Archiv für den Monat Februar 2017

Deutsche Klimapolitik in China

Es tut mir leid, aber heute muss ich mal etwas aus dem Rahmen fallen, es geht um Sabotage. Ungewöhnlicherweise mal an einem Montag, und dann auch noch an einem, wo die halbe Republik entweder noch besoffen oder schon verkatert ist, aber ich habe etwas gelesen, und das regt mich auf. An der Uni bekommen wir laufend gesagt, die Studenten von heute wären nicht mehr politisch und so brav geworden. Nun, offenbar sind wir an den falschen Stellen laut. Aber ich bin gerade trotzdem stinkig und das muss ich loswerden!

Da! Rubrik Wirtschaft, wie passend für ein Umweltthema.

Der Klimawandel. Thema einer Debatte, die eigentlich überhaupt nicht existiert. Denn was in den Medien gerne als eine Diskussion aufgezogen wird – ist er nun real und was geht davon auf des Menschen Kappe? – ist eigentlich lang entschieden. Auch die so gerne heraufbeschworene Uneinigkeit zwischen Klimaforschern existiert in dieser Form schlicht nicht!

Der Klimawandel ist da und er ist vom Menschen gemacht. Punkt. Worüber gestritten werden darf, ist das Ausmaß, und was man dagegen tun kann und muss.

In Deutschland wurde diesbezüglich in den letzten zehn Jahren etliches an Projekten angegangen, angefangen bei der Energiewende. 2015 war die Zahl der installierten Leistung Photovoltaik nirgendwo so groß wie hier. Auf dem diplomatischen Parkett drängt Deutschland gerne in eine Vorreiterrolle mit moralischem Zeigefinger und kritisiert den immensen Ausstoß von Treibhausgasen z.B. in den USA und (Weltmeister) China.

Und dann erzählt mir meine Tagesschau heute in einer Randnotiz, dass China, Weltrekordhalter in der Emission von Treibhausgasen und mit großen Ambitionen, etwas dagegen zu unternehmen, seine Richtlinien für Elektromobilität kastrieren will. Das Land also, was, abseits von der großen medialen Berichterstattung, Milliarden in die Entwicklung und Einführung von Elektromobilität steckt, will auf einmal die Quoten für Elektrofahrzeuge runter setzen. Das Land, welches guerilla-Transportunternehmen mit elektrischen Golfcarts duldet, ganzen Regionen die Richtlinien auferlegt, Taxis dürfen nur noch als Vollelektromodelle zugelassen werden und in dessen Metropolen zeitweise am Wochenende nur noch elektrisch gefahren werden durfte. Was ist da los?

Politik ist da los. Deutsche Politik. Und jede Menge Lobbyarbeit von einer Branche, die in Deutschland für mehr als eine halbe Million Arbeitsplätze verantwortlich ist. Unsere werten Autobauer haben seit 10 Jahren aktiv gegen jede Form von Elektromobilität agiert und stellt sich nun ernsthaft hin und behauptet, sie wären von der Entwicklung überrascht worden. Sorry, aber ich werfe ihnen Sabotage vor!

Ein Kommentar befand „hier wird also ein Wirtschaftskrieg auf Kosten des Klimas und damit künftiger Generationen ausgefochten.“

Tut mir leid, auch hier muss ich widersprechen. WIR SIND DIESE KÜNFTIGEN GENERATIONEN! Wir sind es, von denen da immer als ominöse Masse irgendwann in der Zukunft die Rede ist. Wir, die wir JETZT leben, erleben live und in Farbe, wie sich das Klima ändert. Zum ersten mal überhaupt konnten wir miterleben, dass zwischen zwei wärmsten Jahren seit Beginn der Wetteraufzeichnungen nicht Jahrzehnte liegen sondern … nichts!

2014, 2015 und 2016 waren alle drei die jeweils wärmsten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen. Nie vorher hat es auch nur zwei heißeste Jahre gegeben, zwischen denen auch nur weniger als ein Jahrzehnt gelegen hätte.

Und mit diesen Zahlen vor Augen engagiert sich unsere Bundesregierung unter Muddi Merkel (übrigens selbst Naturwissenschaftlerin, man mag es nicht für möglich halten) und dem dicken Siggi gegen ihre eigene hierzulande propagierte Klimapolitik. Man kann es ja als „Schutz von Arbeitsplätzen“ verkaufen, auch wenn die längst verloren sind. In China ist man Umweltverschmutzung schließlich gewöhnt und das ist weit weg. Die Modellierungen von ESA und NASA, welche den Weg von CO2 Wolken um den Globus darstellen, sind ja auch nur nette Zahlenspiele.

Und irgendwas wird uns ja schon einfallen. Mit dem Atommüll, das haben wir schließlich auch hervorragend hinbekommen. Worüber rege ich mich hier also auf?

:edit: ps.: Tut mir leid, wenn ich nun jemandem auf die Füße getreten bin… wobei, eigentlich nicht. Mir tut es eher leid, hier einen unreflektierten und nur aus Zorn heraus entstandenen Beitrag zu posten. Aber das Thema ist einfach … existenziell wichtig! Bitte berücksichtigt das und behaltet es immer im Hinterkopf. Es geht nicht darum die Welt zu retten. Die Welt ist alt genug um auf sich selbst aufzupassen. Es geht darum, uns selbst zu retten. Und unsere Kinder. Auch die, die schon geboren sind.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 120.

Prüfungserlebnisse

Da war es wieder so weit. Die Klausurphase war angelaufen und Flo war, entgegen aller Vorsätze, mal wieder, wie üblich vorbereitet. „Wie üblich“ hieß dabei, dass er wieder einmal große Pläne gehabt hatte, das Semester über fleißig zu sein, und nun doch wieder alles in der letzten Woche vor der Prüfung durch zu hasten und entsprechend miserabel vorbereitet zu sein.

Bisher hatte es Semester gegeben, da hatte Mia ihn und Erik zuverlässig mit durchgezogen, sie dazu gezwungen, sich hinzusetzen und fleißig zu sein. Aber dieses Semester war irgendwie alles anders gewesen. Mia und Erik hatten genug mit sich selbst zu tun gehabt, mit ihrer eigenen Wohnung und der Abschlussarbeit. Er selbst hatte ebenfalls einen Umzug hinter sich, zu seiner Freundin, in die benachbarte Stadt. Da war die Uni irgendwie zu kurz gekommen.

Und nun saß er gemeinsam mit allen anderen in einem Seminarraum, warteten darauf, dass der Prüfer mit den Klausuren kam, und fühlte sich hoffnungslos unvorbereitet. Er hätte sich ja einen Spickzettel geschrieben, wenn er gewusst hätte, worauf er sich vorbereiten sollte. Aber Altklausuren und Beispielaufgaben gab es nicht wirklich, nur die blanke Vorlesung. Mehr nicht.

Aufgeregtes Gemurmel, gedämpfte Unterhaltungen und das Rascheln von Aufzeichnungen für das Kurzzeitgedächtnis. Bulimielernen für Klausuren, die sich eventuell sogar mit Stoff befassten, den man später im Berufsleben einmal gebrauchen könnte. Aber wieso sollte man jetzt mit dem Pokerspiel aufhören?

Die Klausur kam, wurde ausgeteilt und kurz durchgesprochen. Viel zu sagen gab es nicht, der Vorgang war allen geläufig und bekannt. Etwas ungläubig beobachtete Flo allerdings, wie der Prüfer sich unmittelbar nach dem Startsignal demonstrativ hinter seinem Laptop niederließ und sich seinen Mails oder Nachrichten oder irgendetwas widmete, nur nicht seinen Prüflingen. Nun gut, wenn er es für angebracht hielt, so konnte er im Zweifel wenigstens leichter abschreiben.

Als er die Fragen durchblätterte, musste er schlucken. Es waren definitiv nicht die, auf die er gelernt hatte. Gerade mal eine einzige war dabei, die er spontan als eine der gemunkelten Übungsfragen erkannte und beantworten konnte. Alle anderen waren irgendwie … anders. Er blätterte zurück auf Anfang und begann den zweiten Durchlauf, diesmal aufmerksamer und mit eingeschaltetem Gehirn, statt nur dem Kurzzeitgedächtnis.

