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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 125.

Spaziergänge

Das war es gewesen, das Semester. Flo hatte seine letzte Hausarbeit abgegeben und die letzte Klausur geschrieben. Gut gelaufen war es nicht, eher im Gegenteil. Bei vielen Arbeiten wäre er einfach nur zufrieden, wenn sie bestanden waren. Nicht glücklich, aber immerhin zufrieden. So realistisch war er, um einzusehen, dass aus seinen Arbeiten einfach nicht viel herauszuholen war. Das, was ihn dabei am meisten störte, war, dass eine dieser Arbeiten sein Abschluss war.

Mia hatte ihre Bachelorarbeit bereits vor einem Semester eingereicht und war darüber beinahe verzweifelt. Dieses Semester hatten Erik und er dann nachgezogen, und während Erik sich gründlich Mühe gegeben hatte und ein umfangreiches Thema bearbeitet hatte, war es bei ihm selbst eine fast reine Literaturarbeit geworden. Also im Grunde nur eine Hausarbeit von vielen, in etwas ausführlicherer Form. Es war nicht gewesen, was er sich gewünscht hatte, aber es war verfügbar gewesen und für ihn einfach zu bewältigen. Der Weg des geringsten Widerstandes, auf den er nicht stolz war, aber es beendete für ihn ein Kapitel, was eh bereits viel zu lange andauerte.

Und was war nun? Es änderte sich im Grunde nichts. Gemeinsam mit Erik und Mia würde er auch weiterhin in die Vorlesungen gehen. Im letzten Semester hatte er neben den Bachelorkursen bereits einzelne Masterkurse besucht, auch wenn er teilweise nur als Gasthörer zugelassen war. Aber immerhin machte sich ein minimaler Fortschritt bemerkbar.

Er hatte mehr als zwei Jahre länger gebraucht als Mia oder Erik aber nun hatte er seinen ersten Abschluss. Aber sollte sich das echt so anfühlen? Wo blieb der Stolz, das erhabene Gefühl, die Erleichterung oder Befriedigung? Sollte sich das nicht anders anfühlen als eine gewöhnliche Hausarbeit? Wieso war da nur die übliche Frustration? Wieso war da nicht mehr, als dieses ausgelaugte, abgebrannte Gefühl?

Flo nutzte einen freien Tag, um die Umgebung seiner neuen Heimat etwas besser kennenzulernen. Mit lauter Musik auf den Ohren stiefelte er durch die Felder der Umgebung und hing seinen Gedanken nach. Wenn es nur um ihn selbst gegangen wäre, würde es ihn vielleicht nicht stören. Er würde seine Noten ableisten wie früher und das war es dann. Er hatte bereits viel Zeit an der Uni verbracht, bevor Mia und Erik ihn in ihre Lerngruppe integriert hatten und wenn er mit sich selbst ehrlich war, dann war er drauf und dran gewesen, die Uni komplett aufzugeben, als es so weit war. Aber dann war er besser geworden, hatte Motivation bekommen und durchgehalten. Zwischenzeitlich war er sogar ziemlich gut geworden und hatte Spaß an der Sache entwickelt.

Doch besonders das letzte Semester über hatte er bemerkt, wie seine Kräfte, und besonders die Geduld, schwanden. Sein Grund, durchzuhalten, war gewesen, den Abschluss fertig zu schreiben. Das war sein Ziel gewesen. Bis hier hin wollte er durchhalten, koste es, was es wolle. Dafür hatte er bereits zu viel Zeit darein investiert. Aber wieso saß er nun im Master? Was hatte er sich dabei gedacht? Woher sollte er die Nerven dafür noch auftreiben können?

Statt sich einzugestehen, dass er schlicht zu demotiviert und faul gewesen war, sich eine Alternative zu suchen, versuchte er es auf Kristina abzuwälzen. Für sie mühte er sich ab, einen besseren Abschluss zu erringen. Für sie wollte er die höhere Qualifikation, um ihr eher zu genügen. Und wer konnte wissen, was noch alles folgte? Irgendwann würden sie vielleicht eine Familie haben, die es zu versorgen galt. Mit Kristinas Job alleine würde das vermutlich schwer werden. Aber auch wenn es noch ein wenig bis dahin war, so langsam brauchte er wirklich dringend eine Richtung in seinem Leben. Durch den Bachelor hatte er es ohne nennenswerte Spezialisierung geschafft, aber damit war jetzt Schluss. Er brauchte ein festes Ziel! Und ganz viel Kraft, um das zu erreichen.

Mit dieser Erkenntnis fielen die letzten Sonnenstrahlen auf das zarte Grün der Äcker. Flo zog den Kragen von seiner Jacke hoch und fror trotzdem. Auch wenn der Frühling nun da war, sobald die Sonne verschwand, wurde es schnell empfindlich kalt. Wenn er sich jetzt auf den Heimweg machte, würde er immerhin noch gemeinsam mit seiner Freundin dort ankommen. Seine Idee, das Abendessen bis dahin fertig zu haben, kam erst jetzt wieder zurück. Er war zu sehr in seine Gedanken versunken gewesen und hatte den Eindruck, nichts damit gewonnen zu haben. Wenigstens hatte er die Töpfe schon auf dem Herd stehen und musste nur noch kochen. So vorausschauend war er noch gewesen.

Center of the Universe

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 124.

