie reden würde. Wieso sich also die Mühe machen? Er hatte stattdessen Flo besucht, eine Weile mit ihm geredet, einige Biere getrunken und später in seiner Wohnung alleine mit Schnaps weiter gemacht, bis die Vögel wach wurden.

So kam es, dass Erik nach immerhin drei Stunden Schlaf aus den verschwitzten Laken kroch, um rechtzeitig um Viertel nach acht in der Vorlesung zu sitzen. Wer kam eigentlich auf die glorreiche Idee, schon so früh eine Vorlesung halten zu müssen? Das war absolut widernatürlich, selbst zum absehbaren Ende des Semesters. Aber er hatte die Vorsätze, das laufende Semester nicht völlig vor die Hunde gehen zu lassen. Da mussten schon einmal Opfer gebracht werden. Erik erbrach sich in den Mülleimer vor dem Supermarkt, besorgte sich ein Konterbier und eine fettige Salami, aß dann zuerst die Salami und leerte das Bier, nur um fünf Minuten später beides in den Mülleimer vor dem Hörsaal zu spucken. Während die stinkende Suppe aus dem Korb sickerte, wankte er in den Saal. Von Flo kannte er ein solches Verhalten aber er selbst? Beinahe schämte er sich etwas dafür.

Drinnen sah er sich mit kurzsichtigen Augen um. Fahle, müde Gesichter mit verquollenen Augen und immer wieder ein völlig überdrehtes Schnattermaul und übertrieben freundliche Morgenmenschen. Der Geruch von saurem, billigen Kaffee hätte ihn fast wieder hinausgetrieben. Links und rechts neben ihm tauchten zwei verschwommene Gestalten auf, griffen ihm unter die Arme und schleiften ihn mit in eine leere Reihe.

„Der Erik hat gestern den Absprung verpasst und ein schlechtes Bier erwischt. Ehrlich Junge, wieso kommst du überhaupt noch? Pennen kannst du doch besser zu Hause.“

Flo und Martin. Beide etwa einen halben Kopf kleiner als Erik und jeweils drei Jahre älter. Flo aufgrund eines ungünstigen Starts ins Studentenleben, Martin aufgrund seiner vorherigen Ausbildung zum Feinmechaniker. Beide waren auch nicht für die Party des Jahrhunderts zu begeistern gewesen. Flo, weil er den Abend gemütlich mit Erik in seiner Wohnung verbracht hatte und Martin, weil er seine Freizeit bei Frau und Kind zu Hause genießen wollte. Erik registrierte die beiden nur beiläufig. Für einen Moment hatte er das Gefühl, die Situation so ähnlich schon einmal erlebt zu haben. Ehe er darüber nachdenken konnte, war sein Kopf aber bereits auf den Tisch gesunken.

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„Ich darf Sie dann um Ruhe bitten, damit wir anfangen können. Zunächst einmal habe ich Ihnen einige Probeklausuren online zur Verfügung gestellt. Die können Sie sich einmal ansehen und dann Ihren Wissensstand überprüfen oder mir noch offene Fragen stellen. In der letzten Woche wollten wir ja hierzu eine Fragestunde abhalten. Passt der Termin bei Ihnen allen noch?“

Erik gab seinem inneren Zwang nach, gähnte herzhaft, rieb sich kurz die juckenden Augen und behielt sie nur einen Augenblick geschlossen. Vielleicht wäre er wirklich besser im Bett geblieben aber er hoffte immer noch auf das Wunder, den Stoff durch reines Zuhören aufnehmen zu können. Er atmete tief durch und richtete sich auf. Außerdem war sein Bett in letzter Zeit alles andere als ein Garant für Schlaf geworden. Es fehlte einfach etwas Entscheidendes.

„…was Sie ja auch alles bereits kennen. Das haben wir in den letzten beiden Wochen glaube ich ausführlich genug besprochen. Ich gucke gerade auf die Uhr. Wenn Sie jetzt noch Fragen haben, dann stellen Sie die bitte. Ansonsten würde ich nämlich dann auch für heute Schluss machen. In den letzten drei Minuten das neue Thema anzufangen ergibt wenig Sinn. Bis nächste Woche dann.“

Irritiert sah Erik sich um. Alle packten ihre Taschen zusammen und standen auf. Er wusste nicht, ob er um sein Timing glücklich oder verärgert sein sollte. Er bemerkte jetzt erst richtig, was Mia immer für ihn geleistet hatte, als sie ihn mit in die Veranstaltungen geschleift und ihn zur Aufmerksamkeit gezwungen hatte. Was war er doch ein Narr gewesen, wenn er sich zwischenzeitlich über sie geärgert hatte.

