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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 148.

Versagt

„Ich habe versagt.“

Diese Erkenntnis sickerte aus Flos Gehirn und troff den Rücken entlang wie kochendes Öl. Er wusste, dass er an seiner letzten Hausarbeit fast eine Woche an Zeit eingebüßt hatte, aber dass es so ernst war, sah er erst jetzt, beim Blick auf den Kalender. Er war bereits mindestens eine Woche weiter im Jahr, als er es in seinem Kopf geplant hatte und diese Woche würde sich bitterlich bemerkbar machen.

„Ich habe versagt. Ich kann das nicht realistisch schaffen.“

Hausarbeiten, Nachklausuren und eine Exkursion. Was konnte er davon streichen, ohne zu großen Schaden anzurichten? Er hatte gewusst, dass seine Planung ambitioniert gewesen war, aber er hatte sich unbedingt beweisen wollen, dass er dazu fähig war. Er wollte seine Defizite aufholen und in der Regelstudienzeit bleiben. Und jetzt das hier. Sein Körper reagierte mit einem kleinen Panikanfall. Herzrasen, Atemnot, kalter Schweiß, gelähmter Geist.

Das durfte nicht sein. Ihm würden Punkte fehlen. Er würde weitere Kurse belegen müssen. Er würde Zeit für seine Abschlussarbeiten verlieren und zurückfallen. Und auf einmal war alles wieder da, was er gehofft hatte, hinter sich zu haben. Die gleichen Gefühle wie vor etwas mehr als vier Jahren, als er in panischer Verzweiflung im Wohnungsflur gesessen hatte, unfähig sich koordiniert zu bewegen oder zu denken. Die Zeit, als er realisiert hatte, dass er sein altes Studium nicht beenden konnte und seine einzige Chance ein kompletter Neuanfang war. Die Momente, als sein gesamter Gedankenpalast ein lichterloh brennendes Holzboot zu sein schien, nachts auf einem Meer ohne sichtbare Küste. Würde er rechtzeitig abspringen können, oder würde es ihn mit in die Tiefe reißen?

Damals hatte er den Absprung geschafft. Er hatte den Neuanfang geschafft, als einer der ältesten bei Mia und Erik im Semester. Er hatte sich von seinem Rückschlag erholt, so hatte er geglaubt, und es war ihm überhaupt nicht schlimm vorgekommen. Er hatte sein Leben genossen und war zuversichtlich und entspannt gewesen. Wie genau hatte er das eigentlich gemacht? War ihm vielleicht einfach nur alles egal gewesen?

Jedenfalls war davon nicht viel übrig. Nicht jetzt und nicht hier. Stattdessen wünschte er sich entweder ein starkes Beruhigungsmittel, was vermutlich nicht legal frei erhältlich war, oder aber wenigstens eine Flasche Rum. Der Rum schied schon allein deswegen aus, weil er dann nicht mehr in der Lage sein würde, den morgigen Tag intensiv für die nächsten längst überfälligen Arbeitsschritte zu nutzen. Einen solchen Ausfall konnte er sich nicht wieder leisten. Aber er kannte sich gut genug. Der Ausfall war da und er würde nicht so einfach gehen. Die Zeiten, wo es ihm egal war, ob er ein oder zwei Semester länger brauchte, waren endgültig vorbei. Er durfte nicht mehr versagen, und doch …

Kristina würde ihn heute Abend auf dem Sofa sitzend vorfinden, die Kuscheldecke über den Kopf gezogen, manisch vor sich hin glotzend, mit blau unterlaufenen Augen ohne Ausdruck, dafür aber einem zusätzlichen Semester vor ihnen. Er traute sich kaum, die weitere Planung anzugehen. Zu groß war die Panik vor einem weiteren Schock oder Schlag ins Gesicht. So würde er vorerst nicht erfahren, dass er eigentlich nicht so weit zurück hing, wie er es befürchtete.