Abgabefristen

Es war einer dieser Tage, an denen Flo sich selbst verfluchte und für seine grenzenlose Faulheit hasste. Dabei war „Tage“ bereits seit acht Stunden gelogen, wie der Blick auf die Uhr unbarmherzig offenbarte. Drei Uhr nachts war bereits vergangen und er saß immer noch am Schreibtisch und versuchte irgendwie sein Semester zu retten. Die Abgabefristen rollten heran und er hatte andere Dinge für wichtiger befunden, als die Arbeiten für die Uni zu schreiben.
Wieso hätte er das auch tun sollen? Seine Wohnung schön wohnlich und gemütlich zu gestalten brachte wenigstens Fortschritte. Hausarbeiten wurden im Idealfall einmal flüchtig gelesen und landeten dann in irgendeiner Schublade, um nie wieder angesehen zu werden. Weniges war so sinnlos, wie Hausarbeiten zu schreiben und abzugeben. Er hatte das Konzept noch nie verstanden und das würde er wohl auch nie. Wenn er ehrlich war, dann wollte er das auch nicht einmal.
Aus der Ferne, irgendwo vor dem Fenster, hallte das Rumpeln eines Güterzuges hinüber. Seine Musik war schon lange aus, er hatte es sogar bemerkt, aber beschlossen, es dabei zu belassen. Es war schon schlimm genug, dass der Stuhl bei jeder Bewegung laut knarzte. Es war wohl sein Glück, dass Kristina so einen tiefen Schlaf hatte, sonst würde er wohl seines Lebens nicht mehr froh werden. Und sie auch nicht.
Gehetzt überflog er Paper und Abstracts, immer auf der Suche nach nur einigen Stichworten, die er, zu halbwegs stimmigen Sätzen verarbeitet, in seine Arbeit einfließen lassen konnte. Das Internet bot im Grunde das gesamte Wissen der Menschheit, lieferte es freihaus an den heimischen Schreibtisch. Nur in dieser Masse das Richtige zu finden war alles andere als leicht. Er erinnerte sich noch an eine Vorlesung vor zwei Semestern, in der das Thema seiner Arbeit in Teilen sogar besprochen wurde. Die spannenden Teile tauchten nur in der zugehörigen Literatur nicht mehr auf. Dafür hatte er eine Dissertation gefunden, welche in einem Nebensatz darauf einging. Ein fünffaches Hoch auf die Suchfunktion für digitale Texte. Die betreffende Arbeit hatte nur einen Schönheitsfehler. Sie war älter als er selbst und damit eine Quelle, die nur sehr ungern gesehen war.
Unter seiner Schädeldecke lief sein inneres Ich Amok. Aus voller Lunge brüllend rannte es von Ohr zu Ohr, sprang gegen die Augen und stampfte in den Nacken. Bilder von grellen Explosionen und spritzende Fetzen einer namenlosen organischen Masse breiteten sich aus. Das Verlangen machte sich breit, den Kopf mit aller Kraft gegen die Betonwand zu schlagen. Von außen war davon nichts zu erkennen und manches Mal fragte Flo sich, ob ihn das nicht dazu qualifizierte, ein sehr sehr gestörter Mensch zu sein. Gesund oder normal konnte das jedenfalls nicht sein.
Inzwischen war es kurz vor vier, ohne, dass er die Zeit bemerkt hätte. Selbst wenn die Erschöpfung seinen Geist verworren machte, er war regelrecht hysterisch aufgekratzt. In nicht einmal zwei Stunden würde Kristina aufwachen und zur Arbeit gehen müssen. Wenn er bis dahin eingeschlafen sein wollte, dann würde er wohl jetzt dringend ins Bett gehen müssen. Er speicherte und lies ansonsten einfach alles offen. Solange der Laptop am Strom hing, war es kein Problem, ihn einfach in den Ruhemodus zu schicken. Dann könnte er auch morgen gleich weiter machen in der Hoffnung, nicht doch noch seinen Kopf an der Wand zerschellen zu lassen.

Schwarzes Moor

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 123.

Blumen

„Schatz, was ist in der Küche passiert?“

Mia hatte bereits mit dem Einwand gerechnet und wusste genau, was Erik meinte. Sie war noch nicht dazu gekommen, wieder alles sauber zu machen. Eigentlich wollte sie das geschafft haben, bevor Erik nach Hause gekommen war. Er war in letzter Zeit so reizbar und Schmutz in seiner Küche würde er nicht nachvollziehen können. Dabei hatte sie doch nur etwas Frühling in die Wohnung holen wollen, aber für so etwas hatte er noch weniger Verständnis. Er mochte es sauber und aufgeräumt und hatte keinen Sinn für Dekoration. Aber dies hier war ihre gemeinsame Wohnung, hier musste auch sie sich wohlfühlen und das würde er akzeptieren müssen.

„Das mach ich nachher noch sauber, ich bin noch nicht ganz fertig. Du bist früher als gedacht. Ist alles okay?“

Sie begrüßte ihn mit einem extra liebevollen Kuss, auch in der Hoffnung, damit die Wogen etwas glätten zu können. Erik sah sich stirnrunzelnd im Wohnzimmer um und fand auch spontan den Grund für die Verschmutzung in der Küche. Bunte Übertöpfe, aus denen die jungen Blüten von Narzissen und Hyazinthen steckten. Ihr schweres Aroma lag nur unterbewusst wahrnehmbar in der Luft. Für Mia war dies seit ihrer frühesten Kindheit ein Geruch, den sie untrennbar mit dem Wort „Frühling“ verknüpft hat. Wenn die Natur aus ihrem tiefen Schlaf erwacht, bunte Blüten auf Bäume, Sträucher und Wiesen zaubert und das Grün endlich wieder satter wird. Wenn man wieder überlegen darf, ob es die schwere Winterjacke sein muss, oder ob es nicht sogar komplett ohne geht. Wenn die Sonne nach dem langen, schattigen Winter, wieder mehr Kraft bekommt und den Duft der Blumen in ihren warmen Winden durch die offenen Fenster trägt.

Für Erik war es der Geruch von Blütenstaub auf der frisch gewaschenen Hose, braunen Flecken von herabgefallen Blütenblättern auf den hellen Sofakissen und faulenden Blütenstängeln. Blumen sollten nicht in der Wohnung stehen, wo sie in Vasen nur Schimmel ansetzen und vergehen. Sie gehörten auf Wiesen, in Wälder oder auch auf Balkone.

Doch ihre Wohnung hatte weder Garten noch Balkon. Er sah ihr in die Augen und sah, was darin passierte. Die Freude über das bessere Wetter. Das Verlangen, in die Sonne zu kommen. Er seufzte innerlich und rang sich etwas Geduld und eine Entscheidung ab. Wenigstens war sie vor vorausschauend gewesen, keine Schnittblumen zu holen, sondern lebendige, mit Wurzeln und Erde. Sie hatten eine Chance zu leben, und wenn alles nichts nützte, könnte man sie immer noch in den Park pflanzen.

„Blumen also. Das erklärt jedenfalls die Erde in der Spüle. Und ja, es ist alles okay. Wir haben nur etwas früher Schluss gemacht mit dem Referat. Krissi musste noch weg, sie hat spontan einen Babysitterjob bekommen. Und weil es auch so fertig geworden ist, dachte ich mir, ich komme doch einfach früher nach Hause.“

„Oh okay, du musst mir auch nicht beim Aufräumen helfen, ich mach das schon. Geht es Krissi denn gut? Sie hatte doch letztens noch so Stress.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte Mia los in die Küche, um sauber zu machen. Erik war sich nicht sicher, ob sie erwartete, dass er ihre Frage in den Raum hinein beantwortete oder mit kam. Er entschied sich dazu, erst einmal Jacke und Schuhe auszuziehen und sich für einen Moment auf dem Sofa niederzulassen. Etwas zögerlich musste er sich dann doch eingestehen, dass die Blumen im Sonnenlicht auf der Fensterbank doch gut aussahen.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 122.