„Vielen Dank, dass ihr mich so ruhig schlafen gelassen habt.“ Der verärgerte Vorwurf ging an Flo und Martin, die bereits neben ihm standen und warteten.

„Bitteschön, gern geschehen. Du hast aber auch geschlafen wie ein Stein. Keine Sorge, es ist nicht aufgefallen. Martin hat dir Kulleraugen aufgeklebt.“

Auf einem Telefon kam ein Foto von seinem Gesicht mit albernen Klebeaugen in sein Sichtfeld. Der Anblick war irgendwie albern und verstörend zugleich und er war sich fast völlig sicher, eine solche Situation schon einmal erlebt zu haben. Er wollte lieber überhaupt nicht daran denken, wann und wo. Flo fixierte ihn mit seinem Blick, als sie in die Sonne hinaus gingen.

„Hast du mit ihr geredet? Du wolltest das noch gestern Abend machen.“

Damit hatte er recht, das war sein Plan gewesen. Aber er hatte sich nicht getraut. Immerhin hätte Mia bei ihrem Standpunkt bleiben können. Er schüttelte niedergeschlagen den Kopf, straffte aber dann dennoch die Schultern.

„Hab eine Kopie von ihrer Sicherung gemacht und die Arbeit etwas sortiert und die Formatierung gemacht. Keine Ahnung von dem Inhalt aber wenigstens sieht es jetzt besser aus.“ Er zuckte beiläufig die Schultern. Nüchtern hatte er noch keinen Blick darauf geworfen, aber wenn sein Gedächtnis nicht völlig totgesoffen war, dann sah es nicht einfach nur besser aus sondern regelrecht professionell.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 85

Softwareexperimente

„Dann sehen wir mal, was das alles taugt hier.“
Mia murmelte in ihren nicht vorhandenen Bart und beugte sich über ihren Laptop. Sie hatte ihn extra für ihre Abschlussarbeit neu gekauft und war bislang einfach zu bequem gewesen, sich richtig mit ihm vertraut zu machen. Die Arbeit selbst erschien ihr gut genug, um einfach gleich damit anzufangen. Zusätzlich kam der Rechner mit einer neuen Software, die angeblich besonders gut geeignet war, um ihre Abschlussarbeit damit zu schreiben. In einem geradezu leichtsinnigen Anflug von Risikofreude hatte sie beschlossen, es einfach gleich damit zu versuchen.
Es wäre vermutlich schlauer gewesen, sich zunächst einmal mit einem Tutorial zu befassen und sich mit den Funktionen vertraut zu machen. Dann hätte sie allerdings damit warten müssen, ihre Abschlussarbeit zu beginnen und wenn sie auf eines brannte, dann darauf, endlich anzufangen.
„Das ist alles ganz leicht mit LaTeX. Du musst nur am Anfang mal deine Einstellungen rein machen, oder später halt, und dann brauchst du eigentlich nur noch deinen Text runter schreiben. Es ist super, wenn du Formeln einbauen willst und auch wenn du Bilder dazu tust zerschießt es dir nicht gleich die ganze Formatierung, sondern macht es so, wie es sein soll.“
Lobeshymnen gab es viele, nur was steckte dahinter? Ihr erster Eindruck überzeugte sie nicht einmal im Ansatz. Das Interface sah seltsam aus und so garnicht bekannt. Hatte sie etwas falsch gemacht? Nun, vielleicht brauchte es nur etwas Zeit, um sich einzuarbeiten. Sie legte sich ihre Bücher zurecht und begann, einfach loszuschreiben. Früher oder später musste sie sich schließlich damit zurechtfinden und so konnte sie schließlich endlich mit ihrer Abschlussarbeit beginnen. Auf diesen Moment hatte sie gewartet, seit sie sich eingeschrieben hatte.
Immerhin ging ihr das Schreiben leicht von der Hand. Sie hatte schon etliche Absätze und hatte für sich selbst längst beschlossen, die Formatierung und alles damit zusammenhängende später zu erledigen. Wenn alles nichts half, dann konnte die den Text später immer noch kopieren und in ihr vertrautes Programm übertragen. Es wäre nur wenig mehr Arbeit, das dort anzupassen. So hoffte sie jedenfalls, denn eigentlich hatte sie dieses Experiment ja nur gestartet, weil es hieß, sie müsse sich hier kaum um irgendetwas kümmern. Alles sollte wie von selbst gehen.

