Klausurfrust
Vermutlich kennt jeder Student dieses Gefühl. Wochenlang hat man darauf hingearbeitet. Wochenlang hat man sich ein schlechtes Gewissen gemacht, sich mit allem Möglichen abgelenkt und gelegentlich sogar aktiv für die nahenden Klausuren gelernt. Man hat die Unterlagen des Semesters geordnet, fehlende Blätter bei Freunden abfotografiert oder kopiert und sich vorgenommen, dieses Mal auch wirklich Karteikarten zu schreiben. Dieses Mal hatte man sich vorgenommen, die Karteikarten sogar rechtzeitig anzugehen.
Dann, in der letzten Woche vor den Klausuren, war es ernst geworden. Es war keine Zeit mehr, sich abzulenken. Man stellte fest, wie viel Stoff eigentlich in so einem Semester pro Fach bearbeitet wird. In den höheren Semestern fällt einem auf, wie viel von den Grundlagen nicht mehr da ist. So vieles, was vergessen wurde, weil man damals in den Einführungsveranstaltungen nicht daran gedacht hat, es jemals noch einmal zu brauchen. Man war doch viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, auf Partys zu gehen und die Freundschaften zu schließen, von denen die Alten immer erzählt hatten. Die Freundschaften, die einem durch die Uni halfen und die einen ein Leben lang begleiten sollten.
Gemeinsam mit dem Grundstudium waren dann auch diese Illusionen irgendwann nicht mehr zu retten gewesen und man nahm sich fest vor, mit den Vertiefervorlesungen alles wieder wettzumachen. Daher nahm man sich jedes Semester aufs Neue vor, schon vorlesungsbegleitend den Stoff immer brav vor- und nachzuarbeiten. Man nahm sich vor, zeitig mit dem Lernen zu beginnen, um das Wissen nicht nur für die Klausur, sondern noch für die kommenden Veranstaltungen zu speichern. Eventuell wollte der ein oder andere sogar etwas für seinen späteren Beruf oder das Leben lernen. Immerhin offenbarte einem der Kontoauszug jeden Monat aufs Neue, dass das Studium recht teuer sein konnte.
Genau, wie in den Semestern davor, war man dann aber auch dieses Semester wieder viel zu spät dran. Hausarbeiten waren bis zum letzten Moment aufgeschoben worden, Klausurvorbereitungen hoffnungslos vernachlässigt und Schlaf durch massenhaft Koffein von der Liste des täglichen Luxus gestrichen worden. Der Höhepunkt ist noch lange nicht erreicht, wenn der größte Triumph in der Küche darin besteht, eine Tasse zu finden, aus der man freiwillig noch einen Schluck Kaffee trinkt.
Dann irgendwann ist er aber da, der Moment, für den man dies alles durchmacht. Der Moment, von dem man sich einredet, er würde sein späteres Leben maßgeblich beeinflussen. Wenn man seine Klausur geschrieben und abgegeben hat und es zu spät für jeden Nachtrag ist. Die Note, die man auf diese Leistung bekommt, wird für alle Zeiten auf ein Blatt Papier gebannt, welches zwischen Karriere und Arbeitslosigkeit entscheiden soll. Wie das Ergebnis wohl ausfallen wird? Wie ist die Klausur für einen gelaufen? Traut man sich, eine Prognose zu wagen oder will man sich keine Hoffnungen machen, die am Ende enttäuscht werden?
Die letzten Minuten der Klausur sind besonders angespannt. Jeder versucht noch die letzten Lücken zu füllen, die auf den Bögen voller Hieroglyphen übrig geblieben sind. Gleichzeitig gilt es Fehler zu korrigieren, seien sie echt oder nur vermeintlich. Dann werden die Fragebögen eingesammelt, gnadenlos, und ein Strom ächzender, schwitzender und aufgekratzt plappernder Studenten ergießt sich aus dem Hörsaal. Auf den Fluren spielen sich Szenen von Triumph und Verzweiflung ab.