Gedankenfäden

Flo saß in der Bibliothek und spürte, wie seine Motivation dahin bröckelte wie der Asbestputz an der Decke des Gebäudes aus den späten Sechzigern. Eine Zeit, in der so vieles einfacher wirkte. Der Berufswunsch wurde von den Eltern geäußert, die Welt war zwischen Ost und West klar abgegrenzt und die jeweils andere Seite war böse, Asbest war gesundheitlich unbedenklich und Atomkraft war die Lösung aller Energieprobleme der Zukunft.

Das mit den Energieproblemen hatte nicht so recht klappen wollen, aber dafür hatte man nun wenigstens den Asbest zusätzlich, und die radioaktiven Abfälle. Der versprochene erste Weltfrieden war auch immer noch nicht ausgebrochen, dafür aber eine Vielzahl kleinerer Stellvertreterkriege. Die Bundesregierung verurteilte diese Kriege immer schön brav und bewilligte ebenso brav die Belieferung beider Seiten mit Waffen, um den Ausgang zu beschleunigen.

Und in dieser Welt saß er nun und sollte Stellschrauben ausmachen, anhand derer mal die Welt ein bisschen besser und lebenswerter machen konnte. Warum? Er hatte Ideen, viele sogar, aber jede Einzelne brauchte Geld, Idealisten und den Willen, wirklich etwas zu bewegen. Er hätte etwas anderes studieren, vielleicht sogar von Anfang an eine Ausbildung machen sollen. Hätte er nur die Möglichkeit, in die Vergangenheit zu reisen und sein jüngeres Ich vor der Odyssee durch die deutsche Hochschullandschaft zu bewahren. Der einzige Wermutstropfen wäre, dass er unter Umständen Kristina nicht treffen würde, dafür wäre er nun bereits seit mehreren Jahren fertig. Vielleicht auch mit den Nerven, aber das war er sowieso. Immerhin würde er dann einfach in Urlaub fahren können.

„Sieh an, ein Grübelmonster. Woran arbeitest du denn da wieder? Dein Stadtprojekt? Und ich dachte schon, du würdest das irgendwann aufgeben.“

Erik ließ sich am Tisch neben ihm nieder und plumpste schwungvoll auf den Stuhl. Flo brauchte eine Weile, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen, wie so oft. Mit müden Augen sah er zu Erik hinüber und fühlte sich, als habe er seit drei Nächten nicht mehr geschlafen.

„Keine Sorge, ich will gar nicht erst wissen, worüber du wieder nachgedacht hast. Du hast wieder dein Weltschmerzgesicht, und ich habe mit Tina schon genug an der Backe. Die kommt nachher übrigens auch noch, ist im Moment noch bei Marco.“

„Was hat sie denn mit Marco zu schaffen? Der hat doch das Seminar gleich am Anfang abgebrochen.“

„Offenbar sind die jetzt zusammen. Das jedenfalls hat Tina mir erzählt. Charmant, wie sie ist, hat sie es so verpackt, dass er quasi nur ein Tröster ist, weil ich mit Mia zusammen bin.“

„Auf diese Tinderella hat sie sich eingelassen? Man, da muss sie ja echt verzweifelt sein. Wie geht es eigentlich Mia? Ich habe sie jetzt eine Weile nicht mehr gesehen.“

„Och der geht’s gut. Sie überlegt mal wieder, alles hinzuschmeißen, den Master abzubrechen und einfach einen Job zu finden. Ein Glück nur, dass sie es dann nie umsetzt. Und ich glaube, Tinderella sagt man nur zu Frauen, nicht zu den Kerlen dort.“

„Wie sexistisch. Ich finde, es passt zu beiden.“

Flo starrte verträumt vor sich ins Nichts. Jemand stiefelte in dicken Wollsocken und ohne Schuhe an der Buchrückgabe vorbei Richtung Lesesaal. Wenn man nur lange genug hier saß, sah man die verrücktesten Dinge. Letzte Woche war ein Mädchen hier hineingekommen, die nicht nur einen Strickpulli, sondern auch die passende Hose dazu trug. Kunterbunt, handgestrickt und in seinen Augen absolut schrecklich.

Er sah auf die Uhr und bemerkte, dass er erst seit zwei Stunden hier saß. Seit zwei sehr unproduktiven Stunden. Sein Gehirn war nicht glücklich mit der Umgebung, der Situation oder der relativen Mondfeuchte. Wer konnte schon sagen, was es nun wieder hatte? Jedenfalls hatte es nichts Besseres zu tun, als permanent Störsignale quer zu schießen. Kaum hatte er einen halbwegs gesitteten und strukturierten Gedanken zusammenbekommen, schoss etwas Anderes dazu und setzte alles auf Anfang. Flo starrte über seinen Laptop hinweg in den Raum und bemerkte Tina trotzdem erst, als sie direkt vor ihm stand. Erik konnte darüber immer noch nur den Kopf schütteln.

„Hallo Tina, wie läuft‘s? Wie geht’s deinem Freund?“

Soweit hatte Flo Erik zugehört, nun konnte er auch einmal mit Sozialkompetenz glänzen. So dachte er wenigstens.

„Hey Flo, auch lange nicht mehr gesehen. Ganz gut und Ex-Freund.“

Neben ihm setzte Erik seine Trinkflasche etwas härter ab als beabsichtigt.

„Wie? Was ist passiert?“

„Ich habe Schluss gemacht, das ist passiert. Es hätte einfach auch nicht gepasst. Sitzt du schon lange hier? Ich komme bei dem einen Teil hier einfach nicht weiter, da musst du mir helfen. Du kannst besser mit Worten umgehen als ich.“

Flo musste grinsen und wandte sich lieber ab. Natürlich konnte Erik besser schreiben als Tina. Er konnte besser schreiben als die meisten Menschen, die er kannte. Aber andererseits kannte er auch niemanden, der schlechter schreiben konnte als Tina. Da traute er sogar einmal sich selbst mehr zu. Dieser Gedanke flackerte nur ganz leise durch sein Gehirn, doch diesmal gab es keinen Querschläger. Das Grinsen verschwand und Denkerfalten tauchten auf, als er seine Gedanken der letzten Stunde rekapitulierte und ordnete. Das Ergebnis schien ihm ernüchternd depressiv. Was stimmte nicht mit ihm? Er hatte doch überhaupt keinen Grund für so viel Negativität. Das musste sich ändern. Morgen.

