Archiv für den Monat Februar 2018

Nur mal ganz kurz …

Eigentlich würde ich hier jetzt gerne den neuen Teil von Hinterm Horizont präsentieren. Aber leider bin ich mit dem Teil, den ich geschrieben habe, ausgesprochen unzufrieden. Ich habe ihn also lieber wieder gelöscht, statt Euch hier etwas halbgares zu präsentieren. Und zu allem Überfluss habe ich nicht die Zeit finden können, rechtzeitig etwas neues zu schreiben.

Neben den Arbeiten für ein Projekt kurz vor der Eröffnung, zu dem ich wohl unbedingt mal einen Beitrag schreiben sollte, bin ich aktuell im Praktikum und mit einem recht zeitintensiven Projekt betraut.

Vielleicht erinnert sich ja noch jemand, aber es gab vor einer Weile hier diesen Link zu meiner Umfrage. Sie ist immer noch offen und aktiv. Falls Ihr also noch jemanden kennt, der sie nicht ausgefüllt hat, wäre es immer noch eine große Hilfe, wenn die Teilnehmerzahl steigt. Denn die Ergebnisse fließen auch direkt in das Projekt aus dem Praktikum ein. Vielleicht kann ich ja bald Genaueres berichten. Für den Moment jedenfalls bemerke ich wieder, dass ich dringend lernen muss, strukturiert zu denken und zu arbeiten. 😀 Vielleicht kann ich ja dann auch mal mein eigenes Chaos beherrschen.

Bis Freitag, genießt die Kälte, denn der Sommer wird hoffentlich noch einmal so richtig zeigen, wie er auszusehen hat. Ich kann es kaum erwarten!

Euer Graf

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 167.

Tiny Homes

„Hier, sieht dir das mal an. Die sind doch völlig verrückt. Ein ausgemusterter Container für mehr als zehntausend Euro. Aber offenbar gibt es Leute, die das dafür bezahlen wollen. Wie bei den Europaletten, die kann man auch inzwischen für viel Geld im Baumarkt kaufen, um sich da seine Möbel daraus zu basteln.“

Kristina sah Flo über die Schulter und verstand nicht so recht, was er ihr damit sagen wollte. Der Container auf dem Bild war reichlich verbeult und alt, nicht besonders ansehnlich und mit vielen rostigen Stellen.

„Wieso guckst du dir vierzig Fuß Seecontainer an? Was willst du damit? Ich würde den ja nicht einmal geschenkt haben wollen, wie der aussieht. Und was heißt das vierzig Fuß?“

„Das ist die Größe, es gibt auch noch halbe Größen und anscheinend auch noch Übergrößen. Ich war nur neugierig, nachdem ich gesehen habe, dass man damit Häuser bauen kann.“

„Häuser? Aus Containern? Bist du sicher, dass die Wohncontainer daraus gebaut werden und nicht aus speziellen Containern?“

„Nein, ich meine keine Wohncontainer, wie auf den Baustellen. Ich meine Containerhäuser. Warte, ich such dir ein Bild raus.“

Flo hämmerte für ein paar Momente auf den Tasten herum und zauberte eine Bildergalerie aus den Untiefen des Internets, die eine Serie von Konstruktionen zeigte, die offensichtlich aus verschiedenen gestapelten und bearbeiteten Containern bestanden. Es waren Momente wie dieser, wo Kristina daran zweifeln wollte, dass bei ihrem Freund alles in ordentlichen Bahnen lief. Die Bilder mochten ja als Häuser beschriftet sein, aber wenn sie an eine Wohnung oder ein Haus dachte, dann kam ihr alles Mögliche in den Sinn, was überhaupt nichts hiermit zu tun hatte.

„Die sind doch völlig verrückt. Daran kann man doch nicht wohnen. Das Raumklima muss schrecklich sein, die Wände können nicht atmen, die Dämmung ist ein Albtraum und so wie das aussieht, ist es extrem laut.“

„Außerdem kannst du nicht mal eben einen Nagel in die Wand hauen. Aber wenn man einmal umziehen will, dann braucht man nur den Container aufladen.“

Das mochte ja stimmen, aber Kristina war nicht fürs Nomadenleben gemacht. Genau so wenig wie Flo, nur dass er es sich gerade offenbar nicht eingestehen wollte. Stattdessen sah er sie nun erwartungsvoll an, wartete auf ihre Zustimmung in irgendeiner Form.

