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Exitus XVIII – Ende

Am achtzehnten Juni bin ich gestorben. Mein Ausweis ist abgelaufen, meine Konten wurden geleert und auf die zugewiesenen Erben verteilt, Mietvertrag und alles damit zusammenhängende wurden beendet. Doch es sollte noch einmal etwa ein Jahr dauern, bis ich auch wirklich tot war. Mein Leben mag nicht spektakulär gewesen sein, in weiten Teilen sogar regelrecht langweilig, doch zum Ende hin wurde es noch einmal richtig spannend. Ich muss gestehen, auch wenn es mich selbst erschreckt hat, ich hatte meinen Spaß daran und am Ende ging ich mit einem Lächeln auf den Lippen. Wir hatten gewonnen. Es war ein ungleicher Kampf in einem Spiel, dessen Regeln uns niemand erklärt hatte, und doch hatten wir gesiegt. Was hätte ich denn hiernach noch erreichen wollen?

Ich erfuhr nicht mehr, dass die Anderen es geschafft hatten, die Grenze zu erreichen. Nur wenige Meter auf dem Territorium der Longinius Inseln, und sie waren von Grenzern aufgegriffen worden. Niemand hatte damit gerechnet, doch Mimir kannte die entsprechenden Namen, um ohne weitere Fragen direkt an hohe Stellen weitergeleitet zu werden. Jay hatte die Chance direkt genutzt, um dem Geheimdienst der Longinius Inseln die Flugblätter und die entsprechenden Hintergrundinformationen zukommen zu lassen. Ein wenig Glück und der richtige Name, und die Radiostationen von Olimpia verloren die Kontrolle über ihr Programm.

Ich erfuhr auch nicht mehr, dass unser Laster wenige Minuten später am Krankenhaus hielt. Die Polizei war dermaßen unvorbereitet getroffen worden, dass sie uns wertvolle Minuten Vorsprung schenkten. Auch wenn nur noch mein Tod festgestellt werden konnte, die Anderen schafften noch am gleichen Morgen den Weg über die Grenze, wo sie bereits von Mimir und Jay erwartet wurden. Hattie, Selime und Lukas fanden sie später in einem Hotelzimmer, wo sie völlig erschöpft aber immerhin frisch geduscht eingeschlafen waren.

Aber die Versteckmöglichkeit für meine Freunde war damit fort. Sie waren nicht länger tot, keine Geister im System mehr. Sie erhielten alle wieder Ausweise und offizielle Lizenzen. Lena und Lukas konnten Positionen an der Universität ergattern, Jay eröffnete wieder eine Bar, Tom schaffte es tatsächlich, in sein geliebtes Schattendasein zu verschwinden. Die örtlichen Behörden griffen gerne auf ihn als verdeckten Ermittler im Untergrund zurück. Mimir verschwand irgendwann komplett, tauchte nur dann und wann wieder auf, meldete sich auf der Durchreise. Selime, Hattie, Marten und Marja bezogen gemeinsam ein kleines Landhaus und führten ein unauffälliges, gewöhnliches Leben. Nach fünf Jahren stellten sie erst fest, dass auch Marten bereits seit fast einem Jahr hätte verstorben sein sollen.

Olimpia wurde nach meinem Exitus drei Tage lang von Aufständen gebeutelt. Die Reporter hatten im Chaos ihren Weg in die Polizeistation gefunden, hatten vom Tod Gunter Wyzims erfahren, und die Leute hatten ihre Schlüsse gezogen. Als dann noch ein nicht näher benannter Orakelwächter sensible Akten aus Abteilung 42 an die Nachrichten weiter gab, waren alle Zweifel ausgeräumt. Erst, als das Orakel die Abteilung mit sofortiger Wirkung schloss, die Orakelwache mit einer umfangreichen Untersuchung der Fälle beauftragte und Kompensationen versprach, beruhigte sich die Lage wieder.

Doch auch wenn das Orakel seine Macht festigen und ausbauen konnte, indem es der Wache weitere Freiheiten in ihren Methoden und Berechtigungen verlieh und sie gleichzeitig enger an sich band, es war kein reiner Gewinn. Die reine Möglichkeit, dass ein geliebter Mensch nicht mit seinem festgesetzten Datum gehen würde, machte vielen Mut. Ebenso rief es aber auch viel Neid hervor und die Wunden, welche die wenigen Wochen des Misstrauens gegen die Untoten in die Gesellschaft gerissen hatte, waren tief und sie heilten langsam. Das Wort des Orakels war nicht länger unangezweifeltes Gesetz.

Dreißig Jahre später sollten Lena und Jay noch einmal eine Reise nach Olimpia antreten und eine tief veränderte Stadt antreffen. Zwar voller herzensguter, aber sehr schweigsamer und skeptischer Menschen. Nur mit Mühe fanden sie einen neuen moralischen Kompass zwischen dem Orakel und einer Vielzahl von Herausforderern, die jeder eigene Interessen durchsetzen wollten. Doch sie lernten auch, sich über die kleinen Dinge im Leben zu freuen. Die Stadt mochte vorsichtig geworden sein, doch an Farbenpracht hatte sie nichts verloren.

Das war also mein Vermächtnis. Ein Mensch starb nicht zum vorherbestimmten Zeitpunkt und sein tatsächlicher Tod war der Startschuss in eine neue Ära. Und dabei war mir immer nur ein friedliches Leben für alle Menschen gleichermaßen wichtig gewesen.

Das war meine nicht mehr ganz so kurze Kurzgeschichte zu Jettes Schreib mit mir Teil 21! Ich hoffe, es wird mir nachgesehen, dass ich es nicht mehr bei jedem Beitrag explizit dazu geschrieben habe. Wer von Anfang an dabei ist, der weiß das ja sowieso und so ergibt die Geschichte auch am meisten Sinn. Ich hoffe, sie hatte nicht zu viele Längen oder Lücken und hat Euch gut unterhalten können.

Es ist jedenfalls sehr sehr viel größer geworden, als ursprünglich angedacht gewesen ist aber es hat auf jeden Fall sehr viel Spaß gemacht, zu schreiben. Ein für mich sehr ungewohnter Stil, ein neues, mir selbst recht unbekanntes Setting und eine immer weiter wachsende Welt. Es war eine schöne Herausforderung und eine Übung, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Hier und da mag es mir ein wenig entglitten sein.

(Für die Zahlenfetischisten: Es sind 23.704 Worte geworden, bestehend aus 150.049 Zeichen, welche in meinem LibreOffice 38 Seiten beschlagnahmen. Für ein spontanes, ungeplantes Nebenprojekt und auch für meine Verhältnisse generell recht umfangreich. Ich bin selbst ziemlich verblüfft.)

Wie hat euch die Geschichte denn gefallen? War sie zu lang oder hätte ich die Welt besser ausarbeiten sollen? Gab es Längen oder habt ihr euch voller Spannung auf den nächsten Beitrag gefreut? Schreib es mir gerne in die Kommentare.

Ich möchte mich herzlich bei allen bedanken, die mich auf dieser Reise begleitet haben und mit freundlichen Kommentaren oder einfach nur einem stummen Lächeln dem Abenteuer gefolgt sind. Besonders lieben Dank natürlich auch noch einmal an Jette / Frau Offenschreiben für das schöne Thema. Bis zum nächsten Mal, gehabt euch wohl 🙂

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Exitus XVII

Es war nicht mehr eine Drohkulisse, mit der Wyzim uns anstarrte, keine Einschüchterung. In seinen Augen loderte blanker, fanatischer Wahnsinn. Das fleckige Gesicht zu einer von Hass verzerrten Fratze verzerrt, deutete er mit seinem Stock auf mich. Nein, nicht mit dem Stock, nur mit dem Knauf davon. Erst jetzt bemerkte ich, dass es eine Pistole war. Gut getarnt und reich verziert, aber dadurch nicht weniger tödlich, und ihre Mündung zeigte mal auf mich, mal auf Tom. Ich war noch nie in der Situation gewesen, dass eine Waffe auf mich gerichtet wurde.