Wasserkuppe

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 121.

Nicht Du

„Ich schätze, deine Freundin ist nicht glücklich, dass wir uns treffen?“

„Ich habe Mia nur gesagt, dass ich mich mit Freunden treffe. Dich zähle ich dazu, also ist es nicht gelogen. Außerdem klang es so, als könntest du jemandem zum Reden brauchen. Was ist passiert?“

Tina saß Erik gegenüber im Café am Markt und gab sich betont entspannt und lässig. Ihr Mund lächelte zufrieden, ihre Augen aber machten nicht so ganz mit. So sehr sie auch immer wieder versucht hatte, Leute zu manipulieren, sie hatte es doch nie so wirklich gelernt. Erik hielt eine heiße Tasse Kakao umschlossen und beobachtete sie neugierig. Immerhin hatte sie nachgefragt, ob er Zeit hatte.

„Nichts ist passiert. Wieso soll etwas passiert sein? Darf ich nicht einfach Zeit mit meinen Freunden verbringen wollen?“

„Natürlich darfst du. Solange meine Freundin nicht am Ende einen von uns beiden umbringt.“

„Du kannst sie ja versuchen, mit Marco etwas zu beruhigen. Vielleicht hilft das.“

„Marco? Was hat der denn damit zu tun?“

„Na ich bin mit ihm zusammen, hatte ich dir das nicht erzählt?“

„Bisher nicht. Herzlichen Glückwunsch dann. Seit wann denn?“

Erik war ernsthaft überrascht. Tina und Marco hätte er sich nie als Paar vorstellen können. Dafür waren beide einfach zu verschieden, in allen Belangen.

„Noch nicht so lange. Etwas mehr als ein Monat wird es wohl sein, so genau weiß ich es nicht einmal.“ Tinas Gesichtsausdruck und die gespielte Gleichgültigkeit verrieten mehr, als sie wohl hätte ahnen können. Gleichgültigkeit war ihre ureigene Art, mit Verletzungen umzugehen. Sie versuchte es zu überspielen, herunterzuspielen oder einfach zu ignorieren, aber sie stellte sich dem nie. Jedenfalls nicht so, dass Erik es je mitbekommen hätte. Aber er bekam sehr wohl mit, dass sie geknickt war und es nicht zeigen konnte. Er fragte nach und sie begann zunächst auf ihrer Lippe zu kauen, bis der unangemessen verführerische Lippenstift fast verschwunden war.

„Ich weiß es nicht genau, aber irgendwas ist da. Irgendwas muss da sein. Ich meine, wir sind jetzt zwar noch echt nicht lange zusammen, aber rate mal, wie oft wir uns in der Zeit gesehen haben? Einmal pro Woche für jeweils zwei bis drei Stunden. Er hat so viel zu tun, sagt er. Seine Arbeit, dann muss er hier noch eine Hausarbeit schreiben und hat da seinen Freunden Zeit versprochen und Fitti ist dann auch noch. Und ich bekomme nicht einmal einen Kuss, solange wir nicht ganz privat sind.“

„Klingt nach einer traumhaften Beziehung“

Erik konnte sich ein wenig Sarkasmus nicht verkneifen. Beziehungen waren immer Arbeit und Kompromiss, anders kannte er es nicht. Aber das setzte auf beiden Seiten auch die Bereitschaft voraus, sich zusammenzusetzen und den Kompromiss zu suchen, oder besser noch, zu finden. Er konnte nicht sagen, inwiefern Tina die Bereitschaft zeigte, aber nach allem, was sie erzählte, kam auch von der anderen Seite kein Signal in dieser Richtung. Damit war diese Beziehung zum Scheitern verurteilt. Das wusste er und das wusste auch Tina. Sie schien sich nur nicht wirklich daran zu stören.

„Wieso bist du mit ihm zusammen?“

„Wie meinst du das?“

„Du klingst nicht so, als würde dich das alles wirklich aufregen. Eher so, als wäre es dir etwas gleichgültig. Bist du mit ihm zusammen, weil du ihn liebst, oder weil er halt gerade da war?“

Die Frage schien genau den wunden Punkt getroffen zu haben. Sie war nachdenklich, unangenehm berührt aber nicht einmal wirklich sauer. Eher noch zerknirscht.

„Ich mag ihn natürlich, das ist nicht der Punkt. Aber Liebe geht wohl auch anders. Ich wollte uns halt die Chance geben, aber es fühlt sich einfach komisch an. Nicht richtig. Klar, es ist besser als nichts, aber er ist halt nicht … nun, Du!“

Über ihren Kaffee hinweg zwinkerte sie ihn keck an. Sie versuchte es als albernen Scherz zu verkaufen, aber alles an ihr schrie, dass es ihr Herz gewesen war. Erik bereute unterdessen, dem Treffen zugestimmt zu haben. Sie zwang ihn nur erneut, sie zu verletzen. Die einzige Alternative wäre, sich gegen Mia zu entscheiden. Zwei Jahre hatte er gekämpft und nun hatte sie endlich den Punkt erreicht, wo sie ihm gegenüber ebenfalls kompromissbereit war. Nein, Mia aufgeben war wirklich keine Option.

Steinwand in Steinwand

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 120.

Prüfungserlebnisse

Da war es wieder so weit. Die Klausurphase war angelaufen und Flo war, entgegen aller Vorsätze, mal wieder, wie üblich vorbereitet. „Wie üblich“ hieß dabei, dass er wieder einmal große Pläne gehabt hatte, das Semester über fleißig zu sein, und nun doch wieder alles in der letzten Woche vor der Prüfung durch zu hasten und entsprechend miserabel vorbereitet zu sein.

Bisher hatte es Semester gegeben, da hatte Mia ihn und Erik zuverlässig mit durchgezogen, sie dazu gezwungen, sich hinzusetzen und fleißig zu sein. Aber dieses Semester war irgendwie alles anders gewesen. Mia und Erik hatten genug mit sich selbst zu tun gehabt, mit ihrer eigenen Wohnung und der Abschlussarbeit. Er selbst hatte ebenfalls einen Umzug hinter sich, zu seiner Freundin, in die benachbarte Stadt. Da war die Uni irgendwie zu kurz gekommen.