„Nein. Egal was du vor hast, nein! Du schlägst dir das jetzt mal schön aus dem Kopf.“

Mochte er sie mit großen Hundeaugen ansehen, bis er vertrocknete, aber in dieser Sache würde sie ihm nicht entgegen kommen. Es gab einfach keinen Grund dafür.

„Und außerdem sind wir hier quasi gerade eben erst eingezogen. Es ist eine gute Wohnung, wieso sollten wir gleich wieder umziehen?“

Schmollend starrte Flo auf seinen Laptop. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Kristina von der Idee begeistert sein würde, aber er war dennoch überrascht von der heftigen Reaktion. Dabei hatte er nicht einmal vorgehabt umzuziehen. Er war wirklich einfach nur neugierig gewesen.

„Du würdest mich am Ende noch hier raus werfen. Ich habe nicht einmal vorgehabt, so etwas zu bauen. Ich fand es nur faszinierend, was manche Leute so machen. Ich würde doch auch nicht in einen Container oder ein Silo ziehen.“

Und auch wenn er sich ehrlich nicht vorstellen konnte, tatsächlich in ein Tiny Home zu ziehen, auf engstem Raum zu leben, die Faszination darüber blieb bestehen.

Lindau

Hinterm Horizont – Teil 16.

Jetzt sah ich auch die Zeit für mich gekommen. Meine Entwicklung mochte nicht perfekt sein, aber sie war nah dran und würde ein glorreicher Erfolg sein. Steuerelemente, wie für Bobs Augmentationen, hatte ich zwar vorbereitet, aber das war eigentlich nicht mein Ziel. Ich wollte nicht meine Arme erweitern, sondern mein Gehirn, meinen Verstand und meine Wahrnehmung. Daher war das Herzstück meines eigenen Systems das Netz, welches Hirn, Rückenmark und jedes weitere große Nervenzentrum im Körper umfasste. Wie ein Myzel würden die Drähte meinen Körper durchziehen, nur dass dieser Pilz nicht mein Parasit war. Er würde die Quelle meiner Macht sein und mich evolutionär auf die nächste Stufe heben. Ich würde das Beste aus zwei Welten in nie gekanntem Ausmaß vereinen. Die Speerspitze einer neuen Art, zu der auch Bob, Enya und unser Patient x bereits gehörten.

 

Es war eine lange und anstrengende Nacht, aus der ich am Ende erwachte. Ich erinnere mich an ein brennendes Gefühl im ganzen Körper und an eine große, verwirrende Stille, die auf die Rufe meines Geistes antwortete. Ich fürchtete schon, einen Fehlschlag erlitten zu haben, als der Arzt an mein Bett trat und das Eindämmungsfeld runter regelte.

„Die Operation ist erfolgreich verlaufen, aber dein Nervensystem ist noch nicht für die kommenden Reize ausgelegt. Daher wirst du in diesem Schutzfeld bleiben müssen, bis wir dich entsprechend kalibriert haben. Bob hat mit Erfahrungen einige Stunden gebraucht, bei dir erwarte ich zwei oder drei Tage.“

Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass der Arzt nicht mehr akustisch mit mir kommuniziert hatte, sondern die ganze Kommunikation über das Netz hatte laufen lassen. Es konnte keine Sekunde gedauert haben, bis er mich auf den aktuellen Stand gebracht hatte. Aber als ich dies realisierte, durchfloss ein unglaubliches Glücksgefühl meinen Körper und verdrängte das unangenehme Brennen aus Rumpf und Gliedern.

Ich tastete mit meinem Geist umher, im neuen Körper, in der Umgebung des Hospitalbetts, und eine völlig neue Welt eröffnete sich. Ich konnte auf einmal in mich hinein sehen, mich von außen betrachten, in den Computer hinein sehen und durch das ganze Schiff wandern, ohne auch nur einen Fuß zu heben. Stück für Stück lernte ich meine kleine Welt komplett neu kennen, lernte neu zu denken und es war, als würde alles miteinander verschmelzen und zu einer großen Einheit werden. Ich fand Tom und Enya im Netzwerk und konnte frei mit ihnen kommunizieren. Nicht nur über Worte, auch über Bilder und Emotionen.