2016-05-20 17.01.57
Nur wenn dieses Programm wirklich so toll war, wieso benutzten es dann nicht alle? Wieso war es dann nicht der unangefochtene Standard im Bereich der Textprogramme, sondern nur ein nieschiges Randprodukt, welches nur von einigen wenigen Leuten benutzt wurde und nicht einmal etwas kostete? Sie wollte es trotzdem noch nicht aufgeben. Wäre das Programm schlecht, wäre es nicht vorinstalliert gewesen. Andererseits, es gab auch einen Wetterbericht, der es nicht schaffte, den aktuellen Wetterbericht abzurufen und anzuzeigen.
Sie schätzte, dass sie inzwischen gut drei bis vier Seiten hatte. Für den Anfang war das überhaupt nicht übel. Genau konnte sie es nicht sagen, da sie keine Seitenansicht, sondern nur den reinen Text vor sich hatte. Selbst die eine Grafik, welche sie eingefügt hatte, ließ sich ausblenden. Im Augenblick war es sogar angenehmer so, nur hatte sie absolut keine Kontrolle über den Umfang. Nicht einmal die Anzahl der Wörter im Dokument konnte sie finden. Dafür fand sie nach einigem Suchen etwas anderes.
„Ansehen“, die Option, das Dokument in der Seitenansicht zu betrachten, so also, wie es aus dem Drucker kommen würde. Sie schaltete um, ein neues Fenster öffnete sich und zeigte Mia ihre Arbeit. Es sah kein Stück weit so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Jetzt begriff sie, wieso sie sich vorher mit der Formatierung hatte befassen sollen. Das war genau das, wofür sie gerade die wenigste Zeit übrig hatte. Entnervt speicherte sie ihre Arbeit, schloss das Programm und verkroch sich schmollend vor den Fernseher. Vielleicht würde sie sich später einige Tutorials im Internet ansehen, oder aber gleich aufgeben und zu ihrem Standard zurückkehren, den sie wenigstens kannte. Oder sie brachte Erik dazu, es ihr zu erklären. Er verstand zwar auch nichts davon, aber wenigstens hatte er die Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Immerhin schrieb er frühestens nächstes Semester seinen Abschluss. Das erschien ihr aber auch wieder etwas gemein.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 84

Einkaufen

Der Grund für Flos miese Laune war eindeutig. Ein leerer Kühlschrank, eine generell leere Küche, kein Reis, keine Nudeln, kein Brot, kein Gemüse oder sonst irgendetwas. Alles, was noch da war, war ein Glas Senf, etwas Quark, eine Banane und ein paar keimende Kartoffeln und Zwiebeln. Die Banane war Kristinas Schuld. Sie bestand darauf, dass er sich gesünder ernähren müsse, er sah das etwas anders. Es hätte noch einige Konservendosen gegeben, aber die enthielten nichts, was man sinnvoll mit einem der eben genannten Dinge hätte kombinieren können. Vielleicht wäre es ihm halbwegs egal gewesen, wenn er nicht ziemlich immensen Hunger gehabt hätte. Sein Frühstück war dürftig ausgefallen und seitdem hatte er nichts mehr gegessen. Er sah auf die Uhr.

Wenn er heute noch etwas einkaufen wollte, dann musste er sich beeilen. Frisches Brot würde er jetzt, nach sechs Uhr, schon nicht mehr bekommen. Aber das war auch halbwegs das Letzte, wonach ihm der Sinn stand. Vielleicht sollte er einfach losgehen und sich inspirieren lassen. In einem vollen Supermarkt würde er garantiert etwas Essbares finden. Viel größer waren seine Ansprüche nicht einmal. Essen, weil es halt notwendig war, um nicht zu verhungern. Das waren nun einmal die Regeln der Biologie und aktuell verabscheute er sich dafür, ihnen zu unterliegen.

