Der heutige Teil ist glaube ich etwas länger, aber wenn Du bis hierhin durchgehalten hast, dann schreckt Dich das hoffentlich auch nicht mehr ab. Ich habe versucht, etwas mehr Schwung und Spannung in die Geschichte zu bringen und vielleicht merkt man es auch, aber wir nähern uns dem Finale. Missy, ist das in etwa, was du dir unter Countdown vorgestellt hast? 🙂 Ich habe es nicht vergessen, auch wenn es schon etwas her ist.
„Aber das ist unmöglich. Du bist tot. Ich bin tot! Das Datum lügt doch nicht, wieso sind wir also noch hier? Wieso sind wir alle hier? Marten, Schatz, was geht hier vor? Was ist das für ein Trick? Das Orakel hat es doch genau bestimmt.“
Marjas Stimme war schwach und brüchig. Sie rang mit aller Macht, die sie aufbringen konnte, um Fassung. Hatte ich gestern noch Marten bemitleidet, war es nun Marja, für die ich Mitgefühl empfand. Ihre Welt war zerbrochen, ihr Glaube schwerst angeschlagen. Eine Konstante, die für sie verlässlicher war als die Zeit selbst, hatte sich einfach brutal und unbarmherzig vor ihr aufgelöst.
Marten hingegen wirkte sehr gefasst, als wäre ein langer, erbitterter Kampf endlich zu einem Ende gekommen und er könne sich endlich einmal ausruhen. Müde und erschöpft saß er im Sessel, starrte leer ins Nichts und nippte an seinem Tee.
Auch wenn er zunächst selbst schockiert war, dass Marja diesen Morgen noch erlebt hatte, obwohl ihr Datum abgelaufen war, hatte er doch damit gerechnet. Oder besser gesagt, er hatte darauf gehofft. Am Tag vorher war er noch beim Arzt gewesen und dieser hatte ihm eröffnet, dass sich in der Blutprobe, die er seiner Frau heimlich abgenommen hatte, eine Anomalie gefunden hatte, die er nicht erklären konnte. Er war sich aber sicher gewesen, dass es genau das gewesen war, wonach sie suchten. Sie würden abwarten müssen.
Dass Tom dann bereits in den frühen Morgenstunden an der Türe klopfte, um den Entsorgern zuvor zu kommen, bestätigte dankbarerweise Martens frisch entfachte Paranoia, wenn auch nicht ganz auf die Weise, wie erwartet. Da er eh bereits genug wusste, um als eingeweiht zu gelten, hatte Tom kein Problem damit, dass Marten sich weigerte, die Seite seiner Frau zu verlassen. Und deswegen waren sie jetzt hier, das war der ganze Trick, um Marjas Frage zu beantworten.
Nach dem Frühstück wiederholte sich, was auch schon bei mir damals passiert war. Lena schickte Marja und Marten ins Bett, um sich von der anstrengenden Nacht zu erholen und den Schreck etwas zu verarbeiten. Wir anderen gingen derweil unserer Tagesaufgaben nach, soweit es die aktuelle angespannte Situation gestattete.
Ich stand in der Küche, als Lena hinein kam und sich einen großzügigen Drink genehmigte. Es war noch nicht einmal zwölf Uhr mittags, aber sie wirkte erschöpft und angespannt wie nach einem langen Tag.
„Ich habe ein wenig mit unseren Freunden in den Behörden telefoniert. Polizei, Sicherheitsbehörden, Einwohnermeldeamt … Alle haben sie nur darauf gewartet, dass ich mich melde. Alle haben mich direkt auf eine sichere Leitung umgehängt und mich gewarnt, dass etwas Großes auf dem Weg ist. Die Regierung plant etwas und es sieht so aus, als hätte es mit uns zu tun. Jeder Einzelne hat mich versucht auszufragen, wo wir sind, was wir treiben und wieso auf einmal hohe Tiere auf uns aufmerksam werden. Die haben selbst keine Ahnung, was ihre eigenen Behörden treiben.“
„Es ist doch üblich, dass die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. Aber du hast recht, es ist ungewöhnlich, dass gleich mehrere Behörden auf einmal Warnungen herausgeben. Tom ist oben, unterwegs, oder? Vielleicht kann er etwas herausbekommen.“
„Umso mehr Sorgen sollte es uns machen, wenn plötzlich alle das Gleiche wissen. Tom ist oben aber er sucht Martens Arzt auf. Es wäre hilfreich, wenn er uns einige Fragen beantworten würde. Vielleicht macht er ja auch Hausbesuche.“
„Also bleibt uns mal wieder nur versteckt halten und abwarten? Das macht mich langsam wirklich fertig. Ich weiß, ich war nie ein großer Held, aber ich sitze seit Wochen hier unten. Würden wir endlich herausbekommen, was überhaupt los ist, könnte ich das ganze vielleicht klären und endlich wieder raus.“
„Hab Geduld. Ich habe so eine Ahnung, dass es sich bald alles erklärt.“
Mit diesen Worten drehte sich Lena um und ich war wieder alleine in der Küche. Alleine, verwirrt und völlig ratlos. Für eine Weile starrte ich einfach nur stumm und regungslos vor mich hin. Es war, als wäre ich einfach eingefroren und nicht in der Lage, einen einzelnen klaren Gedanken festzuhalten. Weißes Rauschen, wie ein warmes, weiches Kissen, dehnte sich in meinem Kopf aus und nahm alles in Beschlag. So fand mich Marten, mit dem Rücken an die Kühlschranktür gelehnt, den Spülschwamm noch in der Hand.