Ich fand auch unseren Patienten x und versuchte, seinen Geist besser zu verstehen. Mit großer Sorgfalt tastete ich mich durch seine Gedanken- und Traumwelt, immer darauf bedacht, die Sedierung nicht zu weit aufzuheben. Der Arzt hatte mich gewarnt, dass es ein sehr schwieriger Fall war, und er sich nicht kooperativ zeigen würde. Die Prognose erwies sich leider als korrekt und der Patient sträubte sich mit allem, was er aufbringen konnte, gegen den Kontakt wie auch gegen seine eigenen Implantate. Würden wir ihn aufwecken, er würde sie sich vermutlich einfach wieder heraus reißen, selbst wenn es seinen Tod bedeutete.

Ich fand auch die Sensoren und war fasziniert von der Art und Weise, wie das Schiff den Weltraum sah. Es war immer noch fast ausschließlich „Nichts“, aber nun hinterlegt mit einem bunten Schleier aus sichtbarer Hintergrundstrahlung und unendlich viel mehr Sternen, als die schwachen menschlichen Augen jemals hätten sehen können. Sogar unser Ziel war bereits erkennbar. Direkt vor uns, in Flugrichtung, leuchtete sein Stern bereits heller als alle anderen. Er wirkte so greifbar und war dennoch viele Jahre von uns entfernt.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 166.

Kontrollverlust

„Ich verliere halt einfach die Kontrolle über mein Leben. Ich stehe auf, weil ich ja nicht den ganzen Tag im Bett liegen kann, gehe duschen, weil es im Zeitplan steht, lasse den Bart stehen, weil das die Mühe zum Rasieren spart, und esse, weil man das halt so macht und ich das schon immer gemacht habe. Ich mein, ich kann es ja auch einfach bleiben lassen. Letztens habe ich es für zwei Tage vergessen und es war auch okay, also wieso isst man überhaupt? Ich verstehe, wieso man duscht. Es ist einfach eine Frage der Höflichkeit, wenn man die Wohnung verlässt. Das Gleiche gilt fürs Zähneputzen. Das Problem ist meines, jemanden anderes da mit hinein zu ziehen wäre unfair. Aber für die Tage, an denen nicht absehbar ist, dass man aus dem Haus kommt, hilft nur der Kalender. Hat man halt immer so gemacht, macht man also weiter. Aus der Konditionierung heraus, nicht aus der Motivation.“

„Und außerdem bist du völlig betrunken. Ein Wunder, dass du noch geradeaus denken kannst. Vielleicht solltest du Alkohol zu deiner Liste von möglichen Problemen mit hinzufügen?“

„Und das aus deinem Mund. Siehst du, das meine ich halt. Wir werden langsam alt. Sogar du bekommst dein Leben auf die Reihe und immerhin warst du derjenige, der immer nur auf Saufen und Party aus war. Da hast du auch nie einen Grund gebraucht aber es trotzdem irgendwie gepackt. Aber aus welchem Grund machen wir das hier alles? Aus welchem Grund soll ich den Master fertig machen? Nur um danach trotzdem nichts zu haben, womit ich weiter machen kann?“

Flo grübelte eine Weile über diese Worte und seinem ersten Bier. Erik hatte nicht völlig unrecht, sie wurden alle nicht jünger. Es stimmte auch, dass sein Leben einen gewissen Alltag bekommen hatte, eine gleichmäßige, beständige Ruhe. Aber er fühlte sich sehr wohl damit und sah die Möglichkeiten, die es ihm für die Zukunft bot. Kristina und er würden eine Familie gründen können und vielleicht eines Tages ein eigenes Haus beziehen. Erik hatte bereits lange vor ihm diese Pläne gehabt. Er war mit Mia zwar nicht immer glücklich gewesen, aber es war für ihn wohl der logische Schritt gewesen. Jetzt kam er aus dieser Bahn nicht mehr heraus und sah keinen Grund mehr, irgendetwas fortzuführen.