Was ihm auffiel, war, dass die Fragen zwar durchaus Biss hatten, wenn man aber in der Vorlesung halbwegs aufmerksam gewesen war, erinnerte man sich an etliches. Das Übrige kannte er in weiten Teilen aus anderen Veranstaltungen und etliches sogar aus den Nachrichten oder einer der zahlreichen Dokus, die er so oft nebenher hatte laufen lassen. Es war keine Klausur, auf die er sich gut hatte vorbereiten können und doch schrieb er nun relativ flüssig die Antworten zu den Fragen auf. Keine auswendig gelernten und vorformulierten Antworten, sondern hier frisch kombiniert und in Worte gefasst.

Eine ruhige Arbeitsatmosphäre war nicht gegeben. Ständig stand jemand auf, räumte seine Sachen zusammen und gab seine Klausur ab. Zunächst waren viele weiße Blätter dabei, später auch halb oder ganz ausgefüllte Klausurbögen. Da die Mails wohl inzwischen abgearbeitet waren, widmete sich der Prüfer nun der Korrektur der soeben abgegebenen Prüfungsbögen und trug die Ergebnisse direkt frisch in seine Tabelle im Rechner ein. Der Raum interessierte ihn nach wie vor nicht.

Flo hatte sich noch umgesehen, ob er jemandem helfen könne oder auf einem Blatt ein Stichwort erspähen konnte, was ihm eventuelle Lücken, die er übersehen hatte, füllen konnte. Am Ende hatte er sich aber nicht getraut, all zu dreist zu sein. Eine Erkenntnis hatte er aber dennoch identifiziert und die hatte ihn handfest schockiert. Die Klausur hatte ihm, so seltsam es auch war, Spaß gemacht. Sie war schwer gewesen aber dennoch fair und er hatte das Gefühl, seine Punkte hier auch verdient zu haben. Er musste bereits viel zu lange an der Uni sein, dass es so weit gekommen war. Aber noch war dieser Wahnsinn nicht vorbei.

Herrsching III

Trappist-1 – Sensationsmeldung aus dem Weltall

NASA hält eine Pressekonferenz und löst einen riesigen Wirbel aus. Für den Alltag hat die Meldung keinerlei Relevanz, aber sie greift einen der großen Träume der Menschheit auf: Was ist da draußen?!

Und weil mein Blog schließlich ein Testgelände ist, habe ich es zum Anlass genommen, mal zu üben. Für einen wissenschaftsjournalistischen Artikel hat es wohl nicht gereicht, dafür sind zu viel eigene Meinung und zu wenig Fakten drin. Aber vielleicht kann man es als Kommentar gelten lassen? Hoffentlich bin ich beim nächsten „Artikel“ besser. Lass mir gerne einen Kommentar mit deiner Kritik, Meinung und Anregungen da.

Trappist-1 und die große Hoffnung

 

Es ist wohl einer der ältesten Träume der Menschheit, zu den Sternen zu reisen. Geschichten hierzu sind älter als das Wissen darum, was die Sterne überhaupt sind, abgesehen von hellen Pünktchen am Nachthimmel. So ergibt natürlich auch die Suche nach neuen Welten viel Sinn, jetzt, da wir wissen, dass unser kleiner Planet nur einer von vielen ist.

Verbesserte Methoden und fein kalibrierte Instrumente sowie eine enorm wachsende Datengrundlage haben in den letzten Jahren zu ungeahnten Ergebnissen geführt. Jedes Jahr kommt gleich ein ganzer Katalog von neu nachgewiesenen Exoplaneten hinzu. Zunächst hauptsächlich die weiter außen liegenden, größeren Gasriesen, in den letzten Jahren aber auch verstärkt kleinere, innen liegende Gesteinsplaneten. Es ist also statistisch gesehen nur eine Frage der Zeit, bis sich darunter auch eine zweite Erde verbirgt.

Und genau das, so die Hoffnung, ist nun mit den nachgewiesenen Planeten im Trappist-1 System geschehen. Gleich sieben Planeten von etwa Erdgröße hat das internationale Forscherteam auf Initiative einer belgischen Forschergruppe unter Leitung der NASA hier entdeckt. Drei davon sogar in der habitablen Zone, dem Bereich also, in dem die Einstrahlung des Sterns so viel Energie auf die Oberfläche bringt, dass flüssiges Wasser vorkommen kann.

Im Fall von Trappist-1 ist diese Zone sehr viel enger um den Stern, als im Fall unserer Sonne, da er deutlich kleiner ist. Seine Planeten sind entsprechend dichter beieinander, haben kleinere Umlaufbahnen und, um darauf stabil zu bleiben, höhere Geschwindigkeiten. In etwa in der Größe unseres Mondes sollen sie am gegenseitigen Nachthimmel zu sehen sein. Und davon gleich eine ganze Reihe auf einmal! Die Vorstellung alleine regt die Fantasie an und verständlicherweise vielfach Hoffnungen und Fragen.

Haben wir hier in nicht einmal vierzig Lichtjahren Entfernung die Antwort auf die Frage, ob wir alleine im Universum sind? Liegt da eine zweite Erde direkt in unserer Nachbarschaft? Können wir es bis dorthin schaffen? Immerhin ist uns das Konzept von Generationenraumschiffen ja schon länger bekannt. Wie sehen diese Welten aus? Gibt es dort Wasser? Wie sieht es mit freiem Sauerstoff aus? (Was übrigens ein extrem deutliches Indiz für eine Lebensform wäre, die wir auch als solche erkennen würden.)

Einen Punkt vermisse ich aber dennoch in der Diskussion, den ich in den paar Artikeln, die ich hierzu überflogen habe, nirgends finden konnte. Die tektonische Energie.

Auf der Erde ist das zu vernachlässigen. Auch wenn unser Mond recht groß ist, die Energie, die durch seine „Gezeiten“ auf die Erde wirken, verstecken sich in der Energiebilanz der Erde unter den 0,02 % „Innere Energie“. Bei den Monden unserer Gasriesen Jupiter und Saturn sieht das schon anders aus. Dort reichen die Wechselwirkungen aus, um einen starken Vulkanismus anzuregen und eventuell den Kilometer mächtigen Eisschild Europas teilweise aufzuschmelzen.

Wie sieht das also in einem System aus, in dem gleich sieben Planeten von Erdgröße sich in einen Raum quetschen, der noch innerhalb des Merkurorbits liegt, und sich hier mit hohen Geschwindigkeiten begegnen? Bevor ich diese Reise antrete, würde ich das doch lieber einmal von jemandem durchrechnen lassen, der mit den Zahlen etwas anfangen kann.

Erdgröße allein muss auch noch kein Indiz sein. Unsere Venus ist nur minimal kleiner als die Erde, aber ein Vielfaches ungemütlicher. Mit einem effektiven Treibhauseffekt von über 90 % hat sie sich eine Hochdruckatmosphäre geschaffen, die keinerlei organisches Leben zulässt. Aber in dieser Sache werden von den Planeten um Trappist-1 schon bald die ersten Antworten erwartet, wenn auswertbare Spektraldaten vorliegen. Vielleicht erwartet uns dann ja die nächste Sensationsmeldung von den Sternen.

Die Namen der Planeten, so der Wunsch der belgischen Forscher, soll sich übrigens alle an belgischen Bieren orientieren, wie auch schon der Name des Systems. Es steht noch aus, ob diese Vorschläge akzeptiert werden.