Und nun saß er gemeinsam mit allen anderen in einem Seminarraum, warteten darauf, dass der Prüfer mit den Klausuren kam, und fühlte sich hoffnungslos unvorbereitet. Er hätte sich ja einen Spickzettel geschrieben, wenn er gewusst hätte, worauf er sich vorbereiten sollte. Aber Altklausuren und Beispielaufgaben gab es nicht wirklich, nur die blanke Vorlesung. Mehr nicht.

Aufgeregtes Gemurmel, gedämpfte Unterhaltungen und das Rascheln von Aufzeichnungen für das Kurzzeitgedächtnis. Bulimielernen für Klausuren, die sich eventuell sogar mit Stoff befassten, den man später im Berufsleben einmal gebrauchen könnte. Aber wieso sollte man jetzt mit dem Pokerspiel aufhören?

Die Klausur kam, wurde ausgeteilt und kurz durchgesprochen. Viel zu sagen gab es nicht, der Vorgang war allen geläufig und bekannt. Etwas ungläubig beobachtete Flo allerdings, wie der Prüfer sich unmittelbar nach dem Startsignal demonstrativ hinter seinem Laptop niederließ und sich seinen Mails oder Nachrichten oder irgendetwas widmete, nur nicht seinen Prüflingen. Nun gut, wenn er es für angebracht hielt, so konnte er im Zweifel wenigstens leichter abschreiben.

Als er die Fragen durchblätterte, musste er schlucken. Es waren definitiv nicht die, auf die er gelernt hatte. Gerade mal eine einzige war dabei, die er spontan als eine der gemunkelten Übungsfragen erkannte und beantworten konnte. Alle anderen waren irgendwie … anders. Er blätterte zurück auf Anfang und begann den zweiten Durchlauf, diesmal aufmerksamer und mit eingeschaltetem Gehirn, statt nur dem Kurzzeitgedächtnis.

Was ihm auffiel, war, dass die Fragen zwar durchaus Biss hatten, wenn man aber in der Vorlesung halbwegs aufmerksam gewesen war, erinnerte man sich an etliches. Das Übrige kannte er in weiten Teilen aus anderen Veranstaltungen und etliches sogar aus den Nachrichten oder einer der zahlreichen Dokus, die er so oft nebenher hatte laufen lassen. Es war keine Klausur, auf die er sich gut hatte vorbereiten können und doch schrieb er nun relativ flüssig die Antworten zu den Fragen auf. Keine auswendig gelernten und vorformulierten Antworten, sondern hier frisch kombiniert und in Worte gefasst.

Eine ruhige Arbeitsatmosphäre war nicht gegeben. Ständig stand jemand auf, räumte seine Sachen zusammen und gab seine Klausur ab. Zunächst waren viele weiße Blätter dabei, später auch halb oder ganz ausgefüllte Klausurbögen. Da die Mails wohl inzwischen abgearbeitet waren, widmete sich der Prüfer nun der Korrektur der soeben abgegebenen Prüfungsbögen und trug die Ergebnisse direkt frisch in seine Tabelle im Rechner ein. Der Raum interessierte ihn nach wie vor nicht.

Flo hatte sich noch umgesehen, ob er jemandem helfen könne oder auf einem Blatt ein Stichwort erspähen konnte, was ihm eventuelle Lücken, die er übersehen hatte, füllen konnte. Am Ende hatte er sich aber nicht getraut, all zu dreist zu sein. Eine Erkenntnis hatte er aber dennoch identifiziert und die hatte ihn handfest schockiert. Die Klausur hatte ihm, so seltsam es auch war, Spaß gemacht. Sie war schwer gewesen aber dennoch fair und er hatte das Gefühl, seine Punkte hier auch verdient zu haben. Er musste bereits viel zu lange an der Uni sein, dass es so weit gekommen war. Aber noch war dieser Wahnsinn nicht vorbei.

Herrsching III

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 119.

Die Badezimmerchroniken Teil 11

Erik hatte Mias Wunsch befolgt und sie waren bei seiner Familie geblieben. Fast zwei Wochen lang gab es einen Mix aus Hausarbeiten für die Uni schreiben und Tagestouren in die Umgebung, spazieren gehen oder einzelne Sehenswürdigkeiten besuchen. Vormittags herumärgern mit Programmen, die nicht so funktionierten, wie man es sich wünschte, nachmittags dann hinaufklettern zur alten Burg über der Stadt, und den Sonnenuntergang genießen.

Aber auch wenn Mia es wie Urlaub in vollen Zügen genoss, irgendwann zog es Erik dann doch wieder in seine eigene Wohnung, mit dem eigenen Bett, dem eigenen Schreibtisch und nicht mehr seinem, inzwischen zum Gästezimmer umgeräumten, Jugendzimmer. Der Fall, den er fast für unmöglich gehalten hatte, war eingetreten. Er hatte die gemeinsame Wohnung tatsächlich als sein Zuhause akzeptiert. Es war ihm nicht einmal aufgefallen, bis er jetzt daraus ausgesperrt war.

Und so kam der Freitag, an dem er seine Taschen gepackt hatte, um gemeinsam mit Mia wieder zurückzufahren. Unabhängig davon hatte die Vermieterin am Vorabend noch einmal angerufen, um sich zu erkundigen, ob sie stören würde, wenn sie noch einmal schnell durch wischen würde und sie bedankte sich noch einmal ausschweifend für die unglaubliche Geduld. Es wäre schon wieder so dreckig, aber wenigstens wären die Handwerker so weit durch jetzt, es fehlten nur noch Kleinigkeiten. Fußleisten zum Beispiel und es müsste noch gestrichen werden. Sie wiederholte auch ihr Angebot, Bettwäsche und Tischdecke zu waschen und Erik blieb dabei, es war nett gemeint aber absolut nicht notwendig.

Später am Tag klapperte zunächst die Haustüre und Erik sah sich etwas ängstlich um Hausflur vor der Wohnung um. Er hatte noch das schreckliche Chaos von vor zwei Wochen in Erinnerung, als alles mit Baumaterialien und Dreck voll stand. Die Nachbarn taten ihm immer noch leid, aber es war keine Beschwerden bei ihm angekommen. Man konnte zwar sehen, dass in der Zwischenzeit jemand mit einem feuchten Mopp durchgewischt hatte, dennoch war deutlich eine Vielzahl von staubigen Schuhabdrücken zu erkennen. Es würde seine Zeit brauchen, bis die verschwanden.