„Warst du eigentlich inzwischen mal bei der Beratung? Wenigstens bei einer davon? Ich habe dir doch ein paar Adressen gegeben.“

Erik leerte neben ihm sein Bier und bestellte gleich ein neues. Es musste bereits sein zehntes sein. Mit etwas Fantasie konnte man das Kopfwackeln als Nicken deuten.

„Ich habe angerufen und nach einem Termin gefragt. In drei Monaten wäre etwas frei, meinten sie. Marlene ist etwas durchgedreht, als ich ihr das erzählt habe. Sie ist dann mit mir wo hingegangen und es gab sofort ein Erstgespräch. Es war etwas merkwürdig, weil sie vorher noch kurz mit der Therapeutin geredet hat und da klang es so, als wäre ich drauf und dran von der Brücke zu springen.“

„Und das warst du nicht?“

„Nein! Also nicht sofort. Aber das ist doch völlig unerheblich.“

„Doch, es ist erheblich. Du bist ein akuter Fall, deswegen hat sie dich auch hin geschleift und den Termin ausgemacht. Dir ist es einfach inzwischen zu egal. Du würdest dich mit einem Termin in nem Jahr abspeisen lassen und in der Zwischenzeit einfach verschwinden, um niemandem Sorgen zu bereiten. Aber so funktioniert das nicht. Wir bringen dich jetzt erst einmal wieder auf die Kette, danach kannst du uns immer noch die Meinung darüber geigen.“

Oh und wie er ihm die Meinung geigen würde. Flo hatte sich bereits mit Marlene darüber unterhalten und auch wenn sie nie vor hatte, Psychologie zu studieren, wusste sie doch, dass Erik für eine Weile stationär behandelt werden würde und das war nicht nach seinem Geschmack.

Market Theater

Worte

So viele Worte gingen ihm durch den Kopf in diesem Moment. Worte von Freunden, von Familie, von Menschen, die er noch nie vorher gesehen hatte. Wie sie ihm sagten, dass er so geschickt mit Worten sei, so kreativ. Wie sie einfache kleine Texte lobten und als bunte Wortgemälde beschrieben. Wie sie Rückschlüsse aus seinen Geschichten auf ihn selbst trafen, ihn als humorvoll und offenherzig beschrieben, teilweise ohne ihn je auch nur einmal persönlich gesprochen zu haben. In Kommentaren im Internet, in Nachrichten in Foren oder auch bei den ersten persönlichen Begegnungen. Worte voller ehrlicher Anerkennung.

Das alles ging ihm durch den Kopf, vermischt mit so vielen anderen Gedanken und Gefühlen, während er hier stand und schaute. Schaute auf die schöne Gestalt, welche mit schlenderndem Schritt um die Tische herum ging, auf der Suche nach einem freien Platz. Das Licht der Sonne, welches sich durch die staubigen Dachfenster kämpfte, ließ ihr Haar leuchten wie Feuer und fasste das weiche Gesicht in einen strahlenden kupfernen Rahmen ein. Beinahe schüchtern tanzten die Sonnenstrahlen auf ihren blassen Sommersprossen, welche sich um die feine Stupsnase schmiegten. Mit nichts als Bewunderung beobachtete er, wie ihre warmen Augen den Raum absuchten und doch nie den Weg bis zu ihm fanden. Und selbst wenn sie hinüber blickten, dann nahmen sie ihn doch niemals wahr, sondern wanderten einfach weiter.

Dabei hoffte er doch so sehr, dass ihr permanent so strahlender Blick nur einmal für kurze Zeit bei ihm hängen bleiben würde. Vielleicht würde ihm das endlich den Mut geben, zu ihr hinüber zu gehen und sie dazu zu bringen, die Kopfhörer abzunehmen. Doch was sollte er ihr sagen? Wie sollten ihm denn Worte über die Lippen kommen, wenn er bereits so von ihren zarten rosanen Selbigen gefangen genommen war? Wie sollte er die Luft dafür erübrigen, wenn ihm bereits jedes Mal der Atem stockte, wenn sie nur fröhlich in sich selbst hinein lächelte? Wenn er nur ihre Silhouette sah, begann alles in ihm zu kribbeln und von all den so sorgsam zurechtgelegten Worten in seinem Kopf blieb nur der Schwindel und weißes Rauschen.