In den Filmen rannten die Leute dann immer hektisch und schreiend durch die Gegend. Hier waren es lediglich die Polizisten und Orakelwachen, die nervös wurden, aber still blieben. Tom wirkte, als wäre es ihm so schrecklich egal, Marten und Marja hatten sich an die Wand des Transporters gedrückt und waren miteinander beschäftigt, Lena konnte nicht sehen, was geschah und ich selbst war so ruhig, dass es mir selbst bereits unheimlich war. Da wurde ich mit der Waffe bedroht und es war mir einfach völlig egal.

„Dann ist da also doch etwas dran, an den Vampirismus Gerüchten. Wir sollen also unsere Lebenszeit auf Kosten Anderer verlängern? Saugen also die Energie von unseren Mitmenschen ab und bringen sie vorzeitig ins Grab?“

Toms Stimme war ruhig, aber die Langeweile war daraus gewichen. Der leise Spott, den man als solchen erkennen mochte, war viel mehr Ausdruck von Wachsamkeit. Wer ihn nicht kannte, dem mochte das entgehen, aber Tom lauerte und war hellwach. Er wusste, dass Wyzim nicht nur als Drohgebärde auf uns zielte. Er wollte abdrücken und suchte nur noch nach einem Grund. Auch wenn er eigentlich lebende Exemplare haben wollte, tot würden wir eine geringere Gefahr für ihn abgeben. Und Forschung war Forschung, wobei die auch nur noch eine hohle Maske war. Dies hier war ein persönlicher Kreuzzug.

„Spottet nur, solange ihr könnt. Bei mir werdet ihr damit keinen Erfolg haben. Ich weiß, was ihr plant, und selbst wenn ich euch jetzt nicht alle zu fassen bekomme, ihr könnt euch nicht ewig verstecken. Die ganze Stadt jagt euch, niemand wird Euresgleichen mehr schützen. Ihr seht also, eure beste Option ist es, euch einfach zu ergeben und mitzukommen. Wir können gemeinsam eine Heilung finden, damit keine weiteren Unschuldigen sterben müssen.“

„Wohin mitkommen? Abteilung 42? Ich dachte, dahin wären wir eh auf dem Weg. Und du hast die Stirn, uns etwas von unschuldigen Leben zu erzählen, während du, im Gegensatz zu uns, mit deinen Terroranschlägen ganze Blocks vernichtet hast.“

Lena hatte dem Gespräch bislang recht abwesend zugehört, doch nun betrachtete sie Tom mit wachsendem Unbehagen. Das hier mochte genau der Grund gewesen sein, auf den Wyzim gehofft hatte.

„Wart ihr das also? Irgendwie bin ich nicht so überzeugt, dass ihr es auch bis in meine Abteilung geschafft hättet. Was für ein Glück, dass wir uns hier noch begegnet sind, wo ihr es anscheinend kaum noch erwarten könnt, dort einzutreffen. Dann fahren wir mal. Herr Wächter, sie beschützen unsere Freunde im Container, ich fahre.“

Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung, die Pistole immer noch unbestimmt in unsere Richtung wedelnd. Die Orakelwache zögerte, zuckte dann unbestimmt mit den Schultern und ging langsam auf die Heckklappe des Transporters zu. Hinter seiner Stirn konnte man es arbeiten sehen. Auch wenn er sich inzwischen als ein Verbündeter gezeigt hatte, diesen Angriff auf seine Kompetenz durfte er eigentlich nicht ungestraft lassen. Er brauchte nur eine Idee, die ihm nicht kommen wollte.

Es war, als würden die wenigen Sekunden wie Stunden vergehen. Wyzim humpelte auf mich zu, bedeutete mir durch das Wedeln mit der Waffe, in den Transporter zu steigen, und wurde sichtlich nervös, weil ich nicht sofort Folge leistete. Wenn ich jetzt in diesen Wagen stieg, würde das nicht nur mein Ende bedeuten, sondern auch das von Tom, Lena, Marja, Marten und des Wächters. Wyzim würde uns foltern, töten und sezieren. Er würde nicht finden, was er suchte. Er würde in keinem von uns das Leben seines Kindes oder seiner Frau finden. Er würde auch nichts finden, was ihm selbst zu ewigem Leben verhalf. Nicht einmal Rache oder Genugtuung konnte er finden. Solange er nicht wusste, welche Fragen er beantworten wollte, wäre unser aller Tod reine Verschwendung. Und der feine Doktor Wyzim war nicht fähig, die richtigen Fragen zu stellen.

Wahrscheinlicher war sogar, dass er auf dem Weg zu Abteilung 42 die Journalisten überfahren würde, welche auf einen Schnappschuss hofften. Und wenn dort draußen wirklich Martens Flugblätter verlesen wurden, dann dürfte das auch den ein oder anderen Neugierigen auf die Straße locken. Ihre Leben würden ihm noch einmal viel weniger wert sein als unsere. Er hatte Wohnblocks und Brücken gesprengt, nur in der vagen Hoffnung, unserer habhaft zu werden. Selbst wenn wir die Vampire waren, für die er uns hielt, ging von ihm die deutlich größere Gefahr aus. Und das hier war die einzige Chance, meinem Leben eine tiefere Bedeutung zu geben.

„Nein.“

Die Pistole zeigte jetzt genau auf meine Brust. Es war nur ein einzelnes, leise gesprochenes Wort gewesen, doch der Effekt war erstaunlich.

„Nein?“

„Nein! Wir werden nicht fahren.“

Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass Tom die Tür des Transporters schloss und dahinter in Deckung ging. Der Wächter blieb vor Verwunderung danebenstehen, sah irritiert umher und schien wieder einmal überfordert. Sein Kollege war wieder aus seinem Laster geklettert und sah ratlos hinüber, die Polizisten trauten sich ebenfalls nicht, einzuschreiten.

In einer fließenden Bewegung drehte ich mich und lief auf Wyzim zu. Vielleicht war es eine schnelle und plötzliche Bewegung, aber mir erschien sie gemächlich und langsam. Ich hörte den Knall, spürte den Einschlag der Kugel in meinem Brustkorb. Vielleicht ließ es mich auch kurz zucken, aber das war es, nur ein leises, dumpfes Pochen. Mit dem nächsten Schritt erreichte ich den Doktor, griff in seinen Arm und bog ihn zurück. Wohl nur noch aus Reflex drückte er ein zweites Mal ab, Unglaube und Entsetzen in den Augen. Sein Ruf hatte versagt, ebenso seine Erscheinung und seine Einschätzung. Und nun verließ die zweite Kugel ihren Lauf, durchschlug seinen Kiefer und verschwand irgendwo in seinem Gehirn.

Aus Unglaube wurde ein Moment blanker Panik, ehe sein Blick stumpf und leer wurde. Sein Körper erschlaffte, wie in Zeitlupe. Seine Hand rutschte aus der Pistole und sank mit dem Rest zu Boden. Ich hatte gewonnen. Wir hatten gewonnen! Wyzim war tot und keine Gefahr mehr für irgendjemanden. Mir war noch immer nicht deutlich, wieso er uns nun eigentlich umbringen wollte, aber das spielte auch keine Rolle mehr. Wir waren wohl nur der letzte Strohhalm gewesen, den er finden konnte, um einen Verantwortlichen am Tode seiner Geliebten zu finden.