„Und ich habe schon gedacht, ich sehe Gespenster. Weißt du, ich war drauf und dran, meinen eigenen Verstand für vorzeitig abgelaufen zu erklären. Aber auch das wäre ein Zweifeln am Orakel gewesen, für das meine Frau mich in einen Schuhkarton gesteckt hätte.“
„Ich habe dich nur einmal gesehen, damals bist du an mir vorbei gegangen, ohne mich zu bemerken. Danach habe ich mir geschworen, besser aufzupassen, und einen Spießrutenlauf begonnen. Offenbar war ich regelrecht stümperhaft darin.“
„Offenbar. Wieso hast du dich bei niemandem gemeldet?“
Ich sah ihn fassungslos an. Die Frage war so logisch, dass es absurd war, und dann auch wieder das genaue Gegenteil. Es brauchte einen Moment, bis ich mich so weit gefasst hatte, antworten zu können.
„Ich habe darüber nachgedacht. Aber wie stellst du dir das vor? Die ersten Tage wusste ich ja nicht einmal, was überhaupt los ist. Und dann soll ich einfach bei dir vor der Türe stehen? Nach meiner Trauerfeier und meinem offensichtlichen Tod? Selbst wenn ich das getan hätte, was wäre dann gewesen? Hättest du gewusst, was dann zu tun gewesen wäre und wie hättest du überhaupt reagiert?“
Viele Fragen und auf keine davon wusste er eine Antwort. Wahrscheinlich wäre er mit der Situation genau so überfordert wie ich gewesen. Es war ja selbst jetzt noch ein Schock, obwohl er bereits einen starken Verdacht und intensive Recherche hinter sich hatte.
Tom brachte keine guten Neuigkeiten. Als er zurückkam wirkte er abgehetzt, verspannt und extrem gereizt und kaum hatte er zu erzählen begonnen, wünschten sich alle, er hätte lieber keine Neuigkeiten als diese.
„Mein Besuch in der Praxis von Doktor Dach war leider sehr unbefriedigend. Er war nicht da und das ist ein größeres Problem, als es scheint. Seine Sprechstundenhilfe, verstört, wie sie war, teilte mir mit, dass er nur eine halbe Stunde vorher wegen Ketzerei und Blasphemie verhaftet worden ist. Es ist nicht absehbar, wann er wieder zurück ist. Und was unsere Hoffnungen angeht, dass sich die Lage entspannt … in der ganzen Stadt wimmelt es von Polizei. Es ist ein Spießrutenlauf, an den Gesichtsscannern vorbei zu kommen.“
„Wir haben Warnungen von den Behörden bekommen, dass etwas vor sich geht. Meinst du, dass es das war? Dass sie so intensiv nach uns suchen?“
„Nein, ich glaube es nicht. Abgesehen davon wissen die Behörden doch überhaupt nicht, nach wem sie suchen sollen. Oder meinst du, sie haben unsere Gesichter? Immerhin ist von uns allen lediglich Marten noch nicht offiziell verstorben.“
„Aber zu keinem von uns haben die Entsorger eine Leiche abtransportiert.“
Mit dem Punkt hatte Selime recht. Es konnte nicht schwer sein, unsere Gesichter im Archiv zu finden. Meines war ja eh bereits auf Suchplakaten vertreten. Ich begann. mir ernsthafte Sorgen um meine Gefährten zu machen. Der Vorschlag, die Wand zur Bar zu schließen und uns für eine Weile zu isolieren linderte die Angst nur geringfügig, wurde aber trotzdem gleich umgesetzt. Jay hatte für diesen Fall schon vor langer Zeit alle Vorkehrungen getroffen. Von nun an würde die Türe hinter einem solide erscheinenden Stück Wand verschwinden, als wäre der hintere Bereich überhaupt nicht existent.