Dann saß er wieder da, schwärmte heimlich vor sich hin, begutachtete sie aus der Ferne, verlor sich in ihren Augen und träumte. Träumte davon, durch ihr seidiges Haar zu streicheln, die weiche Haut unter seinen Händen zu spüren, ihre vollen Lippen zu küssen und den süßlichen Duft zu riechen, der sie immer umgab. Träumte davon, dass ihr liebevolles und offenes Lächeln ihm gelten würde und wie ihre Berührung wie ein Feuerwerk durch seinen ganzen Körper strahlten. Sehnsüchtig seufzte er jedes Mal wieder in sich hinein.

Wie man es auch drehte, es half alles nichts. Er musste sie ansprechen, und wenn er ihr nur sagte, dass er ihre Haare schön fand. Es würde der Sache nicht im Ansatz gerecht werden, aber verschrecken wollte er sie auch nicht, durfte er nicht, auf gar keinen Fall! Er nahm all seinen Mut zusammen, verfluchte sich selbst, dass er diesen Wahnsinn zugelassen hatte, und stand mit zitternden Knien auf um sich nach ihr umzusehen. Doch sie war bereits wieder fort. Wieder einmal hatte er die Chance verpasst und wieder einmal ärgerte er sich maßlos über sich selbst. Nächstes Mal, das versprach er sich, wie schon die letzten Male immer, nächstes Mal würde er sie wirklich ansprechen und fragen, ob sie sich nicht mal kennenlernen könnten. Oder er würde einen Zettel schreiben, damit sie ihre Kopfhörer nicht abnehmen musste … Irgendwann würde er sich trauen.

Clematis

Hinterm Horizont – Teil 15.

Der heutige Teil ist leider etwas kürzer, dafür passiert eine Menge (zwischen den Zeilen wenigstens). Habt ihr eine Idee, was ich meine? Ich hoffe, ihr habt trotzdem noch Freude an der Geschichte. 🙂

Das Versuchsobjekt, was ich ausgewählt hatte, war einer der Patienten. Vielfach als gewalttätig auffällig geworden lag er bereits ein halbes Jahr sediert hier und jeder Versuch, ihn wieder zu erwecken und in die Gesellschaft einzugliedern, endete mit Angriffen auf alles, was sich bewegte. Er war eine reine Verschwendung von Ressourcen und Platz. Nichts an ihm konnte ich in irgendeiner Form achten. In meinen Augen war nichts näher liegend, als das Netz an ihm zu erproben und um besten Fall sogar eine Therapiemethode erschaffen zu können. Vielleicht spielte auch das in die positive Entscheidung des Arztes mit ein. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir scheitern würden, wäre der Schaden sehr gering, ja eher sogar ein Nutzen für das Schiff.

Auch wenn es mir absolut bewusst war, dass ich dem Schiff und seiner Besatzung einen großen Gefallen erwies, fühlte es sich seltsam an. Bei Bob war es keine Frage, dass er den Eingriffen zustimmen würde und bei Enya war es notwendig gewesen, um ihr Leben zu retten, sie mit der Kybernetik auszustatten. Mein Patient jetzt hingegen war jemand, bei dem ich mir sicher war, dass er es absolut hassen würde, was ich mit ihm vor hatte. Damit erschöpfte sich aber auch bereits mein Wissen über ihn. Wäre da nicht die Anzeige an seinem Bett gewesen, ich hätte nicht einmal einen Namen raten können. Und über den deutlichen Willen dieses Menschen setzte ich mich jetzt hinweg, führte seine Existenz einem höheren Ziel zu und verwandelte ihn in etwas, was er selbst ganz offensichtlich verabscheute. Aber es war nicht meine Schuld, dass er immer wieder versucht hatte, das Schiff zu sabotieren. Nein, es würde besser für alle sein, wenn er helfen würde, wertvollere Besatzungsmitglieder wieder zu heilen. Mit etwas Glück konnte er im Anschluss auch der Kontrolle des Computers unterstellt werden und so selbst zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft werden. Aktuell stand er nur in ihrer Schuld und ich war der Meinung, dass er diese begleichen sollte. Und wenn ich bei ihm scheitern sollte, dann lag die Krankenstation voll mit Fällen wie ihm. Eine ganze Reihe von freiwilligen Versuchspersonen, die nur darauf warteten, ihre große Chance zu bekommen. Ja, aus dieser Perspektive musste man es betrachten, damit es Sinn ergab.