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Bildquelle: NASA

Exitus VII

Im Fernsehen wechselten sich Bilder der kollabierenden Brücke mit Fahndungsfotos ab. Noch immer waren wir nur Verdächtige, aber niemand ließ einen Zweifel daran, dass es niemand außer uns gewesen sein konnte. Hohe Minister ließen sich an der Unglücksstelle filmen und versicherten den Angehörigen ihre Anteilnahme. Sie gaben sich nicht einmal die Mühe, so überzeugend zu schauspielern, dass man ihre Betroffenheit glauben konnte. Stattdessen ergossen sie sich in Versprechen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, koste es, was es wolle. Im Hintergrund wurden Kräne aufgebaut, um die Trümmer zu bergen.
Der ganze See war hell erleuchtet und vermutlich von Kameras umringt. Die Behörden hatten die Möglichkeit, einmal alle ihre Spielzeuge im Einsatz zu testen. Sie wirkten dabei zwar nicht routiniert aber immerhin vorbereitet. Tom war der Ansicht, sie waren etwas zu gut vorbereitet, gerade so, als hätten sie damit gerechnet, was passiert war.
Marten war indessen völlig fassungslos, mit welcher Ruhe wir diese Nachrichten verfolgen konnten. Was blieb uns auch anderes übrig? Das, was dort lief, war offensichtlich von langer Hand her geplant gewesen. Wir alle waren entsetzt, wie weit man ging, nur um ein paar Fehler im System aus ihrem Versteck zu treiben. Es kostete mich viel Kraft mir nicht anmerken zu lassen, was in meinem Innersten vor sich ging. Für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, hatten diese Leute hier friedlich gelebt. Erst, seit ich dazu gestoßen war, hatte sich das geändert.
Erst seit dem Tag, als plötzlich Drohnen mit Fahndungsaufträgen für mich unterwegs gewesen waren, war die Aufmerksamkeit auf uns gefallen. Ich war der Auslöser gewesen. Irgendwo musste ich einen fatalen Fehler gemacht haben und all die Leben um mich herum mit in den Abgrund gerissen haben. Der Verdacht war mir schon früher immer wieder gekommen, hatte an mir genagt, wie Ratten an ihrer Beute. Aber spätestens jetzt brannten die Schuldgefühle heißer als das Kaminfeuer jemals gekonnt hätte. Das schlechte Gewissen stieg mir in die Kehle und verklumpte, dass ich um jeden Atemzug ringen musste. Unruhe machte sich breit, ich wollte nur noch weg. Hinaus, aus diesem Keller, hinaus, aus meiner Haut. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mir das Fleisch von den Knochen gerissen, aber ich wagte nicht, mir etwas anmerken zu lassen.
Inzwischen waren selbst der Innenminister und der Präsident in den Nachrichten zu Wort gekommen. Natürlich verurteilten sie den feigen Anschlag aufs Schärfste, versprachen eine schnelle und schonungslose Aufklärung des Verbrechens und finanzielle Hilfe für die Opfer. Im Hintergrund liefen Bilder von der Unglücksstelle, immer noch im hellen Scheinwerferlicht. Es wurden gerade zwei Leichen aus dem See geborgen. Die Lockführer, wie es hieß. Wieder war es Lukas, der schnaubte. Er hatte genügend medizinisches Fachwissen, um behaupten zu können, dass die gezeigten Leichen bereits seit gut einer Woche tot sein mussten. Für ihn entwickelte sich das Theaterstück dort zu einer besonderen Farce.
Wir waren noch immer so vom Bildschirm gefesselt, dass niemand Jay bemerkt hatte, der plötzlich hinter uns im Raum stand und Besuch mitgebracht hatte. Als er sich laut räusperte, machten alle Anwesenden einen regelrechten Satz, Hattie griff sich schockiert an ihr Herz.
„Musst du mich denn so erschrecken, Jungchen? Das kannst du mit einer alten Frau wie mir doch nicht machen.“
„Bemüh dich nicht, Hattie, ich bin älter als du. Aber ich habe einen alten Freund mitgebracht. Wir kennen uns noch von früher, haben gemeinsam an Projekten gearbeitet. Ihr solltet ihm zuhören.“
Erst jetzt fiel die kleine Gestalt an seiner Seite erst richtig auf. Der alte Mann kam nicht einmal auf eine Höhe von einem Meter sechzig und auch der buschige Bart konnte nicht verbergen, dass sein ganzes Gesicht eigentlich nur noch aus tiefen Falten bestand. Irgendwo in diesen Falten glitzerten zwei kleine aber wache, schwarz glitzernde Augen. Die altmodische Melone auf seinem Kopf war genau so abgewetzt wie der dennoch elegante Anzug. Er strahlte eine gewisse Ruhe und Autorität aus.
„Ich schlage vor, jeder greift sich jetzt eilig das, worauf er am wenigsten verzichten kann, und dann folgt ihr mir.“ Seine Stimme war zwar dünn, aber dennoch klar zu verstehen und laut genug. „In spätestens fünf Minuten sollten wir hier hinaus sein. Dann kommt Besuch, von dem ich wetten möchte, dass ihr ihn nur im äußersten Notfall willkommen heißen wollt. Ich bringe euch an einen Ort, wo ihr für eine Weile bleiben könnt, bis sich die Wogen etwas geglättet haben. Jay wird sich dann um alles Weitere kümmern, er kann sich unauffälliger in der Öffentlichkeit bewegen als wir alle. Hier können wir jedenfalls nicht bleiben.“
Es war erstaunlich, wie bereitwillig man sein Leben in fremde Hände legt, wenn man erst einmal realisiert hat, dass man alleine eh nicht weiter kommt. Erschrockene Augenpaare wandten sich an Jay, der nur mit ernster Mine nickte. Er hätte seinen Freund nicht zu uns gebracht, wenn er ihm nicht voll vertrauen würde. Trotzdem brauchte es noch Lena, die den ersten Schritt tat. Als sie sich aus ihrem Sessel erhob, drehten auch wir anderen uns um, und holten eilig Hut, Mantel und den stets für den Notfall bereitstehenden Rucksack mit Grundausstattung aus unseren Zimmern.
Drei Minuten später stiegen wir die Treppe zur Laderampe des Restaurants hinauf. Kühle, frische Abendluft wehte uns entgegen und machte mir erst bewusst, wie alt ich doch geworden war. Der eilige Aufbruch und die Aufregung machten sich deutlich in den Knochen bemerkbar. Für einen Abend wie diesen, war die Straße ungewöhnlich ruhig. Das hieß zwar, dass weniger Leute uns erkennen konnten, aber es gab auch keine Menge, in der man sich hätte verstecken können. Unseren Führer aber interessierte das ohnehin nicht. Er bog in die erste Gasse ein, die möglich war, und führte uns in die Hinterhöfe.
Von der Straße aus hallte das Quietschen von Reifen herüber und Tom, der als Letzter ging, konnte gerade noch beobachten, wie mehrere Einsatzwagen der Polizeispezialkräfte vor dem Restaurant zum Stehen kamen. Der alte Mann schien amüsiert zu sein, kicherte leise vor sich hin und murmelte etwas in seinen Bart, was ein „das war wirklich knapp“ sein konnte.
Mit zügigen Schritten ging es kreuz und quer durch die Gassen und Hinterhöfe, hier und da auch einmal über eine niedrige Mauer. Wir waren etwa zehn Minuten unterwegs gewesen, da waren die Sirenen aufgetaucht und hatten sich in der ganzen Stadt verteilt. Blaulichter flackerten auf allen Straßen, selbst die Luftüberwachung hatte alles herausgeholt, was sie zu bieten hatte. Neben den Drohnen flogen selbst die alten Hubschrauber wieder und legten mit ihren Scheinwerfern ein gespenstisches Bild über die Dächer der Stadt.
Es hatte eine halbe Stunde gedauert, den Stadtkern zu verlassen und langsam wurde ich unruhiger. Die Lücken zwischen den Häusern wurden immer größer. Auch wenn die Plattenbauten lange Schatten warfen, es gab immer weniger Möglichkeiten, sich zu verstecken. Hinterhöfe wurden rarer, finstere Gassen sowieso. Dafür wurden die Sirenen der Polizei immer lauter und die Suchscheinwerfer kamen immer näher. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, an unserem Führer zu zweifeln, statt ihm blindlings zu folgen. Zielstrebig trat er auf einen dunklen Parkplatz.
Die wilde Jagd schien ihm nicht im geringsten etwas auszumachen. Wir hingegen waren inzwischen alle reichlich außer Atem mit Ausnahme von Tom. Vielleicht waren wir deshalb etwas unachtsam geworden. Ich kann es im Nachhinein nicht mehr sagen. Ich weiß nur noch, dass wir von einer Sekunde auf die nächste von schwarzen Einsatzwagen der Polizei umstellt waren. Auch wenn es nur einer links und einer rechts von uns war, sie erschienen uns in dem Moment wie eine Armee. Maskierte Gestalten stürmten durch die Türen, welche sich erstaunlich leise geöffnet hatten.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 119.

Die Badezimmerchroniken Teil 11

Erik hatte Mias Wunsch befolgt und sie waren bei seiner Familie geblieben. Fast zwei Wochen lang gab es einen Mix aus Hausarbeiten für die Uni schreiben und Tagestouren in die Umgebung, spazieren gehen oder einzelne Sehenswürdigkeiten besuchen. Vormittags herumärgern mit Programmen, die nicht so funktionierten, wie man es sich wünschte, nachmittags dann hinaufklettern zur alten Burg über der Stadt, und den Sonnenuntergang genießen.