„Was hast du bei Aufgabe 4.?“
„Das Modell hatten wir doch überhaupt nicht in der Vorlesung! Wieso fragt die denn so etwas?“
„Oh nein! Ich hatte die Fünf doch richtig, aber dann dachte ich, es sei genau anders herum und habe es noch einmal verbessert. Jetzt ist es falsch!“
„Siehst du, hier steht es doch genau so. Ich wusste doch, dass ich es richtig habe!“
Während die Einen noch lautstark ihre Antworten diskutieren, sich rechtfertigen oder prahlen, geben Andere sich stumm ihrem Schicksal hin. Jeder hier hat in irgendeiner Form Zweifel. Eine Antwort, den Teil einer Antwort oder gleich die ganze Klausur. Diejenigen, die restlos alles gewusst haben, sind längst weg. Sie haben die Klausur vermutlich schon mehrere Male nicht bestanden, dies war ihre letzte Chance und sie haben alle Antworten in der Hälfte der Zeit abgearbeitet. Sie sind aus dem Saal geflohen, bevor sich Zweifel bilden können und nun befinden sie sich in einem Delirium, aus dem sie nicht erwachen wollen, ehe das positive Ergebnis dieser Klausur vorliegt.
Flo dachte beiläufig an einen solchen Rausch. Er war nüchtern, was inzwischen niemanden mehr so wirklich überraschte. Es wurde zwar immer noch des Öfteren registriert aber dieser Zustand war inzwischen allgemein akzeptiert. Irgendwo in seinem tiefsten Inneren freute es ihn. Auch wenn er das Gegenteil erfolgreich zur Schau trug, es war ihm nicht egal, was seine Umwelt von ihm dachte. Wäre es ihm wirklich egal gewesen, hätte er seine Wohnung auch einmal ungeduscht verlassen, den Bart nicht immer sauber gestutzt und die Haare sorgfältig schräg nach hinten gelegt. Es wäre ihm egal gewesen, ob seine Jacken und Hemden zu seinen Schuhen passten.
Bei Mia sah die Sache heute wohl etwas anders aus. Sie stand in etwas vor ihm, was man als eine Kreuzung aus Schlafanzug und Sportkleidung bezeichnen konnte. Wenig praktisch, vielleicht halbwegs bequem aber ganz sicher alles andere als elegant oder stilsicher. Sie hatte ihr Kinn auf Eriks Schulter abgelegt. Dieser schwadronierte bereits geschlagene zehn Minuten darüber, was er alles falsch gemacht habe und dass er sich ja kaum noch an die Fragen erinnern könne. Seine Antworten schien er aber noch alle zu wissen.
Mit tiefen, dunklen Ringen unter den Augen und krächzender Stimme ließ er sich gerade zum dritten Mal darüber aus, wie unfair er die Klausur doch fand.
Mia hingegen fand die Klausur eigentlich ganz fair. Sehr schwer, aber dennoch halt fair. Man hätte alles wissen können, aber was sie besonders ärgerte, war, dass sie Gruppe 1 und nicht Gruppe 2 hatte schreiben müssen. Sie hatte natürlich einen Blick auf die anderen Fragebögen geworfen und die Aufgaben dort hatten ihr um Welten besser gefallen, als die Eigenen.
„Ich habe wirklich überlegt, ob ich nicht einfach die Klausur neben mir nehmen sollte. Ich mein, da hat eh niemand gesessen und es kann denen doch egal sein, welche Klausur ich am Ende abgebe. Ich hätte auch beide abgeben können, das wäre mir ja auch noch egal gewesen. Aber die Frage 6. c), das war halt genau das, worüber ich noch eine Hausarbeit geschrieben habe.“
„War die nicht über was ganz anderes? Wie passt denn das da rein, oder habe ich was verpasst?“
„Nein, du meinst die Hausübung für Quanti. Die muss ich aber noch machen. Das weißt du aber doch eh, hab ich dir doch gesagt, oder hörst du mir nicht zu?“
„Natürlich hör ich dir zu. Wenn ich dir mal nicht zuhöre, dann merkst du das doch. Es sei denn, du ignorierst mich wieder. Aber was hast du denn bei der Sechs jetzt geschrieben?“
Flo stand teilnahmslos dabei, während die beiden sich darüber austauschten, wer wo welchen vermeintlichen Fehler gemacht hatte. Er erkannte die Fragen wieder und erinnerte sich auch an seine Antworten. Sie stimmten in etwa mit Mias Antworten überein. Von einer Antwort konnte er sagen, dass Mia falsch lag, bei zwei Anderen hatte er Lücken, wo die Beiden sich noch um die richtige Formulierung stritten.