Mit einem fröhlichen Siegeslächeln im Gesicht sah ich mich nach den Anderen um. Vier leichenblasse vor Schock starre Gesichter blickten mich aus dem Transporter an. Der Wächter schien im Sturz eingefroren zu sein. Es brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass er auf mich zu stürzte und die träge Masse das Einzige war, was ihn zurückhielt. Und während ich die schwere Pistole noch nachdenklich in der Hand wog, wurde mir bewusst, dass ich bereits seit etlichen Sekunden keinen Herzschlag mehr hatte. Zwei große Hände griffen nach meinen Schultern, im nächsten Moment lag ich bereits auf dem Boden des Transporters, umringt von besorgten Gesichtern.

Wieso? Es gab Grund zur Freude! Sie waren außer Gefahr, oder wenigstens so gut wie. Die Türen waren geschlossen, nur noch die herrlich schummrige Innenbeleuchtung brannte. Wir waren der garantierten Gefangenschaft nebst Folter und Tod entgangen. Ich hatte meine zweite Familie retten können, zum ersten Mal in meinem Leben etwas Heldenhaftes vollbringen können. Mein zufriedenes Lächeln war mehr als angemessen.

Und während ich spürte, wie der Motor anlief, fühlte ich den Nebel, welcher schlussendlich doch in meinen Geist kroch, um für immer zu bleiben. Ich schloss die Augen, atmete aus und es fühlte sich einfach nur noch verdammt gut an.

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Exitus XVI

„Die Hälfte aller Radiosender liest das hier alles schön vor und wenigstens jeder zehnte Netzwerkdrucker spuckt diesen Dreck in Großserie aus. Das ist also der Weg, wie die Polizei unserer schönen Stadt mit Terroristen umgeht? Sie hilft ihnen bei der Verbreitung ihrer Propaganda? Sechs Zimmer und die Helfer, wo sind also die Anderen?“

Lena gähnte demonstrativ und herzhaft, ein ansteckendes und ansonsten völlig gelangweiltes Gähnen. Gunter Wyzim starrte sie ungläubig an und Tom kicherte bei dem Anblick so sehr los, dass er sich auf die Kante der Ladefläche setzen musste. Das brachte Wyzim nur noch mehr aus der Fassung.

„Wisst ihr überhaupt, wo ihr hier seid? Habt ihr eine Ahnung, in was für einer Situation ihr sitzt? Nehmt das gefälligst ernst!“

Tom kratzte sich immer noch kichernd über die Stirn. Er rang sichtlich mit sich, nicht gleich wieder loszuprusten. Während ich mich entsetzlich erschöpft fühlte und auch Marten und Marja nicht mehr sonderlich klar wirkten, war bei Tom davon nichts zu spüren. Er schien hellwach und bei kristallklarem Verstand zu sein.

„Natürlich wissen wir das, wie sollte uns das auch entgehen? Nun spiel dich halt nicht so auf. Dein Gesicht war halt einfach ein Geschenk.“

Dein? So alt und keine Manieren? Seit wann duzen wir uns?“

„Damit hast du doch angefangen, worüber beklagst du dich also? Hättest du übrigens etwas dagegen, ein Radio anzumachen? Du hast mich ganz neugierig gemacht, was dort nun verlesen wird.“

Ich musste mir schwer auf die Zunge beißen und auch Lena hatte vorsichtig die Brauen gehoben. Vielleicht war Tom doch nicht so ganz bei der Sache. Es konnte sich als Fehler erweisen, Doktor Wyzim dermaßen zu reizen. Für den Moment mochte er sich auf einen hochroten Kopf beschränken, doch musste es dabei bleiben? Niemand von uns wusste, wie lang der Hebel wirklich war, an dem Wyzim saß. Wäre sein Kopf ein Ballon gewesen, Toms Worte hätten ihn soeben spektakulär zum Platzen gebracht.

„Und ob ich was dagegen habe!“ Er bemühte sich sichtlich, eine Eindruck heischende volle Stimme zu erzeugen. Doch alles, was in der Garage umher hallte, war nur das Keifen eines garstigen und erschöpften alten Mannes. „Ich dulde keine solchen Respektlosigkeiten in meiner Abteilung! Ihr kooperiert besser freiwillig und sagt mir jetzt, wo ich die Anderen finden kann.“

Tom sah ihn aus müden Augen und genervt an, unterdrückte seinerseits nun ein herzhaftes Gähnen und wandte sich dann auffordernd den beiden Orakelwachen zu. Der ältere von beiden wägte kurz ab, betrachtete die Runde, und gab dann doch eine Antwort.

„Die Verdächtigen haben getrennt voneinander im Verhör zu Protokoll gegeben, die letzte Verdächtige wäre gemeinsam mit dem Barmann in einem Lieferwagen nach Trantor gefahren, um Verwandtschaft zu besuchen.“

„Nach Trantor, in einem Lieferwagen? Und natürlich ist nirgendwo ein Kontrollposten, der feststellt, dass hier gesuchte Terroristen transportiert werden? Wann bitte soll das gewesen sein?“

„Vor etwas über drei Wochen. Die Rückfahrt war für den Tag nach der Razzia vorgesehen. Wir müssen davon ausgehen, dass sie diese Fahrt nie angetreten haben. Es gab noch keine Möglichkeit, sich mit den örtlichen Behörden in Verbindung zu setzen, um eine Suchmeldung weiter zu leiten.“

Wyzim presste die Zähne aufeinander, dass es förmlich krachte. Würde er weiter rot anlaufen, musste er zwangsläufig umfallen.

„Und Sie sehen sich außerstande, den Polizeichef von Trantor aus dem Bett zu klingeln?“

„Selbstverständlich. Wie Sie wissen, sind die politischen Beziehungen zur Zeit etwas angespannt. Außerdem besteht kein Auslieferungsabkommen, also, selbst wenn unsere Verdächtigen dort festgenommen werden sollten, bedeutet das für uns hier rein gar nichts. In dieser Angelegenheit ist etwas mehr Feingefühl von Nöten.“

Für einige Augenblicke war Doktor Wyzim sprachlos. Stumm stand er dort, mit herabgefallener Kinnlade, und starrte den alten Wächter einfach nur an. Das Zucken um seine Augen und die weißen Knöchel, die den Knauf des Stocks kneteten, ließen vermuten, was als Nächstes kommen würde. Ich hätte wetten können, dass er es nicht gewohnt war, dass jemand seine Fragen mit solcher Ehrlichkeit beantwortete und ihm auf diese Weise die Stirn bot. Er hatte erwartet, dass augenblicklich jemand losstürmte, um Kontakt mit Trantor aufzunehmen, statt ihm dermaßen dreist den Gehorsam zu verweigern. Die Polizisten im Hintergrund zogen geschlossen die Köpfe ein, als er Luft holte, doch es war nicht seine Stimme, die erklang.