Aber auch wenn Mia es wie Urlaub in vollen Zügen genoss, irgendwann zog es Erik dann doch wieder in seine eigene Wohnung, mit dem eigenen Bett, dem eigenen Schreibtisch und nicht mehr seinem, inzwischen zum Gästezimmer umgeräumten, Jugendzimmer. Der Fall, den er fast für unmöglich gehalten hatte, war eingetreten. Er hatte die gemeinsame Wohnung tatsächlich als sein Zuhause akzeptiert. Es war ihm nicht einmal aufgefallen, bis er jetzt daraus ausgesperrt war.

Und so kam der Freitag, an dem er seine Taschen gepackt hatte, um gemeinsam mit Mia wieder zurückzufahren. Unabhängig davon hatte die Vermieterin am Vorabend noch einmal angerufen, um sich zu erkundigen, ob sie stören würde, wenn sie noch einmal schnell durch wischen würde und sie bedankte sich noch einmal ausschweifend für die unglaubliche Geduld. Es wäre schon wieder so dreckig, aber wenigstens wären die Handwerker so weit durch jetzt, es fehlten nur noch Kleinigkeiten. Fußleisten zum Beispiel und es müsste noch gestrichen werden. Sie wiederholte auch ihr Angebot, Bettwäsche und Tischdecke zu waschen und Erik blieb dabei, es war nett gemeint aber absolut nicht notwendig.

Später am Tag klapperte zunächst die Haustüre und Erik sah sich etwas ängstlich um Hausflur vor der Wohnung um. Er hatte noch das schreckliche Chaos von vor zwei Wochen in Erinnerung, als alles mit Baumaterialien und Dreck voll stand. Die Nachbarn taten ihm immer noch leid, aber es war keine Beschwerden bei ihm angekommen. Man konnte zwar sehen, dass in der Zwischenzeit jemand mit einem feuchten Mopp durchgewischt hatte, dennoch war deutlich eine Vielzahl von staubigen Schuhabdrücken zu erkennen. Es würde seine Zeit brauchen, bis die verschwanden.

In der Wohnung war der Boden zwar ausgelegt worden, trotzdem erwartete er ein sehr ähnliches Bild. Was ihm aber zunächst auffiel, als er die Tür öffnete, war der Blick geradeaus. Anstelle der Klotüre, wie bisher, sah man nun auf eine geschlossene weiße Wand. Halb hinter der Ecke lugte die Badezimmertür hervor, sie war nur lose angelehnt. Kein knirschen unter den Schuhen, als Mia und er in die Wohnung traten. Dafür ein feiner staubiger Schleier, der auf allen Oberflächen lag.

Erik hatte befürchtet, dass zwar der Rohbau jetzt abgeschlossen war, aber das Bad erst noch renoviert werden müsste. Die Fliesen waren das eine, Farbe an den Wänden und der Decke aber etwas anderes. Auch wenn die frisch zugemauerte Türe auch nicht als Rohbau vorlag, sondern sogar tapeziert und weiß gestrichen war, überraschte es ihn, als er ins Bad trat, das Licht einschaltete und es ihm gleich hell in frischem Weiß entgegen strahlte. Die Badewanne war einer geräumigen Dusche gewichen, direkt davor hing ein Heizkörper und alles in allem wirkte der Raum plötzlich viel größer. Er war positiv überrascht und nickte anerkennend.

Mia hatte ihren Rucksack noch in der Küche abgestellt und schob sich nun hinter ihm in den Raum. Ihre Mine zeigte keine Regung und ebenso wenig eine Wertung, als sie sich umsah. Es würde einiges an Umgewöhnung für sie sein, auch wenn sie nicht viel Zeit gehabt hatte, sich an den vorherigen Zustand zu gewöhnen. Mit einem verächtlichen Schnauben wischte sie über die Fliesen und hinterließ dabei eine glitzernde Spur. Auch hier lag eine feine Staubschicht überall. Und selbst wenn alles blinkend sauber gewesen wäre, hätte es ihr vermutlich an Seele für das Badezimmer gefehlt. Wenn sie schon sonst nichts daran aussetzen konnte, das schon. Eine Pflanze wäre vielleicht ideal, nur bei einem fensterlosen Raum nicht überlebensfähig. Vielleicht ja eine aus Plastik.

Inzwischen hatte auch Erik seine Taschen abgeladen. Das Bettzeug war wirklich eingestaubt, sogar schlimmer, als er befürchtet hatte. Soviel zu dem Versprechen der Handwerker, es mit einer Plane abzudecken. Aber darum sollte Mia sich kümmern. Die Waschmaschine stand sogar bereits in ihrer Ecke im Bad. Er selbst war bereits dabei einen Eimer mit warmem Wasser zu füllen und hatte Putzlappen zusammen gesammelt, noch bevor seine Freundin sich fertig umgesehen hatte.

Es dauerte eine gute Stunde, bis alles so weit sauber war, wie er es haben wollte. Und wo er schon dabei war, hatte er gleich mit dem Flur und der Küche weiter gemacht. Die Waschmaschine brummte eifrig vor sich hin und Mia rang mit Staubsauger und Teppichen. Das Bett hatte sie bereits frisch hergerichtet und war stolz auf ihre Dekoration und wie gut sie mit ihrer Lieblingsbettwäsche harmonierte. Jetzt war es an der Zeit, dass sie sich wieder hier wohlfühlen sollte. Unter ihren Bedingungen.

Draußen stürzte die Wintersonne dem Horizont entgegen, drinnen rauschte die Heizung leise aber ergiebig vor sich hin. Die Wohnung war zwar noch immer nicht so sauber, wie Erik es gerne hätte, aber mit diesem Kompromiss konnte er leben. Mia hatte unermüdlich Kisten aus dem Schrank gezogen, auf der Suche nach Mitteln, um allem wieder eine etwas persönlichere Note zu verleihen. Erik musste grinsen, als ihm der Vergleich mit einem Tier kam, was ein neues Revier markieren musste. Selbst das Küchenregal hatte sie neu sortiert und aufgeräumt, auch wenn das keine Woche vorhalten würde. Für den Moment fühlte sie sich trotzdem wohl, er hingegen etwas ausgebrannt. Es war Zeit für etwas Ruhe und Beständigkeit.

Jetzt saß sie in ihrem Sessel und beobachtete ihn mit verträumtem Blick, wie er sich frische Klamotten aus dem Schrank holte und in Richtung Bad stiefelte. Er war staubig genug geworden, als dass es ihm als Vorwand ausreichte, die Dusche einzuweihen. Eine Erinnerung geisterte durch ihren Kopf, eine Idee, die sie einmal hatte und die jäh von einer verstopften Leitung unterbrochen worden war. Sie musste grinsen. Das Plätschern von Wasser erklang durch die geschlossene Türe. Sie stand auf, zog sich den Pulli aus, warf ihn aufs Bett und schlich sich hinter Erik her ins Bad. Sie hatte eine Überraschung nachzuholen und wann wäre ein besserer Zeitpunkt dafür als dieser?

Seeon

Gutenachtgeschichten

Jeder Tag erreicht seinen Punkt, wo die Sonne längst die andere Seite der Erde bescheint und sich die Leute hier ins Bett begeben. Die einen sind so erschöpft, dass sie gleich einschlafen, die anderen zählen Schafe, lauschen angespannt ihrem Herzschlag oder dem Atem des Wesens neben einem oder sie öffnen ihren Geist und gehen auf Reisen.