In der Wohnung war der Boden zwar ausgelegt worden, trotzdem erwartete er ein sehr ähnliches Bild. Was ihm aber zunächst auffiel, als er die Tür öffnete, war der Blick geradeaus. Anstelle der Klotüre, wie bisher, sah man nun auf eine geschlossene weiße Wand. Halb hinter der Ecke lugte die Badezimmertür hervor, sie war nur lose angelehnt. Kein knirschen unter den Schuhen, als Mia und er in die Wohnung traten. Dafür ein feiner staubiger Schleier, der auf allen Oberflächen lag.

Erik hatte befürchtet, dass zwar der Rohbau jetzt abgeschlossen war, aber das Bad erst noch renoviert werden müsste. Die Fliesen waren das eine, Farbe an den Wänden und der Decke aber etwas anderes. Auch wenn die frisch zugemauerte Türe auch nicht als Rohbau vorlag, sondern sogar tapeziert und weiß gestrichen war, überraschte es ihn, als er ins Bad trat, das Licht einschaltete und es ihm gleich hell in frischem Weiß entgegen strahlte. Die Badewanne war einer geräumigen Dusche gewichen, direkt davor hing ein Heizkörper und alles in allem wirkte der Raum plötzlich viel größer. Er war positiv überrascht und nickte anerkennend.

Mia hatte ihren Rucksack noch in der Küche abgestellt und schob sich nun hinter ihm in den Raum. Ihre Mine zeigte keine Regung und ebenso wenig eine Wertung, als sie sich umsah. Es würde einiges an Umgewöhnung für sie sein, auch wenn sie nicht viel Zeit gehabt hatte, sich an den vorherigen Zustand zu gewöhnen. Mit einem verächtlichen Schnauben wischte sie über die Fliesen und hinterließ dabei eine glitzernde Spur. Auch hier lag eine feine Staubschicht überall. Und selbst wenn alles blinkend sauber gewesen wäre, hätte es ihr vermutlich an Seele für das Badezimmer gefehlt. Wenn sie schon sonst nichts daran aussetzen konnte, das schon. Eine Pflanze wäre vielleicht ideal, nur bei einem fensterlosen Raum nicht überlebensfähig. Vielleicht ja eine aus Plastik.

Inzwischen hatte auch Erik seine Taschen abgeladen. Das Bettzeug war wirklich eingestaubt, sogar schlimmer, als er befürchtet hatte. Soviel zu dem Versprechen der Handwerker, es mit einer Plane abzudecken. Aber darum sollte Mia sich kümmern. Die Waschmaschine stand sogar bereits in ihrer Ecke im Bad. Er selbst war bereits dabei einen Eimer mit warmem Wasser zu füllen und hatte Putzlappen zusammen gesammelt, noch bevor seine Freundin sich fertig umgesehen hatte.

Es dauerte eine gute Stunde, bis alles so weit sauber war, wie er es haben wollte. Und wo er schon dabei war, hatte er gleich mit dem Flur und der Küche weiter gemacht. Die Waschmaschine brummte eifrig vor sich hin und Mia rang mit Staubsauger und Teppichen. Das Bett hatte sie bereits frisch hergerichtet und war stolz auf ihre Dekoration und wie gut sie mit ihrer Lieblingsbettwäsche harmonierte. Jetzt war es an der Zeit, dass sie sich wieder hier wohlfühlen sollte. Unter ihren Bedingungen.

Draußen stürzte die Wintersonne dem Horizont entgegen, drinnen rauschte die Heizung leise aber ergiebig vor sich hin. Die Wohnung war zwar noch immer nicht so sauber, wie Erik es gerne hätte, aber mit diesem Kompromiss konnte er leben. Mia hatte unermüdlich Kisten aus dem Schrank gezogen, auf der Suche nach Mitteln, um allem wieder eine etwas persönlichere Note zu verleihen. Erik musste grinsen, als ihm der Vergleich mit einem Tier kam, was ein neues Revier markieren musste. Selbst das Küchenregal hatte sie neu sortiert und aufgeräumt, auch wenn das keine Woche vorhalten würde. Für den Moment fühlte sie sich trotzdem wohl, er hingegen etwas ausgebrannt. Es war Zeit für etwas Ruhe und Beständigkeit.

Jetzt saß sie in ihrem Sessel und beobachtete ihn mit verträumtem Blick, wie er sich frische Klamotten aus dem Schrank holte und in Richtung Bad stiefelte. Er war staubig genug geworden, als dass es ihm als Vorwand ausreichte, die Dusche einzuweihen. Eine Erinnerung geisterte durch ihren Kopf, eine Idee, die sie einmal hatte und die jäh von einer verstopften Leitung unterbrochen worden war. Sie musste grinsen. Das Plätschern von Wasser erklang durch die geschlossene Türe. Sie stand auf, zog sich den Pulli aus, warf ihn aufs Bett und schlich sich hinter Erik her ins Bad. Sie hatte eine Überraschung nachzuholen und wann wäre ein besserer Zeitpunkt dafür als dieser?

Seeon

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 118.

Frustration

Flo hatte einen der letzten freien Tische in der Bibliothek ergattern können. Sein Zug nach Hause fuhr zurzeit nur einmal die Stunde und da Kristina eh erst spät von der Arbeit kommen würde, gab es nicht Vieles, was ihn davon abhielt, sich nach dem Seminar einfach in die Bibliothek zu setzen und für die anstehenden Klausuren zu lernen. Klausurphasen erkannte man immer besonders gut daran, dass die Arbeitsplätze im Lesesaal besonders umkämpft und belegt waren. Außerdem gab es nur noch wenige Plätze, die reserviert aber unbesetzt waren. Die meisten Leute waren tatsächlich auch anwesend.

Für eine Zeit hatte er sich gut konzentrieren können, hatte im Internet recherchiert, den Blick stur auf dem Bildschirm und Musik auf den Kopfhörern. Es tat gut, etwas abgeschotteter zu sein, denn auf diese Weise wurde er nicht von allem Möglichen abgelenkt. Manches mal fragte er sich, ob seine Sitznachbarn nicht genervt sein müssten, von dem Lärm aus seinen Kopfhörern. Andererseits war es im Lesesaal eh immer dermaßen laut, dass sie sein Hintergrundrauschen überhaupt nicht wahrnehmen konnten.

Und selbstverständlich verfiel er trotzdem alle Nase lang in die Pause, in der er über den Laptop hinweg starrte und, ohne es selbst wirklich zu realisieren, die Leute beobachtete. Das übliche Schaulaufen hatte auch in der Klausurphase nicht nachgelassen. Lediglich der Anteil an ungewaschenen Haaren und Jogginganzügen hatte etwas zugenommen, ebenso die technischen Spielereien als Lernhilfen. Aber nach wie vor waren alle gängigen Typen vertreten.