„Ja ja ja, Gehorsam, Disziplin und du duldest keine Respektlosigkeit in deiner Abteilung. Langweilig, kennen wir schon alles.“ Alle Köpfe flogen herum und starrten Tom an, der genervt auf der Heckklappe saß, die Beine im Schneidersitz untergeschlagen und das Kinn auf die Fäuste gestützt. „Hab hier eine kleine Überraschung für dich. Wenn ich das richtig habe, dann ist das hier das Polizeipräsidium. Und das heißt, es ist nicht Abteilung 42, also nicht deine Abteilung. Solange wir also hier sind, bist du technisch gesehen überhaupt nicht weisungsbefugt, Orakel hin oder her. Wieso also die Mühe, hierher zu kommen und Dinge zu fordern, die großen Schaden anrichten können? Zum Beispiel andere Regierungen aus dem Schlaf zu klingeln. Weiß ja, dass wir toll sind, aber so toll? Hätte das nicht auch bis morgen früh warten können? Wie spät ist es überhaupt?“

Wyzim war dazu übergegangen, nur noch fassungslos nach Luft zu schnappen und vor Zorn zu zittern. Es machte ihn völlig fertig, mit welcher Respektlosigkeit ihm hier begegnet wurde. Nicht genug damit, dass dieser Unhold ihn konsequent weiter mit seinem Duzen verhöhnte. Er wagte es auch noch, ihn hier öffentlich und vor Zeugen zu maßregeln. Ihn, die rechte Hand des Orakels, Doktor Gunter Wyzim. Ihn, der sich von ganz unten hatte hinaufarbeiten müssen. Ihn, der sich seinen Erfolg so hart hatte erkämpfen müssen und mit dem Verlust seines Sohnes und seiner Frau so teuer hatte bezahlen müssen. Und da saß dieses Monster, als wäre es ein langweiliger Vortrag, und spottete ungestraft. Er hatte mit Widerstand gerechnet, mit Anfeindung und wahrscheinlich auch handfesten Angriffen. Auf das hier aber war er nicht vorbereitet und das musste aufhören.

„Ich bin der Arm des Orakels. Ich bin überall weisungsbefugt. Euer Leben gehört mir, das der ganzen Stadt gehört mir. Und jede Minute, die ihr und eure Art frei herumlauft, ist eine Bedrohung, die es auszuschalten gilt. Wir dürfen nicht zulassen, dass ihr den anständigen Bürgern dieser Stadt weiter schadet. Ihr Schutz ist unsere heilige Pflicht, also wo sind die Anderen?“

Es war nicht mehr eine Drohkulisse, mit der Wyzim uns anstarrte, keine Einschüchterung. In seinen Augen loderte blanker, fanatischer Wahnsinn. Das fleckige Gesicht zu einer von Hass verzerrten Fratze verzerrt, deutete er mit seinem Stock auf mich. Nein, nicht mit dem Stock, nur mit dem Knauf davon. Erst jetzt bemerkte ich, dass es eine Pistole war. Gut getarnt und reich verziert, aber dadurch nicht weniger tödlich, und ihre Mündung zeigte mal auf mich, mal auf Tom. Ich war noch nie in der Situation gewesen, dass eine Waffe auf mich gerichtet wurde.

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Exitus XV

Als wir auf den leeren Flur hinausgetreten waren, hörte ich Tom und Lena leise tuscheln.

„Was hat das denn nun wieder zu bedeuten? Oma? Und das lässt du dir bieten?“

„Er ist mein jüngster Enkel. Still jetzt, wir wollen nicht noch mehr riskieren.“

„Du machst mich fertig mit deinen Geheimnissen.“

Nackter Beton, ein Labyrinth aus Gängen aber im groben auch der Weg, den wir gekommen waren. Keine Gesichter, nur vereinzelte Polizeidrohnen, vor und hinter uns jeweils ein Orakelwächter. Auf einmal schienen wir doch wieder recht harmlos zu sein. Aber ich müsste lügen, wenn ich behauptete, es noch bewusst wahrgenommen zu haben. Die Welt schien sich hinter einem wohlig gleichgültigen Schleier zu verstecken, von Müdigkeit schön glatt und faltenfrei gebügelt. Schemen, die sich um mich herum bewegten, genau, wie ich selbst nicht mehr viel mehr war, als ein wandelnder Schatten.

Bei unserer Ankunft war mir die Garage nur wie ein riesengroßer leerer Raum vorgekommen, genau so kalt und kahl wie der Rest des Gebäudes. Jetzt konnte ich erkennen, dass der Raum überhaupt nicht so groß war. Mit den fünf neutralen Ziviltransportern der Polizei war er voll. Es waren nicht solche, wie die, mit denen wir hier hergebracht worden waren oder vorher aus der Stadt hinaus. Das hier waren die Modelle für verdeckte Operationen, an denen nichts von außen darauf hinwies, dass es sich um behördliche Fahrzeuge handelte. Von diesen Lieferwagen waren Hunderte, wenn nicht Tausende auf den Straßen der Stadt unterwegs. Sie waren also ideal, wenn man nicht auffallen wollte und offensichtlich wollten wir das nicht. Vielleicht hatte selbst das Orakel inzwischen Angst vor den Geistern, die es heraufbeschworen hatte.

Zunächst dachte ich, entlang der Wand würden weitere Orakelwächter stehen und warten. Doch alles, was sie wie Wächter erscheinen ließ, waren die dunklen Sonnenbrillen und Oberteile. Bereits die Hosen gehörten wieder zur üblichen Polizeiuniform. Sie mussten als Fahrer für die übrigen Transporter abgestellt worden sein. Sie wirkten unruhig und nervös. Menschliche Polizisten wurden nur in Einzelfällen im Außendienst eingesetzt und das wir ein solcher Ausnahmefall sein sollten, schien ihnen nicht geheuer zu sein.

Der Wächter steuerte zielsicher auf eines der Fahrzeuge zu, während sein Kollege sich ein anderes aussuchte. Ich war davon ausgegangen, dass sich die Polizisten in Bewegung setzten, sobald deutlich war, welche Fahrzeuge noch frei waren. Doch sie rührten sich nicht, blickten sich nur extra nervös um und bemühten sich um eine straffe Haltung. Stumm beobachteten sie, wie Marten und Marja, auf Befehl der beiden Orakelwächter, Lena in den Frachtraum eines der Transporter zogen. Tom half von unten mit, doch die Szene wurde gestört.

Ein schlurfender Gang und das gleichmäßige Pochen eines hölzernen Spazierstocks, auf den sich jemand schwer abstützt, hallte durch die Gänge, kam immer näher. Die Polizisten nahmen unwillkürlich Haltung an und wagten kaum zu atmen. Generell schien das Pochen des Stocks jedes andere Geräusch zu verdrängen. Im Film würde jetzt ganz leise eine bedrohliche Musik eingespielt werden, die maximale Spannung erzeugen sollte. Das war hier nur unserer Fantasie überlassen. Was mir dafür auffiel, war die Unregelmäßigkeit der Schritte. So, als müsse sich die betreffende Person für jeden Schritt sehr bewusst konzentrieren. Und dann kam er um die Ecke und stand vor uns. Doktor Wyzim, mit wutverzerrtem, hochroten Kopf.

Gunter Wyzim war, um ganz ehrlich zu sein, eine Enttäuschung. Der Mann, der mich ein gutes Jahr gejagt hatte, der gleich zwei Terroranschläge inszeniert hatte und die versammelte Polizei von Olimpia auf die Spuren von mir und meinen Freunden gesetzt hatte, war nichts weiter als ein Greis. Ein giftiger alter Mann mit ungepflegtem Haar, schlecht rasiert und in zerknitterter Kleidung. Mir war bewusst, dass auch ich aktuell alles andere als eine beeindruckende Erscheinung war, trotzdem war ich bereits zum zweiten Mal in dieser Nacht enttäuscht und beleidigt, von dem, was mir hier geboten wurde. Schnaubend musterte er uns, während er sich an seinen Stock klammerte, ließ seinen Blick über Lena, Marten und Marja im Transporter gleiten, betrachtete Tom auf der Trittstufe und zuletzt mich. Die beiden Wächter ignorierte er regelrecht zwanghaft.