 

Der Eingriff entpuppte sich als großer Erfolg. Die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine funktionierte einwandfrei, und obwohl das neuronale Netz nur im Gehirn eingebaut worden war, ließen sich auch die übrigen Nervenzentren darüber ansprechen. Es war sogar möglich, den Körper ferngesteuert zu bewegen und von einer chemischen auf eine elektronische Sedierung umzusteigen, ihn sogar teilweise aufzuwecken und dennoch unter Kontrolle zu halten. Noch hasste er es, aber mit der Zeit würde er es lieben lernen. Er musste einfach!

Nachdem wir die letzten Mängel, die uns aufgefallen waren, beseitigt hatten, statteten wir Bob mit dem neuen Netz aus. Er hatte bereits einige Erfahrung damit und war generell offen dafür, weswegen die Implementierung bei ihm völlig reibungslos lief. Innerhalb von nur wenigen Stunden hatte der Organismus die Kybernetik angenommen und alle wichtigen Verbindungen angepasst. Der einzige Nachteil für ihn war, dass er nun deutlich bemerkt, wie rudimentär viele seiner Augmentationen waren. Er hatte sie damals noch teilweise von Hand in der Werkstatt zusammengeschraubt. Jetzt hatte er die Kapazitäten, sich einen komplett neuen Werkzeugsatz zu bauen, der seine Möglichkeiten viel besser ausschöpfte.

Jetzt sah ich auch die Zeit für mich gekommen. Meine Entwicklung mochte nicht perfekt sein, aber sie war nah dran und würde ein glorreicher Erfolg sein. Steuerelemente, wie für Bobs Augmentationen, hatte ich zwar vorbereitet, aber das war eigentlich nicht mein Ziel. Ich wollte nicht meine Arme erweitern, sondern mein Gehirn, meinen Verstand und meine Wahrnehmung. Daher war das Herzstück meines eigenen Systems das Netz, welches Hirn, Rückenmark und jedes weitere große Nervenzentrum im Körper umfasste. Wie ein Myzel würden die Drähte meinen Körper durchziehen, nur dass dieser Pilz nicht mein Parasit war. Er würde die Quelle meiner Macht sein und mich evolutionär auf die nächste Stufe heben. Ich würde das Beste aus zwei Welten in nie gekanntem Ausmaß vereinen. Die Speerspitze einer neuen Art, zu der auch Bob, Enya und unser Patient x bereits gehörten.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 165.

Ein Witz

„Okay, das meint er nicht besonders ernst, oder? Das ist ein Witz.“

Flo wusste nichts mit der Nachricht anzufangen, die Steffi ihm gerade geschickt hatte. Wer sollte was nicht besonders ernst meinen und wieso ging es überhaupt worum? Sie erwischte ihn gerade dabei, wie er sich vor seiner Arbeit drückte und teilnahmslos an seinem Schreibtisch hing. Und ganz abgesehen davon war es eine Weile her, dass sie sich bei ihm gemeldet hatte. Es musste also etwas Wichtiges sein. Etwas, was eine Nachfrage durchaus wert war. Ihre Antwort war im ersten Moment etwas ernüchternd.

„Check deine Mails“

Sein Mailprogramm lief permanent im Hintergrund. Allerdings überwachte es nur seinen Hauptaccount und vernachlässigte einen ganzen Blumenstrauß von Nebenadressen. Die liefen über seinen Laptop, der neben ihm schlummerte und dem er sich nun zu wandte.

„Was zur Hölle…?“

Er verstand sofort, woher ihr Unglauben kam, als er die ersten Zeilen der Mail überflog.