Eine Weile lang hatte er ein Pärchen beobachtet, welches frisch verliebt nebeneinandersaß und mit allem beschäftigt war, außer mit den Büchern, die vor ihnen ausgebreitet lagen. Es schien sie überhaupt nicht zu stören, dass sie hier vor aller Augen saßen. Sie hielten sich trotzdem kaum zurück, einander zu erkunden.

Ein leicht pummeliges Mädchen mit strenger Flechtfrisur stapfte energisch durch den Saal auf einen freien Tisch zu. Ihr Gesicht spiegelte eine mühsam unterdrückte Wut wider, die jederzeit explodieren konnte. Ihre Augen hingegen zeigten eher Frust und Enttäuschung. Mit weit ausladender Geste schmiss sie zunächst ihren Laptop, dann eine Büchertüte geräuschvoll auf den Tisch. Flo zuckte bei dem Knall nervös zusammen. Seine Sorge galt zunächst dem Laptop, der eine solche Aktion sehr übel nehmen konnte. Besonders alt konnte seine Besitzerin eigentlich nicht sein, aber wie sie sich nun auf den Stuhl fallen lies und wie ein nasser Sack in sich zusammensank, hätte sie auch der älteste Mensch der Welt sein können.

Diesen Ausdruck kannte Flo nur zu gut. In seinen ersten Jahren als Student hatte er darauf ein Jahresabo gehabt. Da lernte man Wochen, teils auch Monate lang für eine bestimmte Prüfung, und dann kam doch alles anders und das Ergebnis war eine einzige Enttäuschung im besten, nicht einmal bestanden im schlechteren Fall. Und jetzt sah er diesen Gesichtsausdruck hier vor sich, auf einem anderen als seinem eigenen Gesicht, und er verspürte unendlich tiefes Mitleid. Er konnte erahnen, wie es hinter der in Falten gezogenen Stirn aussehen musste. Ähnliche Gesichter konnte man zu dieser Zeit überall in den Hörsaalgebäuden der Uni sehen, doch dieses war das erste Mal, dass er es wirklich wahrnahm.

Das waren sie also, die hoch qualifizierten Fachkräfte von morgen, wie ihnen immer wieder gesagt wurde. Innerlich schon gebrochen, noch bevor sie ihren ersten Arbeitstag hinter sich hatten. Er selbst konnte nicht einmal genau sagen, was genau bei ihm die notwendigen Änderungen waren. Er hatte sein Studienfach gewechselt, mit Mia und Erik eine produktive Lerngruppe gebildet, sich eine „leck-mich-halt-am-Arsch“-haltung zugelegt, trank zu viel Bier und war irgendwie auch älter und ruhiger geworden. Der Abschluss erschien ihm, genau wie damals auch, unproportional bedeutend und aufgeblasen, aber es war ihm einfach egal.

Vielleicht war das der Punkt und nach dem Frust kam der innerliche Tod. Abgestumpft, gleichgültig, ein emotionaler Zombie. Das musste es sein. Nur um sicherzugehen, ob er auch wirklich nichts dabei fühlte, widmete er sich wieder seinem Lernstoff. Am Ende fand er tief in sich sogar so etwas wie Faszination für das Thema. Und das, obwohl es absolut nicht sein Lieblingsthema werden würde. Totale Gleichgültigkeit war es also schon einmal nicht. Vielleicht war er aber auch einfach schon zu lange an der Uni.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 116.

Die Badezimmerchroniken Teil 9

Flo hatte bereits alle seine persönlichen Gegenstände aus seinem Zimmer ausgeräumt. Er war selbst erstaunt gewesen, dass er mit nur einer Fahrt ausgekommen war. Erik und Mia hatten ihm natürlich bereitwillig geholfen. Jeder hatte einen vollen Rucksack und einen Koffer gehabt, dann noch zwei Reisetaschen, die sie zwischen sich aufteilen konnten. Und das war alles, sein kompletter Besitz. Die Möbel gehörten dem Wohnheim und einen Teil der Küchenutensilien hatte Kristina am Wochenende bereits im Auto mitgenommen.

Jetzt saßen Erik und Mia in dem kleinen Wohnheimzimmer und es fühlte sich überhaupt nicht mehr wie das an, in dem sie so viele Stunden mit ihrem Freund verbracht hatten. Einzig zwei leere Bierflaschen unterm Bett wiesen darauf hin, wer hier einmal gewohnt hatte. Der frische Wind, welcher durch das geöffnete Fenster zog, nahm sogar das bisschen Geruch mit sich, welches noch vorhanden hätte sein können.

Es würde nicht für lange sein, hofften sie beide. Das Bett war mit kaum einem Meter für zwei Personen reichlich schmal, selbst wenn sie sich so gerne hatten. Am Wochenende würden sie dann noch einmal weg sein, bei Flo und Kristina in der neuen Wohnung übernachten und dabei helfen, die Wohnung neu zu streichen. Danach war ihnen bereits wieder zugesagt, dass sie in ihre eigene Wohnung zurück konnten. Und solange würden sie eh die meiste Zeit in der Uni verbringen können. Es war nicht so, dass ihnen langweilig werden würde. Erst gegen ende der Woche würde Erik noch einmal den Handwerkern im Weg herumstehen.

Als er an der Wohnung ankam, stand zunächst aber ihm mal etwas im Weg herum. Bereits im Hausflur musste er sich um Eimer voller Sand, große Platten von Dämmmaterial und Zementsäcke herum schlängeln. Der Flur war dreckig wie noch nie und Erik traute sich kaum, durch die weit offenstehende Wohnungstüre zu linsen. Seine Nachbarn taten ihm unwillkürlich entsetzlich leid. Niemand von denen konnte etwas für dieses Chaos. Er fühlte sich schuldig und schlich regelrecht in den Flur. Der Weg zur Küche war durch Gipskartonplatten versperrt und der Weg gerade aus führte auf eine geschlossene Wand zu.

Wo einst die Türe vom Klo war, sah er jetzt auf weiße Leichtbetonsteine, deren Reste noch im ganzen Flur verteilt lagen. Eine dicke Staubschicht hatte sich über alles gelegt und ein flüchtiger Blick ins Schlafzimmer verriet ihm, dass sich dieser Staub auch durch jede Ritze gequetscht hatte. Ganz abgesehen davon, die versprochenen Planen waren nie zum Einsatz gekommen. Alles war ungehindert eingestaubt. Aber die Heizkörper hingen bereits, auch wenn sie noch nicht angeschlossen waren.