Dann entstehen bunte Geschichten hinter den geschlossenen Augenlidern und Gehirne kommen erst so richtig in Schwung. Da finden sich Geschichten um den ersten Kuss von Beziehungen, die nie Realität werden, da fegt die Gischt über die Deckplanken von Segelschiffen vor exotischen Küsten, da sitzt ein Held über den höchsten Zinnen seiner Stadt und wacht über einen dicht gedrängten Ameisenhaufen von Menschen, die nichts von seiner Existenz wissen. Raumschiffe jagen über die bunten Himmel fremder Planeten voller Lebewesen, so fremd, dass man sie sich kaum vorstellen kann, oder durchkreuzen die ewige Schwärze des Universums auf der Suche nach ihren Missionszielen. Da werden Monumente gebaut und alternative Verläufe für Geschichten erdacht. Was wäre gewesen, wenn …

Musik entsteht und begleitet einen unscheinbaren Träumer in die Schlacht gegen seine größte Angst, episch und bildgewaltig, das selbst die Größen der Filmmusik voller Hochachtung innehalten. Da entstehen Meisterwerke der Literaturgeschichte, nur einen Federstreich, einen Tastendruck von der Unsterblichkeit entfernt. Auf den Schwingen von Adlern, Raben und Drachen fliegen Gedanken mit den Träumen um die Wette. Donnernde Explosionen konkurrieren mit leise geflüsterten Worten der Zuneigung. Ein Unterbewusstsein übernimmt das Steuer über das legendäre U-Boot, welches versunkene Kulturen in den tiefsten Meeren besucht. Der Traum übernimmt die Kontrolle, der Träumer ist eingeschlafen, ohne es zu merken, ohne es zu wollen, atmet die Luft des Basars von Samarkand, schwer von Gewürzen.

Und dann klingelt der Wecker. Eine heiße Dusche wärmt die steifen Glieder, noch ganz erschöpft vom nächtlichen Kampf gegen die höchsten Gipfel. Der dampfende Tee spült das Salz des Windes von den Lippen, die noch vor Kurzem auf die endlosen Salzseen in den Anden gesehen haben, und mit jedem Atemzug zerbricht das Schloss aus Träumen, bis alles im Schlund des Vergessens untergegangen ist, noch ehe man die Türe zur Wohnung hinter sich ins Schloss gezogen hat und auf dem Weg ins Büro ist. Für immer verloren sind all die brillanten Ideen, die Meisterwerke, die genialen Geschichten und mitreißenden Töne. Ertränkt in einem grauen Alltag, erdrosselt von einem unbarmherzigen Wecker, gescheitert an den Fingerkuppen, die nicht einmal eine Notiz retten konnten oder wollten.

Discovery Park

Exitus VI

Der heutige Teil ist glaube ich etwas länger, aber wenn Du bis hierhin durchgehalten hast, dann schreckt Dich das hoffentlich auch nicht mehr ab. Ich habe versucht, etwas mehr Schwung und Spannung in die Geschichte zu bringen und vielleicht merkt man es auch, aber wir nähern uns dem Finale. Missy, ist das in etwa, was du dir unter Countdown vorgestellt hast? 🙂 Ich habe es nicht vergessen, auch wenn es schon etwas her ist.

„Aber das ist unmöglich. Du bist tot. Ich bin tot! Das Datum lügt doch nicht, wieso sind wir also noch hier? Wieso sind wir alle hier? Marten, Schatz, was geht hier vor? Was ist das für ein Trick? Das Orakel hat es doch genau bestimmt.“

Marjas Stimme war schwach und brüchig. Sie rang mit aller Macht, die sie aufbringen konnte, um Fassung. Hatte ich gestern noch Marten bemitleidet, war es nun Marja, für die ich Mitgefühl empfand. Ihre Welt war zerbrochen, ihr Glaube schwerst angeschlagen. Eine Konstante, die für sie verlässlicher war als die Zeit selbst, hatte sich einfach brutal und unbarmherzig vor ihr aufgelöst.

Marten hingegen wirkte sehr gefasst, als wäre ein langer, erbitterter Kampf endlich zu einem Ende gekommen und er könne sich endlich einmal ausruhen. Müde und erschöpft saß er im Sessel, starrte leer ins Nichts und nippte an seinem Tee.

Auch wenn er zunächst selbst schockiert war, dass Marja diesen Morgen noch erlebt hatte, obwohl ihr Datum abgelaufen war, hatte er doch damit gerechnet. Oder besser gesagt, er hatte darauf gehofft. Am Tag vorher war er noch beim Arzt gewesen und dieser hatte ihm eröffnet, dass sich in der Blutprobe, die er seiner Frau heimlich abgenommen hatte, eine Anomalie gefunden hatte, die er nicht erklären konnte. Er war sich aber sicher gewesen, dass es genau das gewesen war, wonach sie suchten. Sie würden abwarten müssen.

Dass Tom dann bereits in den frühen Morgenstunden an der Türe klopfte, um den Entsorgern zuvor zu kommen, bestätigte dankbarerweise Martens frisch entfachte Paranoia, wenn auch nicht ganz auf die Weise, wie erwartet. Da er eh bereits genug wusste, um als eingeweiht zu gelten, hatte Tom kein Problem damit, dass Marten sich weigerte, die Seite seiner Frau zu verlassen. Und deswegen waren sie jetzt hier, das war der ganze Trick, um Marjas Frage zu beantworten.

Nach dem Frühstück wiederholte sich, was auch schon bei mir damals passiert war. Lena schickte Marja und Marten ins Bett, um sich von der anstrengenden Nacht zu erholen und den Schreck etwas zu verarbeiten. Wir anderen gingen derweil unserer Tagesaufgaben nach, soweit es die aktuelle angespannte Situation gestattete.

Ich stand in der Küche, als Lena hinein kam und sich einen großzügigen Drink genehmigte. Es war noch nicht einmal zwölf Uhr mittags, aber sie wirkte erschöpft und angespannt wie nach einem langen Tag.

„Ich habe ein wenig mit unseren Freunden in den Behörden telefoniert. Polizei, Sicherheitsbehörden, Einwohnermeldeamt … Alle haben sie nur darauf gewartet, dass ich mich melde. Alle haben mich direkt auf eine sichere Leitung umgehängt und mich gewarnt, dass etwas Großes auf dem Weg ist. Die Regierung plant etwas und es sieht so aus, als hätte es mit uns zu tun. Jeder Einzelne hat mich versucht auszufragen, wo wir sind, was wir treiben und wieso auf einmal hohe Tiere auf uns aufmerksam werden. Die haben selbst keine Ahnung, was ihre eigenen Behörden treiben.“

„Es ist doch üblich, dass die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. Aber du hast recht, es ist ungewöhnlich, dass gleich mehrere Behörden auf einmal Warnungen herausgeben. Tom ist oben, unterwegs, oder? Vielleicht kann er etwas herausbekommen.“

„Umso mehr Sorgen sollte es uns machen, wenn plötzlich alle das Gleiche wissen. Tom ist oben aber er sucht Martens Arzt auf. Es wäre hilfreich, wenn er uns einige Fragen beantworten würde. Vielleicht macht er ja auch Hausbesuche.“

„Also bleibt uns mal wieder nur versteckt halten und abwarten? Das macht mich langsam wirklich fertig. Ich weiß, ich war nie ein großer Held, aber ich sitze seit Wochen hier unten. Würden wir endlich herausbekommen, was überhaupt los ist, könnte ich das ganze vielleicht klären und endlich wieder raus.“

„Hab Geduld. Ich habe so eine Ahnung, dass es sich bald alles erklärt.“

Mit diesen Worten drehte sich Lena um und ich war wieder alleine in der Küche. Alleine, verwirrt und völlig ratlos. Für eine Weile starrte ich einfach nur stumm und regungslos vor mich hin. Es war, als wäre ich einfach eingefroren und nicht in der Lage, einen einzelnen klaren Gedanken festzuhalten. Weißes Rauschen, wie ein warmes, weiches Kissen, dehnte sich in meinem Kopf aus und nahm alles in Beschlag. So fand mich Marten, mit dem Rücken an die Kühlschranktür gelehnt, den Spülschwamm noch in der Hand.

„Und ich habe schon gedacht, ich sehe Gespenster. Weißt du, ich war drauf und dran, meinen eigenen Verstand für vorzeitig abgelaufen zu erklären. Aber auch das wäre ein Zweifeln am Orakel gewesen, für das meine Frau mich in einen Schuhkarton gesteckt hätte.“

„Ich habe dich nur einmal gesehen, damals bist du an mir vorbei gegangen, ohne mich zu bemerken. Danach habe ich mir geschworen, besser aufzupassen, und einen Spießrutenlauf begonnen. Offenbar war ich regelrecht stümperhaft darin.“

„Offenbar. Wieso hast du dich bei niemandem gemeldet?“

Ich sah ihn fassungslos an. Die Frage war so logisch, dass es absurd war, und dann auch wieder das genaue Gegenteil. Es brauchte einen Moment, bis ich mich so weit gefasst hatte, antworten zu können.