„Hallo Frau Stephans und Herr Naseweis,

hätten Sie gegebenenfalls Interesse daran, im kommenden Semester ein Tutorium zu leiten? Ich bin auf der Suche nach Interessenten für das neu entstehende Tutorium zum Bachelor Kurs …“

Flo wusste, dass man einen Job an der Uni angeboten bekommen konnte, wenn man durch besondere Leistungen aufgefallen war. Aber er war immer im Glauben gewesen, dass man dafür auch wirklich außerordentlich gut sein musste. Die Arbeit, die er aber vor einem halben Jahr mit Steffi gemeinsam bei diesem Dozenten abgegeben hatte, war wahrlich keine Glanzleistung gewesen. Sie hatten viele Fehler gemacht und diese nicht mehr korrigieren können. Natürlich war das ein oder andere auch im Bericht aufgeführt worden, aber ansonsten hatten sie die gute Note nie nachvollziehen können. Das Fach hatte bei ihnen beiden zu den schwächeren gehört und auch der Bachelorkurs damals war nicht gut gelaufen. In seinem Kopf kreiste die gleiche Frage, die Steffi impliziert hatte.

Wie um alles in der Welt waren sie in die engere Auswahl gekommen?

Was sie zu diesem Zeitpunkt beide noch nicht wussten, war, dass sie nicht nur in der engeren Auswahl waren. Sie gehörten zu den Ersten, die überhaupt angefragt wurden, und es war ganz sicher kein Witz. Manches Mal brauchte es vielleicht einen kleinen Stoß, aber sie waren sich beide einig. Es könnte eine interessante Herausforderung sein. Viel mehr noch, es könnte eine wertvolle Übung sein. Definitiv war es sinnvoll, die genaueren Konditionen zu erfragen. Morgen würden sie beide in der Uni sein. Die perfekte Gelegenheit, einmal beim Dozenten anzuklopfen.

Gasworks Park Seattle

Momente XIV

Lautlos fallen dicke Flocken vom Himmel, tanzen im dämmrigen Licht der Straßenlaternen, die mitten am Tag versuchen, ein wenig Helligkeit unter die dunklen Wolken zu tragen. Der Blick zum Fenster hinaus fällt gegen eine fluffige Wand aus schaumigen Wasserkristallen. Die Kälte des nahen Fensters zieht die Wärme aus dem Gesicht und trägt einen Geschmack von Kälte auf Lippen und Zunge. Es stellt einen angenehmen Kontrast zur wohligen Wärme im Zimmer dar, die von der Heizung unter dem Fenster die Beine empor gekrochen kommt und sich an den Rücken schmiegt. Im Raum herrscht eine angenehme Stille, fast schon ein wenig beängstigend. Irgendwo zwei oder drei Etagen weiter oben brummt eine Spülmaschine. Sie ist lauter als der Lieferwagen, der sich unten den Weg über die zugeschneite Straße kämpft. Der Schnee schluckt den meisten Motorenlärm und fällt dicht genug, um die hässlich dunkle Spur aus Schneematsch hinter ihm direkt wieder zu bedecken. Selbst hier, mitten in der Stadt, mitten am Tag, ist es leise. Der Schnee hat etwas Friedliches, Beruhigendes. Er frisst alle Störlaute auf, verbirgt Dreck und die vielfach stümperhaft geflickte Straße, setzt eine gleichmäßige und sanft geschwungene weiße Fläche an ihre Stelle. Es ist, als würde die Welt einmal tief seufzen und Pause machen, zur Ruhe kommen, für einen Moment einfach anhalten. Und gerade, als es fast schon zu ruhig wird, springt ein junger Hund voller Begeisterung durch den Schnee, hüpft hoch, um Schneeflocken aus der Luft zu fangen und rollt sich durch das kalte Pulver. Wenn er sich hinlegt, erkennt man nur noch das rot leuchtende Halsband. Dann springt er wieder los, rennt auf und ab und steckt jeden heimlichen Beobachter mit seiner kindlichen Freude an. Er müsste eigentlich die friedliche Stille stören, doch harmoniert er so gut mit dem Tanz der Schneeflocken, dass es nur noch idyllischer wirkt.

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Hinterm Horizont – Teil 14.