Erik erinnerte sich an die Worte des Trockenbauers, als er zur ersten Begehung aufgetaucht war. „Sanierung im bewohnten Zustand? Na solchen Irrsinn hat man auch nicht alle Tage.“ Sein Kollege schien damit kein großes Problem zu haben. Erik fand ihn gerade bei der Mittagspause vor. Auf einem umgedrehten Eimer saß er in dem schummrig beleuchteten Badezimmer, die Flasche Limonade neben sich, Bildzeitung in der Hand und Zigarette im Mund. Wenn schon Dreck dann auch richtig und auf allen Ebenen. Er schluckte kräftig und sah sich um.

Von den ursprünglichen Plänen war nicht mehr viel übrig geblieben und auch der Fortschritt war nicht so weit, wie er es gehofft hatte. Die Gerüste für Spülkasten und Waschbecken standen, die Anschlüsse und Leitungen ragten aus ihren Kanälen und Schächten aber es war noch viel zu erledigen. Er überschlug im Kopf seine eiligen und laienhaften Schätzungen, wie lange Estrich, Verputzen und Fliesen benötigen würden, dann noch der Rest der Installation … die drei Wochen würde es nicht mehr einhalten können. Beinahe hoffte er, dass es wenigstens bei den vier Wochen bleiben würde. Und alles nur, weil eine Leitung verstopft gewesen war. Er raufte sich die Haare, atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Am Ende würde es wenigstens gut aussehen, hoffentlich.

Herrsching IV

Ohne Zusammenhang zum Text, denn mir ist vor geraumer Zeit das Bildmaterial zu Badezimmerbaustellen ausgegangen, was tauglich gewesen wäre. Aber ich hoffe, das Bild gefällt euch trotzdem.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 115.

Die Badezimmerchroniken Teil 8

Da überraschte „Oh“, was Erik am Vortag von den Bauarbeitern mitbekommen hatte, bezog sich auf das, was sie unter den Fliesen im Bad fanden. Es war das rohe Mauerwerk, auf welches, mit Hilfe von gründlich Mörtel, die Fliesen geklebt worden waren. Die Handwerker waren zu dem Entschluss gekommen, die Fliesen von der Wand zu schlagen und alles Weitere dem Putzer zu überlassen. Sie waren für das Leitungsnetz zuständig, nicht für ästhetische Feinheiten und Details.

Beim Abriss hatten sie ganze Arbeit geleistet. Die Wand war restlos verschwunden, ebenso der Fußboden mit Estrich. Selbst der Türrahmen der Toilettentüre war ausgebaut und entsorgt worden. Die Position der Trennwand war nur noch anhand der Tapetenfetzen auf der Rückwand und dem Schlitz in der abgehängten Schilfrohrdecke zu erkennen. Nicht einmal die Rohre an der Wand ließen noch klar erkennen, dass hier einmal ein Badezimmer gewesen war. Durch dicke Löcher in den Ecken konnte man in die angrenzenden Räume gucken. Vor Eriks inneren Augen quollen dicke Staubwolken dort hindurch und verteilten sich in der ganzen Wohnung. Als wären die zugigen Türen noch nicht ausreichend dafür gewesen.

Etwas ratlos sah Erik sich in seiner Wohnung um. Er war mit Mia vorbei gekommen, um den Kühlschrank und das Küchenregal so weit leer zu räumen, dass sie sie umstellen konnten, um Platz zu schaffen, für die neue Heizung. Die Handwerker hatten sie mit engagierter Begeisterung empfangen und ihnen in einer willkommenen Arbeitspause direkt ausführlich Bericht erstattet, was gerade wo getan wurde und was als Nächstes anstand.

Sie würden den Kleiderschrank verrücken müssen, weil die Heizungsrohre dahinter in der Fußleiste untergebracht werden sollten. Dafür müsste der Schrank möglichst leicht sein, aber sie sollten sich keine Sorgen machen. Bett und alles Andere würden sie mit Planen staubdicht abdecken. Die Planen lägen schon im Auto. Erik dachte wieder an die „abgeklebten“ Türen.

Und noch eine andere Türe ging ihm durch den Kopf. Er hatte das Spiegelschränkchen aus dem Bad unter dem Küchentisch wieder gefunden, schön außerhalb des Arbeitsbereichs. Und alles wäre ja auch in bester Ordnung gewesen, wenn nicht die linke Türe fehlen und nirgends zu sehen gewesen wäre. Was für ein ausgesprochen lästiger Umstand. Er hatte zwar das Schränkchen nicht übermäßig gemocht, aber es war immer sehr praktisch gewesen und entsprechend hatte er sich arrangiert. Das würde aber sicher nicht anhalten, wenn die Türe nicht wieder auftauchte.

Unterdessen erklärte ihm der Klempner mit vor Aufregung rotem Kopf zum inzwischen sicher siebten mal, wie die aktuellen Pläne für den Umbau aussahen. Mia warf ihm einen bedeutungsschweren Blick zu und sie beide wussten genau, am Ende würde es eh wieder alles anders sein.

Der einst so zuversichtlich präsentierte Zeitplan von einer Woche war gänzlich über den Haufen geworfen. Es war inzwischen Donnerstag und der Abbruch des alten Bades war noch nicht einmal komplett abgeschlossen. Die Trennwand war zwar raus und die alten Leitungen auch, aber ihre Reste waren noch im Flur verteilt. Dafür waren bereits die ersten Schlitze für kommende Leitungen in den Wänden zu sehen. Und die Rolle Toilettenpapier hing immer noch da, wo sie immer gehangen hatte.

Aber wenigstens würde diese Woche noch ausreichen, um die Abbrucharbeiten vollenden zu können. Nächste Woche würden die Rohre für Wasser und Heizung verlegt, die neue Heizung installiert werde können und eventuell auch bereits die Wände verputzt sein. Zwei Wochen hatten die Klempner noch zu Beginn angesetzt. Zwei Wochen und drei Tage genau genommen. Mia sah sich um und traute sich nicht, eine neue Prognose abzugeben. Erik war etwas mutiger, er hoffte auf drei Wochen. Die Klempner hatten bei ihrem Rederausch in der Pause noch auf ihrem bisherigen Zeitplan bestanden. Wenn Mia jetzt darüber nachdachte, musste sie etwas kichern. Diese Prognosen hatten in letzter Zeit eine recht schwache Trefferquote.

Herrsching III