Ablenkung
Das Semester neigte sich dem Ende zu und immer mehr Klausuren lagen hinter Flo, Mia und Erik. Für Flo waren die letzten Tage sehr hart und lang geworden. Nicht genug damit, die sonnigen Tage in der schummrigen Bibliothek zu verbringen, nein! Das Allerschlimmste war, dass sein Konto leer war. Es reichte für Nudeln mit Tomatensoße oder Brot mit Butter, vielleicht auch mal einer Scheibe Käse aber sein Lebenselixier fehlte. Vor vier Tagen war ihm tatsächlich das Bier ausgegangen.
Zuerst war es nur ein Ärgernis für ihn gewesen. Am Wochenende war der Erste, dann würde es schließlich wieder Geld geben. Bis dahin konnte er durchhalten, so dachte er am Anfang. Inzwischen kam ihm diese Prognose reichlich übermütig vor. In seiner ganzen Wohnung war kein Tropfen Bier mehr zu finden. Es war so schlimm, dass er sogar die Flasche billigen Rum geöffnet hatte, die er einmal geschenkt bekommen hatte. Eine Entscheidung, die er schnell bereut hatte.
Mia sah mit verächtlichem Blick, wie der Bleistift in seiner Hand bebte. Ihr Großvater war Alkoholiker gewesen. Sie hatte nie wirklich begriffen, worum es dabei eigentlich ging aber das war ihr egal. Sie hatte jedes Verständnis für diese Situation verloren und Flo war im Augenblick für sie nichts anderes, als ein weiterer Alkoholiker.
Erik konnte da schon mehr Mitgefühl erübrigen. Sie hatten die ersten Noten bekommen und Flo hatte entgegen allen Erwartungen sogar recht gut bestanden. Für ihn selbst war das ein kleiner Schock gewesen, und obwohl Erik auch recht gut abgeschnitten hatte, beneidete er seinen Freund ein wenig. Immerhin hatte er es geschafft, die ersten Wochen komplett zu versaufen und trotzdem zu bestehen. Mias Noten spotteten wie üblich jeder Beschreibung.
„Wenn du mit dem Stift nicht aufpasst, dann zerfällt er dir bald zu Sägemehl. So nervös wegen der Prüfung?“
„Japp, bin ich.“
„Prüfungsangst oder Entzug? Sei ehrlich, wenigstens zu dir selbst.“
„Stress. Und Kapitel sieben.“ Damit hatte er nicht einmal gelogen. Er fühlte sich verspannt und müde. Er brauchte eine Auszeit, eine Pause oder am liebsten gleich Ferien.
„Ernsthaft? Kapitel sieben? Da warst du sogar da und hast es mir nachher noch erklärt.“ Während Mia ihn anfuhr, sank Erik in seinem Stuhl nach unten und kicherte albern in sich hinein. In letzter Zeit war Mia ziemlich gereizt und ließ ihre Stimmung nur all zu oft an ihrem Freund aus. Er gab sich keine Mühe, die Dankbarkeit darüber zu verbergen.
„Ach komm, die Sieben schaffst du auch noch. Wenn wir das in einer Stunde durchhaben, dann gebe ich heute Abend ein Bier aus.“
Flo konnte oder wollte darüber nicht lachen. Bier war schön und gut aber nicht die Antwort auf alle Fragen. Und auch wenn ihm diese Art der Entspannung gerade recht kommen würde, er hatte noch eine Klausur zu bestehen und keine Ahnung, was gefragt werden könnte.
„Soll ich stattdessen auf gut Glück lernen? Ich kann das Kapitel auch einfach weglassen.“
„Kannst du nicht. Der ganze letzte Monat baut darauf auf, erinnerst du dich?“
„Nein, ich erinnere mich nicht. Und das hat doch auch immer recht gut so geklappt.“
„Du kannst es ja ohne versuchen aber wie gesagt, du hast es mir damals erklärt und weißt es eigentlich.“ Mia zuckte nur mit den Schultern, ohne von ihrem Block aufzusehen. „Und lass das mit dem Alkohol sein. Wenigstens bis zur Klausur.“
Da war sie wieder, die übliche Ermahnung. Er hatte sie nicht vermisst, auch wenn sie in den letzten Wochen etwas seltener geworden war. Inzwischen wurde es wieder schlimmer damit, obwohl er das Gefühl hatte, sich etwas daran zu gewöhnen. Er dachte darüber nach, Eriks Angebot mit dem Bier anzunehmen. Er konnte gerade wirklich gut eins brauchen. Nur noch dieses Kapitel, dieses eine. Er konzentrierte sich krampfhaft auf die Seiten und versuchte zu erkennen, was dort stand. Verschwommenes Grau vor gleichsam verschwommenen Weiß. Eigentlich sollte es doch eine klare weiße Seite mit deutlicher, schwarzer Schrift sein. Das hier war einfach falsch. Völlig entnervt ließ er den Kopf auf den Tisch fallen, dass es krachte.
Ein scharfes Piksen in der Seite ließ ihn erschrocken aufspringen. Sein Stuhl fiel laut polternd um und er schlug sich sein Knie unangenehm an der Tischkante.
„Nicht schlafen. So wird das nichts mit Bier heute Abend.“ Erik hatte heute offensichtlich einen sehr lustigen Tag. Er saß auf dem Stuhl neben Flo und lachte sich kaputt über seinen Scherz. Mia konnte genau so wenig darüber lachen wie Flo. Mit einem scharfen Seufzer setzte sie sich auf und spießte sowohl ihren Freund als auch Flo, der gerade seinen Stuhl wieder aufstellte, mit ihrem Blick auf.
„Ich weiß, wir haben alle keine Lust mehr und brauchen eine Pause und so aber wir haben noch drei Tage, dann sind wir fertig und können erst einmal tun, was wir wollen. Könntet ihr beiden euch also bitte so lange noch zusammenreißen und euch benehmen? Danke! Und nun lasst diese albernen Ablenkungsspielchen bleiben. Ich werde nicht wegen euch durchfallen.“
Sie fielen nicht durch, keiner von ihnen. Selbst Flo nicht der noch am Morgen der Prüfung jede Wette darauf abgeschlossen hätte. Am Ende war er von den Aufgaben überrascht gewesen und es musste schon einiges passieren, damit er diese Prüfung nicht bestehen würde. Inzwischen hatte er sogar wieder Geld und saß nun selig mit seinem zweiten Bier des Tages in der Sonne auf der Wiese. Mia und Erik neben ihm hatten sich in letzter Zeit oft gestritten, davon war nun nichts mehr zu spüren. Als hätten sie sonst nichts auf dieser Welt waren sie miteinander beschäftigt und Flo wagte die Prognose, dass ihnen spätestens in einer halben Stunde die Sonne egal sein und sie verschwunden sein würden.
Flos eigene Abendplanung bestand lediglich aus dem dritten Bier und etwas mehr Sonne. Bis zu dem Moment, in dem Mia und Erik verschwanden und sein Smartphone vibrierte.
„Halb 9 bei mir, Film gucken. Bring Bier und Pizza mit. Und Chips. Jenny … nur wir beide ;)“