Es zeigte mir aber auch noch etwas anderes. Der beste Entwurf war nicht viel Wert, wenn man ihn nicht wenigstens einmal erprobte. Ich benötigte eine Idee, wie ich meine Technologie testen konnte, ohne ein hohes Risiko einzugehen oder Ressourcen zu verschwenden. Und eine solche Idee sollte mir kommen, als ich bald darauf auf die Krankenstation gerufen wurde.

Wieder hatte es einen Angriff gegeben und diesmal hatte es Bob getroffen. Schwer aus einer Wunde am Kopf blutend saß er vor dem Arzt, offenbar nicht mehr ganz Herr seiner Sinne. Seine Bewegungen wirkten unkoordiniert und er war unfähig einen klaren Satz zu formulieren.

„Seine Erweiterungen haben Schaden genommen und wurden gleichzeitig so verschoben, dass sie die Nervensysteme beschädigt haben. Ich kann die Regeneration nicht starten, ohne sie zu entfernen, will dabei aber keinen zusätzlichen Schaden anrichten. Das Problem ist ein kybernetisches. Ich benötige deine Hilfe bei der Reparatur.“

Das kollektive Gehirn des Schiffes und all seiner Roboter traute mir in dieser Angelegenheit mehr zu als sich selbst. Mir, einem Menschen! In akribischer Feinarbeit arbeitete ich die dünnen Drähte des neuronalen Netzes aus seinem Kopf und entfernte die beschädigten Erweiterungen. Sehnlichst vermisste ich eigene Augmentationen, die es mir ermöglicht hätten, parallel die Bauanleitungen für die Ersatzteile an die Werkstatt zu geben. Auf diese Weise hätte ich wertvolle Zeit sparen können.

Denn eines war deutlich, Bob würde nicht mehr ohne seine Verbesserungen auskommen. Zu sehr hatte er sich inzwischen an die neue Situation angepasst und die Entfernung würde einer schweren Amputation gleichkommen. Wieso sollten wir die Gelegenheit also nicht nutzen und sein doch inzwischen mehr als rudimentäres System auf den aktuellsten Stand bringen? Und wenn es nur war, um den Terroristen ihren Sieg vorzuenthalten.

Während ich das zerstörte Netz aus Bobs Gehirn entfernte, war mir eine Idee gekommen, wie man die Verbindungen zwischen Mensch und Maschine optimieren könnte. Die Simulation des Computers aber stieß auf einige Unsicherheiten und warnte vor einem Einbau ohne weitere Tests.

Also führte ich weitere Tests durch. Ich gebe zu, meine Prognosen waren durch Emotionalität und Bauchgefühl geprägt, nicht so sehr durch harte Fakten. Dennoch, ich war überzeugt, dass ich auf dem richtigen Weg war und vor keinen großen Problemen stehen würde. Das größte Problem war es in der Tat, den Arzt dazu zu bewegen, mir zu helfen. Seine Programmierung mochte ihn dazu auffordern, wenn es notwendig war, einen Menschen zu öffnen. Es war ihm zu vermitteln, dass es hilfreich war, Bob in einem künstlichen Koma zu „parken“, bis wir seine Aufwertung vornehmen konnten. Die Erprobung von experimenteller Kybernetik am Menschen aber zählte nicht als grundsätzlich „notwendig“. Ich kann nicht sagen, mit welchem Argument ich ihn am Ende überzeugen konnte. Vielleicht lag es einfach daran, dass ich die Simulation so beeinflussen konnte, dass sie eine hinreichend hohe Erfolgswahrscheinlichkeit ausgab.

Das Versuchsobjekt, was ich ausgewählt hatte, war einer der Patienten. Vielfach als gewalttätig auffällig geworden lag er bereits ein halbes Jahr sediert hier und jeder Versuch, ihn wieder zu erwecken und in die Gesellschaft einzugliedern, endete mit Angriffen auf alles, was sich bewegte. Er war eine reine Verschwendung von Ressourcen und Platz. Nichts an ihm konnte ich in irgendeiner Form achten. In meinen Augen war nichts näher liegend, als das Netz an ihm zu erproben und um besten Fall sogar eine Therapiemethode erschaffen zu können. Vielleicht spielte auch das in die positive Entscheidung des Arztes mit ein. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir scheitern würden, wäre der Schaden sehr gering, ja eher sogar ein Nutzen für das Schiff.

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