Eine geöffnete Sektflasche trat der kleinen Gruppe bei, dicht gefolgt von Tina, deren Hand die Falsche umklammerte. Die blondierten Haare leicht zerzaust und von einer Wolke sauren Kaffeegeruchs umgeben, wandte sie sich grußlos an Mia.
„Sag mal, ihr habt doch aus mitgeschrieben. Bei der ersten Aufgabe, da war doch eigentlich nur das Diagramm aus der ersten Vorlesung gefragt, oder? Das war im Skript gleich auf Seite zehn.“
„Nein. Du hättest das Diagramm zeichnen sollen, natürlich alles beschriften, aber dann auch noch eine kleine Erläuterung dazu schreiben sollen. Haben wir im Tutorium aber auch mehrere Male geübt. Bei wem warst du denn in der Gruppe?“
„Hä? Welche Erklärung denn? Ich war nicht im Tutorium, da konnte ich nicht. Die Termine waren immer überschneidend mit meinem Circuittraining. Aber in der Vorlesung hat die das doch auch nicht erzählt.“
„Doch. Sie hat es in der zweiten Vorlesung noch einmal nachgereicht, weil sie die Folien dazu noch nicht fertig hatte. Da warst du nicht mehr da, oder? Jedenfalls habe ich dich nach der ersten Veranstaltung nicht mehr da gesehen. Dachte schon, du hättest abgebrochen.“
„Nein aber zu den Vorlesungen gehe ich ja nicht. Die kann ich besser zu Hause machen. Da kann ich mir die Zeit besser einteilen und es bringt mehr, als in dem dunklen Hörsaal zu sitzen.“
„Stimmt. Vorlesungen hören bringt echt nichts. Mit der Ausnahme vielleicht, dass man dann den Stoff kennt, der in der Klausur geprüft wird. Andererseits steht das auch alles in den Büchern, die sie am Anfang empfohlen hat.“
Erik konnte sich den sarkastischen Einwand nicht verkneifen und selbst Flo, der sich zur Hälfte aller Vorlesungen selbst hatte zwingen müssen, unterdrückte ein Kichern.
„Ja aber das waren voll viele Bücher! Die kann man doch überhaupt nicht alle lesen. Das ist schon irgendwie echt unfair.“
Tina hatte den Sarkasmus meisterhaft übersehen. Erik rollte mit den Augen. Er hätte erwartet, dass sie sauer auf ihn wäre und ihm die kalte Schulter zeigte aber selbst er hätte einen solchen Kommentar zu deuten gewusst. Tina aber nahm die Aussage wörtlich und ernst. Sie zupfte sich ihren Ausschnitt zurecht, zuckte mit den Schultern und sah in die Runde.
„Wie lief denn die Klausur überhaupt bei euch? Fandet ihr die auch so unfair?“
„Wirklich unfair war sie nicht, nur halt echt schwer. Ich denke schon, dass ich bestanden habe aber für eine besonders gute Note wird es wohl nicht reichen. Vielleicht eine 2,7, vielleicht auch etwas schlechter.“
Erik winkte ab. Jetzt also doch? Eben noch war es doch so unfair gewesen und er hatte angeblich alles falsch. Nach dem kurzen Austausch war es schon alles besser und er traute sich eine gute Note zu? Flo wusste genau, dass Erik seine Noten immer mindestens zwei Stufen schlechter prognostizierte, als er eigentlich erwartete. Erik hoffte also auf eine 2,0 und dafür musste er doch einiges richtig haben. Dafür wirkte Mia noch immer weniger begeistert.
