Projektseminar
Da war es schon wieder, das Ende des Semesters. Flo hatte das Gefühl, die Vorlesungszeit wurde von Jahr zu Jahr immer kürzer und die Klausuren und Endabgaben waren immer schneller da. Er hatte den Eindruck, das Semester hatte gerade erst begonnen und schon saß er da und musste sich um die Prüfungen sorgen. Außerdem musste er das, was er am allerwenigsten konnte. In einer Gruppe arbeiten und ein gemeinsames Ergebnis fertigstellen. Wessen Idee war das eigentlich schon wieder gewesen? Mia oder Erik konnte es nicht gewesen sein, die waren beide in einem anderen Seminar untergekommen. Natürlich im Gleichen. Erik wäre vermutlich aufgeschmissen gewesen, wenn er nicht von Mias Fahrwasser profitieren könnte. Außerdem waren die beiden noch immer durch ihre Wohnungssuche abgelenkt. Zeitweise hatte Flo den Eindruck, dass sie das zu gerne als Ausrede und Entschuldigung missbrauchten, sich mit anderen Dingen zu befassen als der Uni.
Nur wieso hatte er sich auf Gruppenarbeit eingelassen? Er konnte sich nicht erinnern, wann das jemals gut ausgegangen war. Klar, auch so etwas musste geübt werden, schließlich stand in fast jeder Stellenausschreibung „Teamfähigkeit“ in den Anforderungen ziemlich weit oben. Doch so sehr er sich auch bemühte und es versuchte, Flo war einfach nicht teamfähig. Er fand sich selbst ganz generell und im Allgemeinen unfähig, aber das würde er niemals offen zugeben. Was das anging, war sein Stolz einfach stärker als sein Selbstwertgefühl. Und vielleicht war es auch ganz praktisch, nicht die komplette Arbeit alleine erledigen zu müssen, sondern die Aufgaben aufteilen zu können. Dafür musste er allerdings mit den Leuten reden.
Bei der letzten Gruppenarbeit war genau das reichlich daneben gegangen. Sie hatten ein Protokoll als Gruppe abgeben müssen und seine Erinnerung der Ereignisse war einfach eine völlig unterschiedliche, als die der anderen. Er war zu faul gewesen, seine Sicht der Dinge mit Literatur zu belegen und sein Ruf als fauler Taugenichts hatte wahrscheinlich dazu beigetragen, dass seine Kommilitonen ihren eigenen Formulierungen den Vorzug gegeben hatten. Das Ergebnis war nicht zu seiner Zufriedenheit gewesen und, was vielleicht das größte Problem war, auch nicht zur Zufriedenheit des Professors.
Seinen Gruppenmitgliedern jetzt traute er mehr zu. Dafür sich selbst umso weniger. Das letzte Semester war für ihn nicht schlecht gelaufen, aber seitdem hatte er kräftig abgebaut und große Lücken wachsen lassen. Vielleicht war es ja das, was ihm so Bauchschmerzen bei diesem Projekt bereitete. Hatte er einfach nur ein schlechtes Gewissen, seine Gruppe hängen zu lassen? Er hatte es nicht vor, ging aber unbewusst wohl davon aus, dass sie am Ende von ihm enttäuscht sein würden. Der leere Stundenplan dieses Semester motivierte ihn einfach zu sehr zum faul sein. Er hätte einfach mehr Fächer belegen können und sich so mit Arbeit beladen, dass er nicht zur Ruhe kommen könnte. Aber es wäre freiwillige Mehrarbeit gewesen und bisher war er eigentlich recht zufrieden damit gewesen, nur das Nötige zu machen.
Dafür würde es allerdings deutlich bessere Selbstbeherrschung verlangen. Er musste die Zeit, die er hatte, sinnvoll nutzen. Jetzt im Augenblick zum Beispiel sollte er eigentlich aufmerksam an der Gruppenbesprechung teilnehmen. Sonst wusste er am Ende wieder nicht, was denn überhaupt sein Aufgabenbereich war und was die anderen übernahmen. Das Projektthema war schon eine Sache für sich gewesen. Er war der Gruppe beigetreten ohne eine Ahnung zu haben, wovon das Projekt überhaupt handelte. Unter dem Namen hatte er sich nichts vorstellen können und bis heute war das nur geringfügig besser geworden. Es würde auch nicht sein Lieblingsthema werden. Er kam nur schwer damit zurecht und es wollte nicht so echt in seine Denkmuster passen. Je öfter er die Literatur zum Thema befragte, umso verwirrter schien er zu werden. Für gewöhnlich erreichte man irgendwann doch den Punkt, an dem der Knoten platzte und plötzlich alles schön klar und deutlich war. Bislang wartete er vergeblich darauf.
Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den Schein zu wahren. So zu tun, als wäre alles in Ordnung und sich dann hinsetzen und, nach Möglichkeit mit dem Material der anderen, seinen Stand zu konstruieren und die Aufgabe abarbeiten. Überragend würde es nicht werden, aber wenn er deutlich machen konnte, welcher Teil seiner war, würde wenigstens der Rest der Gruppe nicht darunter leiden müssen. So hoffte er jedenfalls, obwohl er es eigentlich besser wusste. Bis dahin durfte er nur nicht auffallen aber irgendwie hatte er das bisher immer geschafft.
„Also gut, dann mache ich das bis nächstes mal fertig. Flo, wie weit bist du denn bisher? Hast du bei dir schon was rausbekommen?“
„Bisher“ war offenbar mit dem heutigen Tag zu Ende. Wie kam er da nun bloß durch, wenn nicht mit etwas Ehrlichkeit?