„Fünf!“ Seine Stimme war matt, rasselte und hatte so überhaupt gar nichts Beeindruckendes an sich. „Mehr habt ihr nicht gefunden? Fünf? Wie viele habt ihr verloren? Wenigstens einer muss es ja gewesen sein, sonst müssten wir uns nicht mit dieser Scheiße hier befassen!“

Mit diesen Worten griff er in seinen fleckigen Kittel, zerrte ein Bündel Papier heraus und schmiss es den Polizisten vor die Füße. Ich erkannte Textsatz und die Anordnung der Bilder eher, als dass ich auch nur ein Wort hätte lesen können. Es waren Martens Flugblätter, für die er so verzweifelt einen Verleger gesucht hatte. Hier waren sie nun, auf dem sauberen blass rosanem Papier der Verwaltungsbehörden gedruckt. Die angesprochenen Menschen hüllten sich in betretenes Schweigen. Ihre straffe Haltung hatte hier und da bereits etwas gelitten, der ein oder andere Kopf hatte sich kaum merklich zwischen seine Schultern zurückgezogen. Sie schienen meine Auffassung nicht zu teilen, dass Wyzims Wutausbruch eine gewisse Komik besaß.

„Die Hälfte aller Radiosender liest das hier alles schön vor und wenigstens jeder zehnte Netzwerkdrucker spuckt diesen Dreck in Großserie aus. Das ist also der Weg, wie die Polizei unserer schönen Stadt mit Terroristen umgeht? Sie hilft ihnen bei der Verbreitung ihrer Propaganda? Sechs Zimmer und die Helfer, wo sind also die Anderen?“

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Exitus XV

„Oma, ich bitte Dich. Ich versuche hier auch nur, meinen Job zu machen. Wem willst du eine solche Geschichte glaubhaft machen? Wir wissen beide, dass Selime ohne Ausweis nicht verreisen kann und Jay riskiert auffällig zu werden, sobald er ein Terminal benutzt. Also könntest Du uns den Gefallen tun und das hier ein wenig ernst nehmen?“

Jetzt war es an Tom, die Kontrolle über seine Gesichtszüge zu verlieren. Er hatte auf Antworten gehofft und unverhofft Respektlosigkeiten präsentiert bekommen. Sein Temperament ging mit ihm durch.

„Oma? Wir sind vielleicht in keiner Position, wo wir großartig fordern können aber auch Orakelwachen sind nicht unverwundbar, wenn sie sich nicht benehmen können …“

Er setzte zu einer ausgedehnten Wuttirade an, doch Lena griff zielsicher nach seiner Schulter und nahm ihn an die Hand. Sie schien den Wächter genau anzusehen, ihn mit ihren blinden Augen zu fixieren. Es war nicht das erste Mal, dass ich daran zweifelte, ob sie wirklich so völlig blind war.

„Lass gut sein, Tom. Das ist schon in Ordnung.“ Sie wandte sich wieder an den Wächter. „Tut mir leid, Bubi, aber ich kann Dir nicht sagen, wo sie sind. Mit einem Lieferwagen kann man übrigens auch ohne Ausweis fahren, solange man nicht kontrolliert wird. Aber erwartest du wirklich, dass ich Dir verrate, wo meine Freunde hin sind? Hier, in diesem Gebäude? Du hast uns zwar erzählt, dass Doktor Wyzim uns jagt aber wir wissen weder wieso, noch wo er im Augenblick ist. Ich wäre also um einen Plan recht dankbar. Wie soll es weitergehen?“

Der Wächter lehnte sich an die Tischkante und sah nachdenklich aus. Offenbar war es auch für ihn alles ein Rätsel oder Puzzlespiel. Und als er zu einer Antwort ansetzte, kam sie ihm zwar etwas zögerlich aber sehr ehrlich und ruhig über die Lippen.

„Nach allem, was man so hört, zeigt Wyzim in letzter Zeit gewisse Obsessionen. Er hat sich wohl schon länger mit der Thematik befasst, dass nicht jeder Mensch stirbt, wie das Orakel es prophezeit. Aber als dann vor einem Jahr die Entsorger einen Körper nicht finden konnten und er das mitbekommen hat, begann er wohl Gespenster zu sehen. Es mag damit zusammenhängen, dass seine Frau wohl schwer krank ist und sein Sohn vor zwanzig Jahren völlig überraschend gestorben ist. Ich kenne jemanden in Abteilung 42, der von ungewöhnlichen Vorgängen berichtet.“

Er zögerte einen Moment, schien mit sich selbst zu ringen, was er weiter erzählen wollte, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Offensichtlich war es ein empfindliches Thema für ihn, von dem er nicht viel hielt. Lena gönnte ihm seine Pause nicht.

„Ich habe den Verdacht, alles, was in Abteilung 42 geschieht, kann als ungewöhnlicher Vorgang eingestuft werden. Weißt du, was damit genau gemeint ist? Und wieso wir nicht gleich dorthin gebracht wurden?“

„Das Meiste, was in Abteilung 42 vor sich geht, ist tatsächlich sehr unspektakulär. Vielleicht einige etwas unkonventionellere Verhörmethoden oder Versuche, die nicht protokolliert werden sollen. Aber vielfach ist es einfach nur der Ruf der Abteilung, welche die erwünschte Wirkung erzielt. In den wenigsten Fällen werden die Verantwortlichen dort wirklich kreativ. Wenn das der Fall ist, dann besteht auch meistens eine Verbindung zu unserem Doktor Wyzim. Er hat eine erstaunliche Erfolgsquote. Oder eine Erschreckende, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachtet. Aber Untersuchungen zum Thema Vampirismus sind selbst für seine Verhältnisse seltsam.

Vor wenigen Jahren soll er dann erstmals eine Untote in seine Abteilung geholt haben. Eine ältere Dame namens Emma Barfi. Die Entsorger haben sie morgens in ihrer Wohnung vorgefunden, alleine, lebendig und völlig verstört. Sie hatte keine Chance, zu begreifen, was mit ihr geschehen war und Wyzim muss die arme Frau gründlich verstümmelt haben, in seiner Suche nach Antworten. Ihr wisst es alle selbst am Besten: Untote sind nicht unverwundbar oder besitzen etwa übernatürliche Heilkräfte. Was einmal ab ist, das bleibt es auch. Sie sterben lediglich nicht zum prognostizierten Datum, manche auch später nicht. Das einzige Vermächtnis der Emma Barfi war, dass sich Untote anatomisch nicht von Normalsterblichen unterscheiden. Und fast alles, was ich euch hier erzähle, beruht ausschließlich auf Gerüchten, Erzählungen und Vermutungen. Emma Barfis Existenz endet mit ihrem Todestag und nichts Offizielles weist darauf hin, dass danach noch etwas folgte.

Möglicherweise folgten danach noch zwei weitere Untote ihrem Schicksal. Niemand führt darüber Register und es ist einer der Daseinsberechtigungen von Abteilung 42, dass das so bleibt. Selbst das Orakel bekommt nur sehr wenig Schriftliches von dort. Und Wyzim selbst habe ich auch nie kennengelernt. Daher kann ich absolut nicht sagen, was von den Geschichten realistisch ist und was zu den gezielten Fehlinformationen zählt, die gestreut werden, um den Ruf der Einrichtung zu festigen. Ein Hinweis ist vielleicht, dass es den Leuten aus Abteilung 42 selbst unangenehm zu sein scheint, dieses Thema anzusprechen. Mein Bekannter dort hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er es für unehrenhafte Forschung hält. Und Wyzims Motivation scheint persönlicher Natur zu sein. Ein privater Rachefeldzug gegen einen falschen Feind.