Schwarzes Moor

Blockade

Ein wirrer Kopf voller Gedanken, Bildern, Geschichten und ein leerer Bildschirm und ein weißes Blatt Papier, die nur darauf warten, dass man sie füllt. Geschichten, die Formen und Konturen annehmen. Ecken, an denen man sie greifen kann, drehen und ordnen, bist sie nicht nur Sinn ergeben, sondern auch Eleganz und eine gewisse Ästhetik bekommen. Doch etwas ist da im Weg.

Ein Gefühl von Anspannung, Verzweiflung, Langeweile und gleichzeitig Stress und Blockade. Der Drang, etwas zu schreiben, etwas zu erschaffen. Ein Drang, der alles andere überdeckt, ablenkt und Aufmerksamkeit fordert. Draußen tobt das Leben. Leute begegnen sich, treffen sich, verlieben sich, genießen die Sonne, das Leben, die Gesellschaft. Drinnen warten immer noch geduldig das weiße Blatt Papier und der leere Bildschirm. Langsam wächst die Verzweiflung, Selbstkritik, Scham, Panik. Die Geschichten verlieren ihre Kontur, die Kanten beginnen auszufransen, wie Wolken bei steigendem Luftdruck.

Immer mehr Details fliegen davon. Je fester man versucht, an ihnen festzuhalten, so schneller sind sie weg. Wie die dunklen Punkte, welche auf den weißen Streifen flimmern, die eine schwarze Fläche in Karos unterteilen. Das Leben ist inzwischen von den Straßen und aus den Parks verschwunden. Vereinzelte Autos rauschen durch die Straßen, aber immer noch bemächtigt diese lähmende Unruhe mein Innerstes, umklammert diese Panik mein Herz.

Versagt, ich habe versagt. Verloren sind die Bilder, die Geschichten, die tanzenden Buchstaben. Verloren sind Geschichten über verlaufene Kinder, über wagemutige Helden, fremde Welten und Zeiten. Nie wieder wird das strahlende Lächeln der Amazone ihre Feinde zum Zittern und Erschaudern bringen. Zum letzten Mal stürzt der Pilot mit seinem Doppeldecker wild trudelnd aus den Wolken, um sich im letzten Moment wieder fangen zu können.

Niemals wird die feine Dame aus altem Adel wissen, wie es sein wird, ihren Stolz zu vergessen und gemeinsam mit den Eingeborenen an diesen fremden Küsten das Lager zu verlassen und im tiefsten und undurchdringbarsten Wald nach den Spuren vergangener Kulturen zu forschen. Niemals wird sie gezwungen sein, das Vertrauen in ihre eigenen Kräfte zu gewinnen und ihr Wissen über Kräuter und Heilpflanzen wird wertlos bleiben. Genau so, wie das Versprechen ihres Verlobten, ihr Herz immer in Ehren, und ihr ewige Treue zu halten. Er benötigt nicht einmal ihre Reise, um anderen Röcken nach zu jagen und es gibt nichts, was ihn vor wütenden Ehemännern und ihrem Rachedurst retten kann.

Zu Staub zerfallen die Träume und Geschichten. Wie dem klebrigen, pulverigen Staub, der unter den Stiefeln des einsamen Astronauten knirscht. Das Mutterschiff wurde beim Abkoppeln der Landefähre beschädigt. Hauch feine Risse in der Hülle, nicht sichtbar und dennoch groß genug für die Gasmoleküle. Es dauerte nur Sekunden, bis das Blut der Bordbesatzung zu kochen begann und bereits eine Minute später war er tot. Noch bevor die Landefähre auf dem Mond aufsetzen konnte, waren die beiden Leichen bis zum Kern durchgefroren. Und nachdem sein Kollege die Nerven verloren hatte, und beim Anblick der Erde, wie sie sich zaghaft über einen grauen Horizont erhob, den Helm abgenommen hatte, war von der einst so ruhmreichen Mission nur noch eine einsame, verlorene Seele übrig. Irgendwann würden ihm Wasser, Sauerstoff, Nahrung und Energie ausgehen. Vielleicht heute, vielleicht auch erst in einer Woche. Dann war auch diese Geschichte Vergangenheit.

Was von ihnen bleibt ist nur die Anspannung. Und leere Seiten.

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