„Ich habe darüber nachgedacht. Aber wie stellst du dir das vor? Die ersten Tage wusste ich ja nicht einmal, was überhaupt los ist. Und dann soll ich einfach bei dir vor der Türe stehen? Nach meiner Trauerfeier und meinem offensichtlichen Tod? Selbst wenn ich das getan hätte, was wäre dann gewesen? Hättest du gewusst, was dann zu tun gewesen wäre und wie hättest du überhaupt reagiert?“

Viele Fragen und auf keine davon wusste er eine Antwort. Wahrscheinlich wäre er mit der Situation genau so überfordert wie ich gewesen. Es war ja selbst jetzt noch ein Schock, obwohl er bereits einen starken Verdacht und intensive Recherche hinter sich hatte.

Tom brachte keine guten Neuigkeiten. Als er zurückkam wirkte er abgehetzt, verspannt und extrem gereizt und kaum hatte er zu erzählen begonnen, wünschten sich alle, er hätte lieber keine Neuigkeiten als diese.

„Mein Besuch in der Praxis von Doktor Dach war leider sehr unbefriedigend. Er war nicht da und das ist ein größeres Problem, als es scheint. Seine Sprechstundenhilfe, verstört, wie sie war, teilte mir mit, dass er nur eine halbe Stunde vorher wegen Ketzerei und Blasphemie verhaftet worden ist. Es ist nicht absehbar, wann er wieder zurück ist. Und was unsere Hoffnungen angeht, dass sich die Lage entspannt … in der ganzen Stadt wimmelt es von Polizei. Es ist ein Spießrutenlauf, an den Gesichtsscannern vorbei zu kommen.“

„Wir haben Warnungen von den Behörden bekommen, dass etwas vor sich geht. Meinst du, dass es das war? Dass sie so intensiv nach uns suchen?“

„Nein, ich glaube es nicht. Abgesehen davon wissen die Behörden doch überhaupt nicht, nach wem sie suchen sollen. Oder meinst du, sie haben unsere Gesichter? Immerhin ist von uns allen lediglich Marten noch nicht offiziell verstorben.“

„Aber zu keinem von uns haben die Entsorger eine Leiche abtransportiert.“

Mit dem Punkt hatte Selime recht. Es konnte nicht schwer sein, unsere Gesichter im Archiv zu finden. Meines war ja eh bereits auf Suchplakaten vertreten. Ich begann. mir ernsthafte Sorgen um meine Gefährten zu machen. Der Vorschlag, die Wand zur Bar zu schließen und uns für eine Weile zu isolieren linderte die Angst nur geringfügig, wurde aber trotzdem gleich umgesetzt. Jay hatte für diesen Fall schon vor langer Zeit alle Vorkehrungen getroffen. Von nun an würde die Türe hinter einem solide erscheinenden Stück Wand verschwinden, als wäre der hintere Bereich überhaupt nicht existent.

Radio und Fernseher liefen permanent, um uns mit den aktuellen Nachrichten versorgen zu können und eventuell einen Hinweis zu liefern. Tom lief ebenfalls, aber lediglich auf und ab. Für ihn war es ein großes Problem, eingesperrt zu sein. Er würde sich wohl wohler dabei fühlen, über die Dächer der Stadt zu klettern und zu frieren, als im Keller herumzusitzen. Die Straßen aber wären selbst ihm jetzt zu riskant.

Das Radio war am schnellsten, mit seiner Berichterstattung. Eine Explosion im Triebwagen eines Güterzuges in Stadtrichtung hatte den voll beladenen Zug aus der Spur gehoben und von der Brücke in den See im Norden stürzen lassen. Dabei hatte die Brücke schweren Schaden genommen, nach den beiden Lockführern wurde noch gesucht. Und natürlich wurde direkt die Frage gestellt, ob die gleiche Terroristengruppe dafür verantwortlich sein könne, die auch das Wohnhaus letztens gesprengt hatte. Auch wenn das nicht bestätigt wurde, fiel doch mehrfach die Bemerkung, dass man uns ja bislang noch nicht hatte fassen können.

Das Fernsehen folgte eine halbe Stunde später mit Bildern von der Schnellzugstrecke. Die alte Brücke war schon lange sanierungsbedürftig gewesen und hatte jetzt schweren Schaden genommen. Der Polizeipräsident wirkte dann auch die Frage nach den Verantwortlichen gleich besser vorbereitet. Man müsse von einem terroristischen Akt ausgehen, ein technischer Defekt wäre wenig wahrscheinlich und bei diesem Typ von Triebfahrzeug noch nie vorgekommen. Die Handschrift stimme mit dem letzten Anschlag überein, da in beiden Fällen Sprengstoff zum Einsatz gekommen war.

Noch am gleichen Abend grinste mein Foto im Minutentakt vom Bildschirm und ich war nicht mehr alleine. Neben mir waren zunächst Fotos von Tom und Selime aufgetaucht, später auch von Hattie und Lukas, sowie zwei anderen, die ich nicht kannte. Lena, Marten und Marja waren bislang nicht aufgetaucht, ebenso wenig wie Jay.

Es war mir erst vor Kurzem aufgefallen, aber auch der alte Barkeeper hatte eine kleine Besonderheit. Gelegentlich trug er ein Armband, häufig ein langärmeliges Oberteil, für gewöhnlich einfach ein Spültuch lässig über den Arm geworfen, aber irgendwann war es mir dann doch aufgefallen. Jay hatte kein Tattoo. Er besaß kein Todesdatum! Er musste der einzige Mensch überhaupt sein, der keines hatte. Wie war das möglich? Wie alt war er? Ich hatte mich nie getraut, ihn darauf anzusprechen, weil es mir zu ungehörig erschienen war. Jetzt aber bereute ich es. Wenn jemand wie er mit uns in Verbindung gebracht werden konnte, dann musste das sehr gefährlich für ihn werden können.

Lena hatte das Telefon in der Hand, kaum dass das erste Fahndungsfoto auf dem Bildschirm erschienen war. Personen von besonderer Vertrauenswürdigkeit sollten ihre Ohren und Augen offen halten. Alle waren sich einig, Lena, und wer auch immer sich in ihrer Gesellschaft befand, sollte sich schleunigst aus der Stadt zurückziehen, am besten sogar das Land verlassen, wenn das möglich wäre. Der Arzt, nach dem sie suchte, war in die „Abteilung 42“ eingeliefert worden. Orakelangelegenheiten und eine Einbahnstraße. Kaum jemand kam jemals von da zurück, und die, die es taten, waren nicht mehr die gleichen. Wir sollten ihn als verloren betrachten. Er war dort auf persönlichen Wunsch eines Doktor Wyzim. Bei dem Namen verschluckte sich Lukas und verfiel in einen halbstündigen Hustenanfall. Was aber noch zu verstehen war, Doktor Wyzim war derjenige, welcher die Veröffentlichung über Untote verfasst hatte. Plötzlich kamen Ereignisse zusammen, die nur Ärger bedeuteten. Lenas Vertraute gaben ihr Anweisungen durch, wie und wann sie in Zukunft zu kontaktieren seien, der bisherige Weg barg zu viele Risiken.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 118.

Frustration

Flo hatte einen der letzten freien Tische in der Bibliothek ergattern können. Sein Zug nach Hause fuhr zurzeit nur einmal die Stunde und da Kristina eh erst spät von der Arbeit kommen würde, gab es nicht Vieles, was ihn davon abhielt, sich nach dem Seminar einfach in die Bibliothek zu setzen und für die anstehenden Klausuren zu lernen. Klausurphasen erkannte man immer besonders gut daran, dass die Arbeitsplätze im Lesesaal besonders umkämpft und belegt waren. Außerdem gab es nur noch wenige Plätze, die reserviert aber unbesetzt waren. Die meisten Leute waren tatsächlich auch anwesend.

Für eine Zeit hatte er sich gut konzentrieren können, hatte im Internet recherchiert, den Blick stur auf dem Bildschirm und Musik auf den Kopfhörern. Es tat gut, etwas abgeschotteter zu sein, denn auf diese Weise wurde er nicht von allem Möglichen abgelenkt. Manches mal fragte er sich, ob seine Sitznachbarn nicht genervt sein müssten, von dem Lärm aus seinen Kopfhörern. Andererseits war es im Lesesaal eh immer dermaßen laut, dass sie sein Hintergrundrauschen überhaupt nicht wahrnehmen konnten.