Radio und Fernseher liefen permanent, um uns mit den aktuellen Nachrichten versorgen zu können und eventuell einen Hinweis zu liefern. Tom lief ebenfalls, aber lediglich auf und ab. Für ihn war es ein großes Problem, eingesperrt zu sein. Er würde sich wohl wohler dabei fühlen, über die Dächer der Stadt zu klettern und zu frieren, als im Keller herumzusitzen. Die Straßen aber wären selbst ihm jetzt zu riskant.
Das Radio war am schnellsten, mit seiner Berichterstattung. Eine Explosion im Triebwagen eines Güterzuges in Stadtrichtung hatte den voll beladenen Zug aus der Spur gehoben und von der Brücke in den See im Norden stürzen lassen. Dabei hatte die Brücke schweren Schaden genommen, nach den beiden Lockführern wurde noch gesucht. Und natürlich wurde direkt die Frage gestellt, ob die gleiche Terroristengruppe dafür verantwortlich sein könne, die auch das Wohnhaus letztens gesprengt hatte. Auch wenn das nicht bestätigt wurde, fiel doch mehrfach die Bemerkung, dass man uns ja bislang noch nicht hatte fassen können.
Das Fernsehen folgte eine halbe Stunde später mit Bildern von der Schnellzugstrecke. Die alte Brücke war schon lange sanierungsbedürftig gewesen und hatte jetzt schweren Schaden genommen. Der Polizeipräsident wirkte dann auch die Frage nach den Verantwortlichen gleich besser vorbereitet. Man müsse von einem terroristischen Akt ausgehen, ein technischer Defekt wäre wenig wahrscheinlich und bei diesem Typ von Triebfahrzeug noch nie vorgekommen. Die Handschrift stimme mit dem letzten Anschlag überein, da in beiden Fällen Sprengstoff zum Einsatz gekommen war.
Noch am gleichen Abend grinste mein Foto im Minutentakt vom Bildschirm und ich war nicht mehr alleine. Neben mir waren zunächst Fotos von Tom und Selime aufgetaucht, später auch von Hattie und Lukas, sowie zwei anderen, die ich nicht kannte. Lena, Marten und Marja waren bislang nicht aufgetaucht, ebenso wenig wie Jay.
Es war mir erst vor Kurzem aufgefallen, aber auch der alte Barkeeper hatte eine kleine Besonderheit. Gelegentlich trug er ein Armband, häufig ein langärmeliges Oberteil, für gewöhnlich einfach ein Spültuch lässig über den Arm geworfen, aber irgendwann war es mir dann doch aufgefallen. Jay hatte kein Tattoo. Er besaß kein Todesdatum! Er musste der einzige Mensch überhaupt sein, der keines hatte. Wie war das möglich? Wie alt war er? Ich hatte mich nie getraut, ihn darauf anzusprechen, weil es mir zu ungehörig erschienen war. Jetzt aber bereute ich es. Wenn jemand wie er mit uns in Verbindung gebracht werden konnte, dann musste das sehr gefährlich für ihn werden können.
Lena hatte das Telefon in der Hand, kaum dass das erste Fahndungsfoto auf dem Bildschirm erschienen war. Personen von besonderer Vertrauenswürdigkeit sollten ihre Ohren und Augen offen halten. Alle waren sich einig, Lena, und wer auch immer sich in ihrer Gesellschaft befand, sollte sich schleunigst aus der Stadt zurückziehen, am besten sogar das Land verlassen, wenn das möglich wäre. Der Arzt, nach dem sie suchte, war in die „Abteilung 42“ eingeliefert worden. Orakelangelegenheiten und eine Einbahnstraße. Kaum jemand kam jemals von da zurück, und die, die es taten, waren nicht mehr die gleichen. Wir sollten ihn als verloren betrachten. Er war dort auf persönlichen Wunsch eines Doktor Wyzim. Bei dem Namen verschluckte sich Lukas und verfiel in einen halbstündigen Hustenanfall. Was aber noch zu verstehen war, Doktor Wyzim war derjenige, welcher die Veröffentlichung über Untote verfasst hatte. Plötzlich kamen Ereignisse zusammen, die nur Ärger bedeuteten. Lenas Vertraute gaben ihr Anweisungen durch, wie und wann sie in Zukunft zu kontaktieren seien, der bisherige Weg barg zu viele Risiken.