Wenn es um andere ging, gab er sich auch mal Mühe, etwas Gutes zuzubereiten. Für Kristina kochte er regelmäßig, suchte sich vorher ein Rezept heraus und besorgte alles Notwendige. Für sich selbst reichten auch Nudeln mit Ketchup oder Tiefkühlpizza völlig aus. Nicht auf Dauer, aber schon für eine Weile und Flo konnte sehr ausdauernd sein, was das betraf. Vielleicht würde er sich heute aber eher für einen frischen Salat entscheiden oder für Kartoffeln mit Buttergemüse. Das war zwar mehr Arbeit aber schmeckte auch besser.

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Die nächste Einkaufsmöglichkeit war ein Discounter, und zwar einer von der extra billigen Sorte. Flo war das gerade recht. Wenn er schon keine Wahl hatte und unbedingt essen musste, dann sollte es nicht auch noch überteuert sein. Und wieso sollte er einen teureren Supermarkt oder Spezialitätenhändler aufsuchen? Die letzten Lebensmittelskandale hatten auch vor denen nicht haltgemacht. Das billige Zeug war genau so verseucht wie alles andere auch. Dioxin in den Eiern, Pflanzenschutzmittel im Bier, Pferd in der Lasagne und Gammelfleisch mit Analogkäse auf der Pizza. Wenn das wirklich alles so schrecklich giftig war, dann müssten die Menschen doch sterben wie die Fliegen.

Wenigstens seine Prognose mit dem Brot war richtig. Es gab keins mehr. Flo war darüber kein Bisschen traurig. Er hätte es selbst heute wohl nicht gekauft, und wenn es keines mehr gab, dann konnte es auch nicht mehr liegen bleiben und schlecht werden. Er streifte durch die Regale auf der Suche nach etwas, worauf er Hunger haben könnte. Schokolade lachte ihn an, er überlegte kurz, wurde sich dann seines Hungers bewusst, schob den Heißhunger darauf und ließ sie liegen. Er brauchte etwas Handfesteres. Nudeln waren immerhin haltbar. Wenn er sie heute nicht aß, dann würden sie auch noch in einem halben Jahr gut sein. Er packte eine Tüte ein und lies ein Glas Soße dazu im Regal stehen.

Bevor er losgegangen war, hatte er eine kurze Inventur in der Küche gemacht und seine Vorräte zusammengezählt. Jetzt ging er die kurze Einkaufsliste ab, die er in seinem Kopf hatte. Er brauchte etwas, was als Frühstück morgen taugen würde. Vermutlich Joghurt oder Müsli. Er entschied sich für Pizza, ohne dem Gedankengang dahinter selbst folgen zu können. Die billigere Doppelpackung musste es werden, wenn er seiner Budgetrechnung glauben wollte. Andererseits tanzten am Rand seines Blickfelds schon die Regenbögen. Ein zuverlässiges Indiz dafür, dass seinem Körper der Strom ausging.

Die Nudeln in der Hand stand er vor dem Kühlregal. Kartoffelsalat im Eimer oder Krautsalat erschienen ihm unpassend, er entschied sich für Käse, mit dem er zur Not auch einen Auflauf machen konnte. Der Hunger wurde immer nagender und er beeilte sich, durch die Kassen und wieder nach Hause zu kommen. Dabei sah er sich nicht gerade aufmerksam um. Alle Welt sagte immer, wie gefährlich es doch war, mit Hunger einkaufen zu gehen. Dem würde er nicht anheimfallen.

In seiner Küche bemerkte er, dass er damit teilweise recht hatte. Er hatte nicht Unmengen an Lebensmitteln gekauft, die er nicht brauchte. Er hatte nicht einmal die Sachen gekauft, die er eigentlich hatte holen wollen. Zum Beispiel die Nudelsoße oder neuen Ketchup. So konnte er sich Nudeln mit Senf und Käse machen. Ihm fiel ein Buch ein, welches er als Kind in der Schule gelesen hatte. Erich Kästners 35. Mai. War es der Onkel gewesen, mit seiner Apotheke, bei dem der Junge immer gegessen hatte? Die Mahlzeiten dort standen immer unter dem Motto „Iss, damit dein Magen Hornhaut bekommt.“ Flo hätte nicht erwartet, dass er es sich selbst so schwer machen wollte. Statt Senf öffnete er eine Dose Mais, aber das machte es nur wenig besser.