Und selbstverständlich verfiel er trotzdem alle Nase lang in die Pause, in der er über den Laptop hinweg starrte und, ohne es selbst wirklich zu realisieren, die Leute beobachtete. Das übliche Schaulaufen hatte auch in der Klausurphase nicht nachgelassen. Lediglich der Anteil an ungewaschenen Haaren und Jogginganzügen hatte etwas zugenommen, ebenso die technischen Spielereien als Lernhilfen. Aber nach wie vor waren alle gängigen Typen vertreten.

Eine Weile lang hatte er ein Pärchen beobachtet, welches frisch verliebt nebeneinandersaß und mit allem beschäftigt war, außer mit den Büchern, die vor ihnen ausgebreitet lagen. Es schien sie überhaupt nicht zu stören, dass sie hier vor aller Augen saßen. Sie hielten sich trotzdem kaum zurück, einander zu erkunden.

Ein leicht pummeliges Mädchen mit strenger Flechtfrisur stapfte energisch durch den Saal auf einen freien Tisch zu. Ihr Gesicht spiegelte eine mühsam unterdrückte Wut wider, die jederzeit explodieren konnte. Ihre Augen hingegen zeigten eher Frust und Enttäuschung. Mit weit ausladender Geste schmiss sie zunächst ihren Laptop, dann eine Büchertüte geräuschvoll auf den Tisch. Flo zuckte bei dem Knall nervös zusammen. Seine Sorge galt zunächst dem Laptop, der eine solche Aktion sehr übel nehmen konnte. Besonders alt konnte seine Besitzerin eigentlich nicht sein, aber wie sie sich nun auf den Stuhl fallen lies und wie ein nasser Sack in sich zusammensank, hätte sie auch der älteste Mensch der Welt sein können.

Diesen Ausdruck kannte Flo nur zu gut. In seinen ersten Jahren als Student hatte er darauf ein Jahresabo gehabt. Da lernte man Wochen, teils auch Monate lang für eine bestimmte Prüfung, und dann kam doch alles anders und das Ergebnis war eine einzige Enttäuschung im besten, nicht einmal bestanden im schlechteren Fall. Und jetzt sah er diesen Gesichtsausdruck hier vor sich, auf einem anderen als seinem eigenen Gesicht, und er verspürte unendlich tiefes Mitleid. Er konnte erahnen, wie es hinter der in Falten gezogenen Stirn aussehen musste. Ähnliche Gesichter konnte man zu dieser Zeit überall in den Hörsaalgebäuden der Uni sehen, doch dieses war das erste Mal, dass er es wirklich wahrnahm.

Das waren sie also, die hoch qualifizierten Fachkräfte von morgen, wie ihnen immer wieder gesagt wurde. Innerlich schon gebrochen, noch bevor sie ihren ersten Arbeitstag hinter sich hatten. Er selbst konnte nicht einmal genau sagen, was genau bei ihm die notwendigen Änderungen waren. Er hatte sein Studienfach gewechselt, mit Mia und Erik eine produktive Lerngruppe gebildet, sich eine „leck-mich-halt-am-Arsch“-haltung zugelegt, trank zu viel Bier und war irgendwie auch älter und ruhiger geworden. Der Abschluss erschien ihm, genau wie damals auch, unproportional bedeutend und aufgeblasen, aber es war ihm einfach egal.

Vielleicht war das der Punkt und nach dem Frust kam der innerliche Tod. Abgestumpft, gleichgültig, ein emotionaler Zombie. Das musste es sein. Nur um sicherzugehen, ob er auch wirklich nichts dabei fühlte, widmete er sich wieder seinem Lernstoff. Am Ende fand er tief in sich sogar so etwas wie Faszination für das Thema. Und das, obwohl es absolut nicht sein Lieblingsthema werden würde. Totale Gleichgültigkeit war es also schon einmal nicht. Vielleicht war er aber auch einfach schon zu lange an der Uni.

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Der Blick von Außen

Ich mag den Blick über den Tellerrand. Andere Perspektiven, andere Meinungen und Sichtweiten und gelegentlich ist auch etwas dabei, was mich dazu bringen kann, meine eigene Meinung zu einem Thema zu ändern. Auf jeden Fall ist es aber immer wieder spannend, was man alles über die Welt lernen kann. Was wenigstens genau so spannend sein kann, ist der Blick über den Tellerrand zurück.

Eine Möglichkeit, etwas über die Welt zu lernen, bietet beispielsweise der YouTube Kanal Geography Now, wo alphabetisch alle von der Uno anerkannten Länder nach ihrem englischen Namen abgehandelt werden. Dabei wird ein kurzer Überblick über geographische Lage, Morphologie, Sozialgeographie, Geschichte usw. gegeben. Dabei hat jeder die Möglichkeit die Recherche zu unterstützen. Ich finde es jedenfalls wesentlich interessanter als einen völlig neutral zu haltenden Wikipedia- oder Lexikoneintrag.

Diese Woche war Deutschland an der Reihe und bietet einen dieser Einblicke, zurück über den Tellerrand. Mir gefällt die Herangehensweise mit dem weiten Überblick und mal nicht dem Fokus auf dem, was sowieso schon so oft gesagt wurde, dass es jedem schon zu den Ohren wieder herauskommt.

Ich empfehle Euch gerne, einfach mal einen Blick auf den Kanal zu werfen. Ich freue mich jedenfalls immer, wenn ich ein neues Video vom guten „Barby“ in der Abbobox finde. Ergänzt wird das Hauptvideo dann durch den Flag Friday, wo die Flaggen und ihre Variationen sowie das Wappen kurz erklärt werden. Auch das kann durchaus interessant sein.

Vielleicht gebt Ihr ihm ja mal eine Chance. Es ist nie verkehrt, etwas über seine nähere und fernere Nachbarschaft zu lernen. Von mir gibt es jedenfalls eine deutliche Empfehlung.

Liebe Grüße

Euer Graf

Exitus V

Das nächste Häppchen Exitus ist fällig und wir werfen einen genaueren Blick auf eine weitere Person. Habt ihr noch den Überblick, wer wer ist? Viel Spaß beim Lesen.

Wieder waren Wochen vergangen. Der Winter kündigte sich an und erlaubte es den Anderen, mit dicken Schals und Mützen als Verkleidung wieder auf die Straße zu gehen. Für mich kam das nicht infrage. Noch immer war die Polizei auf der Suche nach mir und besonders die Verkehrsknoten wurden stark von Polizeirobotern überwacht. Mein persönliches Tor zur Welt waren hauptsächlich die Geschichten, welche die Anderen mir erzählten.

Es war ein sonniger Mittag, an dem ich mich wenigstens einmal bis in den Hinterhof des Restaurants traute. Das Verlangen nach frischer Luft und Sonne war einfach irgendwann zu groß geworden, und der Hinterhof war gut zur Straße hin abgeschirmt. Jay hatte offenbar nach mir gesucht, als er sich dazu gesellte. Der Becher, den er mir in die Hand drückte, dampfte und duftete herrlich nach frischem Kaffee mit einem Schuss Rum.

„Marja war gestern bei mir in der Bar.“

Mit diesem Satz ließ er sich neben mir auf die Bank an der Hauswand sinken. Hätte er mir einen dicken Hammer an den Kopf geworfen, es hätte sich vielleicht nicht viel anders angefühlt. Martens Frau war nie besonders abenteuerlustig gewesen, ebenso kein großer Freund von Bars oder Kneipen. Je schattiger und verborgener, umso suspekter erschienen sie ihr. Jays Bar, fensterlos und im Keller eines Restaurants in einer Seitenstraße im Stadtzentrum, war so ziemlich der letzte Ort, an dem man eine Dame wie sie erwarten würde. Und wieso kannte er ihren Namen? Ich traute mich nicht, nachzufragen und ich brauchte auch nur ein paar Augenblicke Geduld.

„Im Moment sind offenbar viele Leute auf der Suche nach anderen Leuten. Sie hat mir ein Foto von Marten unter die Nase gehalten und gefragt, ob ich ihn schon einmal gesehen habe. Solche Gesichter vergesse ich nicht so schnell. Besonders dann nicht, wenn es um die Sicherheit meines Rudels geht, und das seid ihr.“

Der Kaffee dampfte friedlich und unbeeindruckt von dem Chaos in meinem Kopf und Bauch.