Und was euch betrifft, ihr seid nicht von Wyzim oder einer seiner Einheiten ausgegriffen worden, sondern von einer der Orakelwache unterstehenden Antiterroreinheit. Der Einzigen, die wir besitzen, um ganz offen zu sein. Obwohl die uns unterstehen, sind sie als Polizeieinheit registriert und arbeiten hauptsächlich als solche. Es gibt schließlich nur sehr geringe Notwendigkeit für Antiterroreinsätze. Folglich wurdet ihr dann zur ersten Befragung ins Polizeipräsidium gebracht. Da nach euch als Terroristen gefahndet wurde, ist es dennoch unsere Angelegenheit, und wenn mich nicht alles täuscht, wird auch Doktor Wyzim bald vorbei kommen wollen.

Es war wohl reiner Zufall, dass sie euch überhaupt gefunden haben. Den Kommandounterposten habt ihr scheinbar völlig unbemerkt passiert. Es war nur bekannt, dass ihr die Stadt verlassen habt, nicht die Richtung. Daher wurden alle Einheiten extrem weit gestreut, um möglichst viel Fläche abzudecken. Hättet ihr euch einen Tag später zur Abreise entschlossen, wärt ihr entweder in eurem Versteck gefunden worden, oder problemlos durchgekommen. Wahrscheinlicher ist das Zweite. Die Suche war im Abbruch begriffen.“

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Wo blieb der Triumph angesichts unserer Festnahme? Was war mit der Dominanz der Orakelwache? Was war das für eine Befragung, bei der unser Ermittler sich ohne zu Zögern Lenas Autorität unterordnete und uns die internen Details so zwanglos offenlegte? Da stand nun dieser Berg von einem Mann, einen filigranen Teebecher in der Hand, blickte mürrisch auf die Uhr und murmelte ein „damit hättet ihr uns viel Ärger ersparen können“ in den nicht vorhandenen Bart. Ich war nie besonders empathisch gewesen, aber als er nun schwer seufzte, tat er mir ehrlich leid. Es war offensichtlich, dass er sich große Sorgen machte. Wieder war es Lena, die ihn von seiner Uhr losriss. Ihre Stimme hätte hart oder gereizt sein können, aber auch wenn sie fest und bestimmt war, fühlte sie sich dennoch sanft und einfühlsam an.

„Der Plan, Bubi. Gibt es einen?“

„… ja … ja es gibt einen, aber er gefällt mir nicht besonders gut. Viele graue Stellen und Ungewissheiten. Ihr habt uns nicht viel Zeit gelassen, Oma, und du weißt, wie schlecht ich immer im Improvisieren war.“

„Es wäre zu riskant gewesen, dich im Vorfeld zu unterrichten. Wir mussten möglichst totale Funkstille halten.“

„Ich mache dir ja keinen Vorwurf, aber leichter wird es dadurch nicht. Wir werden euch jetzt dann nach Abteilung 42 überstellen. Dafür werden wir euch in einen Transporter und zu den Räumlichkeiten im Keller des Orakelturms fahren. Vor der Türe lauern bereits die Medien, die eine Aufnahme von den Terroristen erhaschen wollen. Um besser vor eventuellen Übergriffen geschützt zu sein, werden einige Täuschfahrzeuge auf anderen Routen unterwegs sein. Eines davon werde ich fahren, mit euch im Laderaum.

Es ist wichtig, dass ihr perfekt mitspielt. Wenn wir auffliegen, sind wir alle im besten Fall Sekunden später erschossen. Viele Leute riskieren sehr viel dafür, ein paar nicht mehr existente Personen zu retten. Bitte seid euch dessen bewusst.“ Er machte eine kurze Pause, sah erneut auf die Uhr und straffte seine Haltung. „Trinkt jetzt aus, wir müssen los.“

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Exitus XIV

Die heiße Flüssigkeit tat gut. Ich hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht, dass meine Kleidung immer noch von Erde verkrustet war. Sandkörner knirschten und kratzten bei jeder Bewegung und verklebten die Fasern des Stoffs, sodass er mich nicht mehr warmhalten konnte. Der duftende, aromatische Tee brachte die Wärme zurück und trieb sie durch Arme und Beine bis hin in die Zehen und Fingerspitzen. Schluck für Schluck, als wäre es flüssiges Leben. Der Wächter hatte es mit den zehn Minuten ernst gemeint, denn direkt nach Ablauf leerte er seine Tasse in einem Schluck und stand auf.

„Dann gehen wir mal hinüber zu den anderen.“

Er winkte mich herüber und hämmerte vier Mal gegen die Türe, die sich augenblicklich öffnete. Der Jungspund wartete bereits mit einem dampfenden Kaffee in der Hand auf dem trostlosen Flur. Er hatte sich die Sonnenbrille aufgesetzt und sein Gesicht in eine starre Maske verwandelt. Keine Regung war darauf erkennbar, als der Alte ihn bat, die Anderen zu uns in den großen Verhörraum zu bringen. Aber er spurte und verschwand hinter der nächsten Ecke.

Der alte Wächter führte mich unterdessen in einen größeren Raum mit einem Tisch, der beinahe etwas von einem Konferenztisch hatte. Etwas gemütlicheres Licht, eine Pflanze in der Ecke und einen Bildschirm am Kopfende, und es hätte durchaus ein brauchbarer Versammlungsraum sein können. In einem der Stühle saß Lena, ließ die Füße baumeln und summte verträumt vor sich hin. Als wir den Raum betraten, spitzte sie zwar neugierig die Ohren, unterbrach ihre Melodie aber für keine Sekunde. Auch nicht, als ich sie begrüßte und auf einem freien Stuhl Platz nahm. Sie nickte nur lächelnd in meine Richtung.

Tom wurde als Erster zu uns gebracht. Seine Haare waren zerzaust, das Gesicht und die Kleidung zerknittert und seine Augen winzig. Es war offensichtlich, dass er geschlafen hatte, und gerade erst wach geworden war. Ich musste kichern und beschrieb Lena aus Gewohnheit die Szene. Selbst der alte Orakelwächter schien amüsiert zu sein, während Tom etwas verlegen die restliche Erde unter seinen Fingernägeln hervor kratzte.

„Was hätte ich denn sonst tun sollen?“, murmelte er entschuldigend. „Ihr Kollege hat beim besten Willen keine sinnvollen Fragen stellen wollen und dieses Weichkoch-Spielchen, was Sie scheinbar so lieben, ist entsetzlich öde. Außerdem waren wir die ganze Nacht unterwegs, da wird man sich doch einmal etwas Ruhe und Schlaf gönnen können.“

Marja und Marten wurden hereingebracht, dann waren wir quasi alleine. Sechs alte Menschen, nur einer davon ein Wächter. Doch unsere Übermacht hätte uns nichts nützen können. Selbst wenn wir ihn überwältigen hätten können, saßen wir im Zentrum des Polizeipräsidiums, mitten in der Stadt. Es bestand überhaupt keine Notwendigkeit, uns besser zu bewachen. Für gesuchte Terroristen, denen angeblich alles zuzutrauen sei, war das aber doch etwas merkwürdig. Tom fand ein vergessenes Getreidekorn, was mit der Erde in seinen Bart gekommen sein musste, und versuchte es zu zerbrechen. Ich konnte ahnen, was in ihm vorging und war nicht überrascht, von seiner Provokation.

