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Mit Kinderaugen

Dieser Text gehört zu „Schreib mit Mir – Teil 22“ von Offenschreiben… und ich war mir noch nicht sicher, wie öffentlich zugänglich ich den machen wollte. Aber andererseits, wieso eigentlich nicht? Ihr seid alle hoffentlich alt genug, um das zu ertragen 😉 Es sollte jedenfalls eine Gruselgeschichte aus den Augen eines vierjährigen Kindes sein und da Kinderaugen ja so manches anders wahrnehmen…

Mit Kinderaugen

Ben konnte nicht schlafen. Eigentlich war er müde, von einem langen Tag im Kindergarten und auf dem Spielplatz, aber wie er sich auch drehte, es war alles unbequem. Er musste ganz dringend pinkeln und das hieß, er musste aufstehen. Immerhin war er jetzt schon groß und trug keine Windeln mehr. Große Kinder brauchten nämlich keine Windeln, sie gingen aufs Klo, wie die Erwachsenen. Aber das Klo war auf der anderen Seite des Flurs und außerdem war es gruselig. Nachts war alles dort dunkel und in den Schatten konnte sich wer weiß was verstecken.

Aber es half nichts, große Kinder machten schließlich nicht mehr ins Bett. Er öffnete das Törchen im Geländer von seinem Abenteuerhochbett und kletterte die Leiter hinunter. Das kleine Nachtlicht leuchtete in der Ecke neben der Türe, nicht stark, aber immerhin hell genug, als dass er alles in seinem Zimmer gut erkennen konnte. Außerdem leuchteten die Klebesterne an der Decke schön. Seine Mama hatte ihm die Sternbilder erklärt und sie hatten auch draußen schon nach ihnen gesucht. Aber da hatte er sie nicht finden können, so sehr Mama sich auch bemüht hatte, sie ihm zu zeigen. Mama war toll, sie wusste einfach alles.

Jetzt war das Licht der Sterne hell genug, dass er um die Bauklötze auf dem Boden herumlaufen konnte. Eigentlich hatte er sie noch wegräumen sollen, aber da hatte er lieber mit seinem Spielzeugauto gespielt. Das stand jetzt auf der Wickelkommode, die als großes Kind ja nicht mehr brauchte. Um an die Türklinke zu kommen, musste er sich trotzdem noch reichlich strecken. Für Kinderzimmer sollte es besondere Türen geben, mit einer kleinen Türklinke für die Kinder. Es wäre doch viel einfacher dann, wenn man nur die kleine Kindertüre aufmachen müsste. Und viel lustiger sowieso. Dann hätte er vielleicht auch nicht solche Angst vor dem großen, finsteren Flur, der vor ihm lag.

Papa hatte an der Kellertreppe eine Taschenlampe hängen. Damit konnte man, wenn der Strom oder die Lampen kaputt waren, trotzdem noch leuchten und etwas sehen. Auch in den dunklen Ecken im Keller, in denen es überhaupt keine Lampen gab und wo immer nur Gerümpel stand. So eine Taschenlampe könnte er jetzt sehr gut gebrauchen. Er sollte sich vielleicht eine wünschen. Aber jetzt müsste es auch so gehen. Er trat auf den Teppich im Flur, er fühlte sich weich und warm und dunkel an. Vielleicht wie Spinnenfell? Gruselig jedenfalls.

Ein schmaler Lichtstreifen fiel aus dem Elternschlafzimmer in den Flur. Mama und Papa waren also noch wach, und das, obwohl es sicher schon neun Uhr war! Erwachsen sein musste toll sein. Man konnte richtig lange wach bleiben. Jetzt kam ihm das gelegen, vielleicht würde er Hilfe brauchen. Und außerdem konnten sie ihn dann ja auch wieder ins Bett bringen und vielleicht sogar noch eine weitere kurze Gutenacht-Geschichte vorlesen. Dann würde er sicherlich besser schlafen können.

Mit frischem Mut stapfte er durch den Flur und ignorierte die bedrohlichen Schatten an den Wänden. Gleich würde er die angelehnte Türe aufmachen können. Was war das eigentlich für ein merkwürdiges Rascheln und Knarzen aus dem Elternschlafzimmer? Er spähte durch den schmalen Schlitz, ehe er die Türe öffnen wollte, und konnte Mama und Papa sehen. Aber da stimmte doch etwas nicht. War das wirklich Mama?

Das konnte nicht Mama sein! Das musste ein Monster sein, ein Vampir! Wie die, aus den Geschichten, die Tamara aus dem Nachbarhaus ihm immer heimlich erzählte, und die ihm immer so Angst machten. Jedenfalls saß Mama, oder besser, der Mama-Vampir, auf Papa, und saugte ihm am Hals. Genau so, wie die Vampire in den Geschichten, wenn sie Blut tranken. Das war etwas ganz Böses, hatte Tamara ihm erzählt. Nur waren in ihren Geschichten die Leute meistens nicht nackt.

Der Mama-Vampir und Papa aber waren nackt. Außerdem musste der Vampir sehr stark sein, denn er saß auf Papa und Papa konnte ihn nicht herunterwerfen. Dabei war Papa doch der stärkste Mann der Welt! Aber den Mama-Vampir schien es überhaupt nicht zu stören, dass Papa ihm gegen die Brüste drückte. Er saugte nur kräftig und schien dabei auch noch zu tanzen. Papa war sicher schon ganz leer getrunken. Er zitterte nur noch heftig, hatte die Augen zu und den Mund auf gerissen aber konnte nicht einmal mehr rufen. Was war da los? War der Mama-Vampir bald mit ihm fertig? Was war dann mit Papa?

Plötzlich musste Ben nicht mehr auf die Toilette. Stattdessen wollte er sich ganz eilig wieder in seinem Bett verstecken. Ganz tief unter der Decke, wo ihn kein Monster finden konnte. Er drehte sich um und huschte zurück in Richtung Kinderzimmer, sehr gut darauf achtend, nicht in die Pfütze auf dem Flurteppich zu treten und dabei am Ende noch ein Geräusch von sich zu geben. Es war nicht angenehm, mit der nassen Schlafanzughose im Bett zu liegen, aber alles war besser als der Flur.

Wieso hatte Papa denn nie etwas von dem Mama-Vampir bemerkt? Er wusste doch sonst immer auf alles die richtige Antwort? Oder hatte er es etwa gewusst und machte das freiwillig? Schließlich aß Mama auch beim Abendessen immer viel weniger als er. Waren am Ende alle Frauen Vampire und die Männer aßen immer mehr, damit sie ihre Frauen nachts füttern konnten? Plötzlich war Ben überhaupt nicht mehr wild darauf, eines Tages einmal erwachsen zu sein. Er würde auf morgen warten müssen, um eine Antwort zu bekommen. Wenn Papa ihn wie immer wecken würde, wäre wohl alles halbwegs in Ordnung. Aber wenn nicht, dann würde er sich ganz hinten im Kleiderschrank verstecken, wo kein Monster und kein Mama-Vampir ihn jemals finden konnte. Und ganz sicher würde er niemals heiraten wollen.