„Ich hatte wohl das Glück, dass ich eine der späteren Stationen auf ihrer Tour war. Sie war schon recht entmutigt, weil niemand etwas gesehen haben wollte. Das macht die Leute in der Regel etwas redseliger. Was sie erzählt hat, deckt sich im Groben mit dem, was Tom euch letztens schon sagte. Marten ist stiller geworden, hat sich zurückgezogen und ist ausgesprochen skeptisch und misstrauisch geworden, selbst ihr gegenüber. Sie hatte schon den Verdacht, dass er krank sei, weil er laufend einen Arzt besucht. Aber irgendwie hatte sie wohl Zweifel und hat doch noch etwas herausgefunden. Sie wollte nicht sagen, was es ist, aber es war etwas mit „Ketzerei“ und Dokumenten im Archiv der Bibliothek, was sie sehr entsetzt hat. In letzter Zeit kommt er an einigen Abenden wohl nicht mehr nach Hause, und sie macht sich Sorgen.“

Das passte ins Bild. Marja war nicht nur eine zurückhaltende, elegante Dame, die viel Wert auf Manieren legte, sondern auch religiös. Das Wort des Orakels galt für sie ausnahmslos und Zweifel waren nicht zugestanden. Ihr eigener Ehemann war also auf Fehler eben dieses Orakels gestoßen und hatte sich daraufhin verändert. Das herauszufinden muss ein immenser Schock für sie gewesen sein. Ausreichend intensiv, als dass sie sich dazu herabließ, durch die Spelunken und Rattenlöcher der Stadt zu ziehen auf der Suche nach Hinweisen, was Marten gefunden haben könnte. Und noch etwas war da.

„Vielleicht sollte Tom die beiden wieder etwas ins Auge fassen. Marja hat nicht mehr viel Zeit. Wir haben irgendwann einmal festgestellt, dass sie genau ein halbes Jahr nach mir dran ist. Und das dürfte in etwa einer Woche sein.“

„Möglicherweise ist es das, was deinem Freund so zusetzt. Seine Frau wird sterben und er sucht nach Informationen zu Irrtümern des Orakels, was die Todesdaten betrifft. Sind das Zufälle?“

Es war keine Situation, die zu wilden Spekulationen einlud. Der Kaffee war bereits so weit abgekühlt, dass er nicht mehr dampfte und nur noch schwach duftete. Angesichts der jüngsten Ereignisse und Neuigkeiten hinterließ er einen etwas faden Geschmack im Mund. Selbst die frische Luft schmeckte abgestanden und faulig.

Als ich Tom am späteren Abend von Jays Begegnung mit Marja erzählte, griff er nach seinem Mantel, noch ehe ich ihn fragen konnte, ob er zu einer erneuten Überwachung bereit war. Er beschloss bereits von sich aus, dass es eine Situation war, die ein genaueres Hinsehen erforderte. Von Martens Arztbesuchen wusste er bereits, hatte auch den Arzt überprüft und für halbwegs vertrauenswürdig befunden. Es war ein Genetiker und als solcher naturgemäß nicht auf Regierungslinie, und hatte an interessanten Stellen Lücken im Portfolio. Es war gut möglich, dass er selbst Kontakte in den Untergrund pflegte. Vielleicht konnten wir davon ja sogar profitieren.

So eifrig Lena auch darin war, Netze aufzuspannen, besonders die medizinische Versorgung der Gruppe war verbesserungswürdig. Die Medikamente zu bekommen war dabei das kleinere Problem. Allein deswegen hatte Selime unzählige Stunden in der Bibliothek verbracht, den Kopf über medizinische Fachbücher gesenkt. Es war viel wert, aber Bücher allein können keine Ausbildung ersetzen. Tom jedenfalls konnte seine Aufregung nicht verbergen, möglicherweise auf einen eingeweihten Arzt gestoßen zu sein.

Die ganze Woche über war Tom nur für das Nötigste im Unterschlupf aufgetaucht. Schlafen, waschen, dann und wann etwas essen und seine Verkleidung wechseln. Er war wortkarg wie immer, aber wirkte nicht unzufrieden. Ja, Marten besuchte regelmäßig den Arzt. Dabei ging es, wenn er es richtig beobachtet hatte, um Untersuchungen von Blutproben. Von verschiedenen Blutproben. Marten war eifrig gewesen und hatte von einer breiten Vielzahl von Menschen Proben gesammelt. Die Untersuchungen der Proben verliefen meistens routiniert und gingen schnell.

Bis zu dem Tag, als etwas anders war. Der Arzt untersuchte die Probe, war plötzlich heller Aufregung verfallen und schrieb im Anschluss lange an einer Akte aus Papier, welche er sorgsam in einem Schließfach in seinem Büro wegschloss. Ein hervorragendes Druckmittel, von einer solchen Akte zu wissen.

Am Tag von Marjas Tod war Tom dann überhaupt nicht mehr bei uns gewesen. Wir wussten, dass er die beiden beobachtete. Marja würde nur eine kleine Trauerfeier haben. Sie war nicht der Typ für laute Großereignisse. Nur die engsten Freunde und nächsten Verwandten. Ich wäre auch eingeladen gewesen, wenn ich noch am Leben gewesen wäre. Schon allein als Trost für Marten. Er hatte den Großteil seines Lebens mit ihr verbracht, sie bereits in der Schule kennengelernt und nie wirklich gelernt, ohne sie zu sein. Ihr Tod, so lange er auch angekündigt war, würde ein schwerer Schlag für ihn sein. Mir blieb nicht viel mehr, als ihm in Gedanken Kraft zu wünschen und abzuwarten.

Als ich am nächsten Morgen den Tisch für das Frühstück deckte, fühlte ich mich merkwürdig unvollständig. Es war ein Gefühl, was ich so nicht kannte und was ich nicht genau bestimmen konnte. Eine allgemeine Unzufriedenheit, ein Nagen hinter den Augen, ein Kribbeln in den Füßen und den Schultern. Als ich mich im Raum umsah, entdeckte ich Lena. Sie saß stumm in einem Sessel und sah mich direkt an. Es ist eine seltsame Eigenschaft von ihr. Sie sieht mit ihren blinden Augen Leute an, und es ist, als würde sie direkt in sie hinein sehen und alles lesen können. Und immer wenn sie das tut, kann derjenige auch etwas über sich selbst lernen.

Heute half sie mir dabei, das Gefühl zu identifizieren. Es war nicht ich selbst, was mir Unbehagen bereitete, sondern der Tisch vor mir. Ohne groß darüber nachzudenken, setzte ich zwei zusätzliche Gedecke auf und es fühlte sich gleich besser an. Zusätzlich zum Kaffee würde es heute auch Tee geben. Jetzt fühlte es sich schon fast richtig an und langsam, ganz langsam, begann ich Lena zu verstehen.

Das Klappern von Jays Aufräumarbeiten hallte gedämpft durch die Türe zur Bar, das Radio neben den Sofas spielte leise Musik, die frischen Blumen auf dem Tisch verbreiteten einen weichen Duft. Im letzten halben Jahr hatte ich begonnen, mich hier richtig heimisch zu fühlen. Es war, als habe ich hier einfach hingehört. Diese Ruhe, dieser innere Frieden, den es alles erzeugte, es war wie Urlaub zu Hause. Meine Familie und meine Freunde fehlten mir immer noch, aber ich hatte begonnen, unsere kleine Gruppe hier als Familie zu akzeptieren.

„Ouha, es wird wieder voller. Willkomm‘ willkomm‘ hier. Geht mal durch, ich glaube, ihr kommt gerade recht zum Frühstück. Vielleicht komm‘ ich gleich auch noch kurz rein.“

Jays Stimme war durch die schwere Türe stark gedämpft. Die Wände waren so massiv, dass selbst bei Hochbetrieb in der Bar, man hier im Wohnzimmer noch gut sitzen konnte, aber in der allgemeinen Stille des Morgens verstand man ihn trotzdem. Hattie und Selime kamen gerade rechtzeitig, um dabei zu sein, als die Türe sich öffnete und Tom, Marja und Marten hindurch kamen. Die beiden wirkten irgendwas zwischen verstört, irritiert und eingeschüchtert, Tom war still und gleichgültig wie immer. Ich wollte ihnen schon eine Tasse Tee reichen, wartete dann aber doch lieber, bis sie saßen.

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