„Also, Sie haben uns geweckt. Haben Sie denn wenigstens bessere Fragen, oder darf ich mich wieder schlafen legen? Wie gesagt, Ihr Kollege war nicht sehr geschickt. Ich frage mich, ob ihm überhaupt jemand gesagt hat, weswegen er hier ist.“

„Die Orakelwache ist nicht darüber informiert worden, warum genau Sie hier alle versammelt sind. Wir haben nur die Informationen aus den Nachrichten weitergegeben bekommen, die offiziellen Polizeiberichte. Das Orakel selbst hält sich recht bedeckt, was Ihren Fall angeht, was mir verwunderlich vorkommt. Umso mehr, zumal wir unsere Aufträge ja direkt von dort erhalten. Jemand anderes hat noch seine Finger im Spiel. Ich nehme an, Sie alle kennen den Namen Gunter Wyzim.“

Er erwartete nicht ernsthaft eine Antwort und fuhr ohne Unterbrechung fort. Tom machte spätestens jetzt keine Anstalten mehr, sich schlafen zu legen. Das hier versprach auf einmal, sehr spannend zu werden.

„Ich habe jedenfalls die Vermutung, das Wyzim in die Angelegenheit involviert ist. Er ist in letzter Zeit mit Interessen an Infrastruktur, Sprengstoffen und Chemikalien auffällig geworden, die nicht zum üblichen Repertoire eines Arztes gehören. Außerdem wird der Wache hier etwas verheimlicht und das gefällt mir nicht.

Wir haben im Laufe der Ermittlungen bereits einige Unverstorbene in Gewahrsam nehmen und an Sektor 42 übergeben können. In welcher Beziehung standen Sie zueinander?“

Lena übernahm das Antworten und sie schien den Wächter dabei genau in die Augen zu sehen. Für uns, die wir sie bereits länger kanten war es ein Anblick zum Gruseln, der alle Nackenhaare senkrecht stehen ließ. Ihre Stimme war klar und nüchtern, was sie absolut gespenstisch wirken ließ. Es hätte mich nicht überrascht, wenn diese winzige Person nicht auf dem Tisch gesessen, sondern etliche Zentimeter darüber geschwebt hätte.

„Wir sind alle Untote, wie Sie ja bereits festgestellt haben. Das war es dann auch bereits. Es wird vielleicht eine überraschende Enttäuschung sein, aber es gibt keine geheime Kartei von Untoten. Wir sind uns alle mehr oder weniger zufällig begegnet. Wenn jemand sein Leben lang in der Überzeugung lebt, sein Leben endet an einem bestimmten Tag, aber das tritt nicht ein, dann erkennt man das recht gut.“

„Wie ausgesprochen bedauerlich. Wir haben in Ihrem Versteck sechs eingerichtete Zimmer vorgefunden. Außerdem haben sie bedeutende Unterstützung von dem Barmann aus dem Vorzimmer und dem Restaurant im Erdgeschoss erhalten. Das Restaurant konnten wir sichern. Dennoch müssten hier wenigstens sieben Leute sitzen, ich zähle aber nur fünf. Was möchten Sie mir dazu erzählen?“

Wieder war es Lena, die spontan das Wort ergriff, nur diesmal schwang ein Hauch Ungeduld in ihrer Stimme mit. Das Gespenst schien zu wachsen.

„Der alte Jay hat sich Selime geschnappt und ist mit ihr nach Trantor gefahren, zu ihrer Tochter. Das war noch bevor Sie den Güterzug gesprengt haben, um Ihren Angriff auf uns zu legitimieren.“

In diesem Moment ging so viel im Gesicht des Orakelwächters vor, dass es völlig gleichgültig war, ob er die Sonnenbrille trug oder nicht. Er durchlebte gleich alle Emotionen auf einmal, abwechselnd, vor und zurück. Als wäre er tief beleidigt, stinksauer und gelangweilt zugleich, während er den besten Witz aller Zeiten gehört hatte. Plötzlich wirkte er nicht mehr so sehr wie Mitte fünfzig, sondern eher wie siebzig.

„Oma, ich bitte Dich. Ich versuche hier auch nur, meinen Job zu machen. Wem willst du eine solche Geschichte glaubhaft machen? Wir wissen beide, dass Selime ohne Ausweis nicht verreisen kann und Jay riskiert auffällig zu werden, sobald er ein Terminal benutzt. Also könntest Du uns den Gefallen tun und das hier ein wenig ernst nehmen?“

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Exitus XIII

Der Wächter hatte vor mir Platz genommen und sah mich wortlos mit verschränkten Händen über den Tisch hinüber an. Bis hierhin jedenfalls schon einmal genau das, was man aus den Filmen kannte. Psychoterror und Weichkochen des Gefangenen, bis er von alleine erzählte, was man wissen wollte. Die erste Aufregung und Neugier flaute bereits wieder ab. Dafür machte sich die fehlende Nacht wieder bemerkbar. Ich konnte mir ein Gähnen nicht mehr verkneifen.

Mir schoss das Bild durch den Kopf, wie die Orakelwache die gleiche Taktik bei Lena versuchte. Es war sehr wahrscheinlich, dass die Wächter bisher nie mit einer echten Blinden, ohne Implantate oder ersetzte Augen, zu schaffen gehabt hatten. Die Vorstellung hatte einen völlig absurden Charakter. War es das, was passierte, wenn man zu wenig schlief? Begann man alberne Szenarien zu halluzinieren?

Vielleicht hatte er leise gekichert, vielleicht auch nur eine Grimasse gezogen, aber der Wächter lehnte sich vor, stützte sich auf seine Ellenbogen und brach sein eisernes Schweigen.

„Wir wissen beide, wieso Sie hier sind. Wieso machen Sie es uns nicht einfach, erzählen einfach, was wir wissen wollen, und wir können Feierabend machen.“

„Und ich kann Ihnen auch nicht mehr sagen, als die anderen. Wir wissen nicht, woran es liegt. Vermutlich ist es eine genetische Anomalie aber die Einzigen, die es näher untersucht haben, ist Ihr Doktor Wyzim und ein gewisser Doktor Dach, welcher sich ebenfalls in Ihrem Gewahrsam befindet. Schon seit etlichen Wochen, möchte ich anmerken. Demnach dürften Sie mehr wissen als wir.“

„Wovon bitte reden Sie?“

„Es geht doch darum, dass ich noch lebe, oder nicht?“

Der Wächter nahm seine Sonnenbrille ab und sah mich zum ersten Mal direkt an. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Verwirrung, Irritation, das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Er spielte wieder mit einer Gegenfrage zurück.

„Weswegen wurde denn nach Ihnen gefahndet?“

„Das weiß ich nicht. Niemand konnte mir eine Auskunft darüber geben, aber es muss Ihnen wirklich wichtig gewesen sein, wenn ich mir die Nachrichten der letzten Wochen so vor Augen führe. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie ein paar alte Menschen Ihnen einen solchen Aufwand wert sind. Vielleicht möchten Sie nun ja etwas Licht ins Dunkel bringen.“

Er verfiel wieder in sein klassisches Starren, stumm, stur, undurchdringbar und irgendwie stumpf. Niemand zweifelte daran, dass Orakelwachen bestens trainiert und informiert waren. Sie verfügten über spezielle Ausrüstung, besonderes Training bei Verhörmethoden und verdeckten Operationen. Der Wächter, der mir hier gegenübersaß, schien davon allerdings nichts mitbekommen zu haben. Er trug die Uniform, das war dann auch schon alles. Jedenfalls zeigte er keinerlei Ambitionen, wieder das Wort zu ergreifen sondern versuchte sich in einem Starrduell. Er würde verlieren.