„Es war schon eine faire Klausur, aber die Fragen waren nicht alle sehr schön gestellt. Bei manchen war einfach undeutlich, was sie dort von uns sehen will. Man kann zu viel dazu schreiben. Außerdem hätte ich besser die Gruppe 1 geschrieben, deren Fragen waren besser. Die hatten zum Beispiel diese hier.“
Sie wedelte mit einem Blatt, welches sie aus ihrem Hefter gezogen hatte, vor Tinas Nase herum. Tina, die fast zwei Köpfe kleiner war als Mia, pflückte das Blatt aus der Luft, sah darauf und blickte Mia fassungslos an.
„Seh ich das jetzt richtig? Du regst dich hier auf wie ein Rohrspast, weil du nicht deine Lieblingsfrage hattest?“
„Das heißt Rohrspatz und nicht Spast. Und ja, das ärgert mich jetzt halt!“
„Oh mein Gott!“ Tina verzog ärgerlich das Gesicht und drehte sich demonstrativ Flo zu. Dabei zog sie kaum merklich ihr Top ein Stückchen weiter nach unten, beugte sich einen Hauch vor und legte den Kopf schräg. Ihre Stimme war plötzlich frei von jedem Ärger und einen deutlichen Schlag höher. „Und bei dir? Ist es gut gelaufen?“
Flo zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Och naja, es war wohl nicht so ganz mein Tag. Ich kann es eigentlich besser und wollte jetzt auch nicht zwingend eine schlechtere Note, als es sein muss. Aber wenn du sie sehen willst, ich hab sie dabei.“
Er reichte ihr einige zusammengerollte Blätter, die er in der Hand hielt. Drei Augenpaare starrten völlig entgeistert auf die weiße Rolle. Tina nahm sie ihm ab und blätterte den dünnen Stapel durch. Titelblatt, Aufgabenstellungen, Fragen und Antworten. Die komplette Klausur, an denen sie alle die letzten zwei Stunden gearbeitet hatten. Von den vierundzwanzig Fragen waren ganze vier ausgelassen worden. Tina überflog die Antworten.
„Ja aber, du hast doch fast alles beantwortet und wie es aussieht auch noch richtig. Du hättest doch locker bestanden!“
Mia hatte ihr die Blätter entrissen und eilig überflogen. Nun massierte sie sich mit geschlossenen Augen die Stirn.
„Flo, bist du eigentlich bescheuert? Du kannst das doch nicht einfach einstecken. Wieso hast du die Klausur nicht abgegeben? So kannst du die voll knicken, du musst die neu schreiben!“
„Ja, ich weiß. Aber wie gesagt, ich hätte es besser gekonnt. Mein Schnitt ist schlecht genug, als dass ich die guten Noten brauche. Wenn ich die schon haben kann, dann will ich sie auch.“
„Und was hast du jetzt vor?“ Tina leerte einen guten Teil ihrer Sektflasche in ihren Mund.
„Kristina kommt zu mir, dann gehen wir Pizza essen und später noch ins Kino.“
„Ich nehme an, das bezog sich auf die Klausur.“ Mia rang sichtlich mit sich selbst, um Flo nicht eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Tina starrte nur Flo an, die Flasche noch immer an den Lippen.
„Was soll ich da schon groß vorhaben? Die Nachklausur schreiben natürlich! Die ist in drei Monaten, das werde ich ja wohl auf die Reihe bekommen.“
Tina nickte, nahm noch einen großen Schluck und ging zu ihrer Clique zurück. Auch die drei Freunde nahmen ihre Sachen und bewegten sich in Richtung Ausgang.
„Wenn ich gewusst hätte, dass so etwas möglich ist. Vielleicht hätte ich das auch tun sollen.“ murmelte Mia, als sie Erik in den Regen vor der Türe schob.