Für eine Weile hing ich in Ruhe meinen Gedanken nach. Die Behauptung, Orakelwachen könnten Gedanken lesen, schien genau so falsch zu sein, wie die Spezialausbildung. Wenigstens dieser Wächter hatte keine dieser Eigenschaften. Vielleicht war es eine Idee, ihn etwas zu reizen.

„Was sind überhaupt Ihre Anweisungen? Was hat Doktor Wyzim ihnen gesagt, wie mit uns zu verfahren sei? Sie handeln doch in seinem Auftrag, oder dem der Regierung, oder etwa nicht?“

„Wir stellen hier die Fragen, sie antworten nur.“ Die Antwort war ein reiner Reflex, einstudiert und kam wie aus der Pistole geschossen. Dann stutzte er, rümpfte die Nase und konnte sich einen Nachsatz nicht mehr verkneifen. „Die Orakelwache untersteht dem Orakel, nicht der Regierung. Das Gesundheitsministerium ist nicht befugt, uns Befehle zu erteilen.“

Was er verschwieg, war, dass das Orakel aber durchaus einzelne Wächter anderen Behörden unterstellen konnte und damit zwar nicht das Ministerium, wohl aber Doktor Wyzim die Befehlsgewalt haben konnte. Oder aber, es gab noch eine weitere Figur im Hintergrund, im Orakel, wahrscheinlich mit Verbindungen zu Wyzim, aber nicht zwingend. Nun war ich doch noch etwas verunsichert, der Schnösel in Uniform durfte davon aber unter keinen Umständen etwas mitbekommen.

Vielleicht hatte ich ein unbewusstes Signal gegeben, was ihn doch über die Unsicherheit informiert hatte, denn er wirkte plötzlich aufmerksamer, straffte seine Haltung und ging wieder zum langweiligen Starrspielchen über. Minutenlang glotzte er mit versteinerter Mine in meine Augen, auf der Suche, nach etwas, was ich ihm nicht geben würde. Ich war inzwischen überzeugt, dass hier ein blutiger Anfänger saß, und fühle mich, um ganz ehrlich zu sein, reichlich beleidigt.

Da saß irgendjemand in der Regierung von Olimpia, einer der mächtigsten Metropolen des Kontinents, und nutzte diese Macht, für eine irrwitzige Verfolgungsjagd. Diese Person „X“ im Hintergrund hatte sich der Polizei bemächtigt, um zunächst nur mich, später auch meine Freunde, zu suchen. Sie hatte über Monate hinweg eine Serie von Terroranschlägen geplant und inszeniert um uns aus dem Versteck zu treiben und dann den vielleicht größten koordinierten Polizeieinsatz in der Geschichte der Stadt durchgeführt. Nur mit fremder Hilfe und in letzter Sekunde hatten wir es aus der Stadt geschafft und hatten noch einmal einige Wochen Vorsprung erhalten. Doch der Person „X“ war es ernst genug gewesen, um in all der Zeit, in der wir uns große Mühe gegeben hatten, unauffällig zu sein, weiter zu suchen und uns zu jagen. Ein solides drei viertel Jahr hatte sie durchgehalten, bis sie Lena, Tom, Marten, Marja und mich endlich erwischt hatten. Wochenlang waren unsere Bilder über die Bildschirme der Stadt gezerrt worden und nun?

Von all den Orakelwächtern, den „Besten der Besten“, wurde mir hier ein blutiger Anfänger hingesetzt. Wie hatte es dieser Grünschnabel überhaupt in die Uniform geschafft? Wer hatte ihn dort hineingesetzt? Es war offensichtlich, dass er das nicht aus eigenem Antrieb heraus geschafft hatte. Das Spiel der versteinerten Gesichter beherrschte selbst ich besser als er, und ich hatte nie irgendein Training in dieser Richtung bekommen.

Als es an der Türe klopfte, reagierte der Wächter zunächst nicht. Erst beim dritten Mal stand er auf und näherte sich dem Ausgang, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich konnte nicht sehen, wer draußen wartete, aber der Wächter schien nicht glücklich. Die Art, wie er drein blickte, verriet mir, dass mein ruhiges Warten nun vorbei sein würde. Und hinter der eisernen Gleichgültigkeit der letzten Stunden schimmerte eine nagende Besorgnis durch.

„Zeit für eine Pause, geh dir etwas zu trinken holen, ich übernehme hier so lange.“

Das Gesicht zu der volltönenden Bassstimme bekam ich erst zu sehen, als der Wächter den Raum verlassen hatte. Glatt rasiert, Millimeter kurze Haare, vielleicht Mitte fünfzig, kräftig trainiert, in abgewetzter Wächteruniform und mit zwei Tassen Tee in der Hand. Er machte keine Anstalten, seine Sonnenbrille abzusetzen, schob mir nur stumm die eine Tasse zu und widmete sich dann seiner eigenen. Etwas an ihm erschien mir vertraut, als hätte ich ihm schon einmal begegnet sein können, aber ich konnte nicht den Finger drauflegen, was es war.

Im Gegensatz zu seinem Kollegen von vorhin strahlte er Autorität aus, eine Ruhe und Gelassenheit, die Vertrauen erzeugte und eine Stärke, die keinen Zweifel daran ließ, dass er mit dem kleinen Finger jeden Gegner entwaffnen könnte. Er versuchte überhaupt nicht erst, ein Starrduell zu initiieren. Er sah nur kurz auf seine Uhr und bedeutete mir dann, meinen Tee zu trinken. „Die zehn Minuten haben wir noch Zeit.“

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Exitus XII

Ich kam auf einer harten Holzbank wieder zu mir. In einer Ecke saßen eng umschlungen Marten und Marja, beide mit einem Gesicht, das pures Elend und Resignation ausdrückte. Tom war mit müden Augen und klammen Fingern beschäftigt, Erde aus Lenas Haaren zu kämmen. Den grauen Kasten, in dem wir uns befanden, kannte ich bereits. Es war einer jener Polizeitransporter, nur dass es diesmal leider ein echter war.

„Wir haben es wenigstens versucht und, wie ich das sehe, haben wir ihnen auch ein gutes Rennen geliefert, für ein paar alte Hunde wie uns.“

Tom hatte bemerkt, dass ich wieder bei Bewusstsein war und mich resigniert umgesehen hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos gewesen war, Lena schätzte jedenfalls, dass wir noch keine zwei Minuten im Transporter waren. Draußen waren die Schritte von Polizeidrohnen zu vernehmen, aber noch machte der Transporter keine Anstalten, abzufahren.

„Wenigstens sind wir wieder alle beisammen.“

Es war ein verzweifelter Griff nach dem Strohhalm, der mich zu solchen Sätzen trieb. Natürlich würde die Kabine abgehört werden, wieso also nicht den Verdacht sähen, wir wären vollzählig? Wenn sie die Anderen bis jetzt noch nicht hatten, dann würde es vielleicht auch dabei bleiben. Für einen Moment dachte ich, sie könnten ja überhaupt nicht wissen, mit wem wir denn überhaupt auf der Reise waren. Dann aber erinnerte ich mich an die Nachrichten, und wie darin unser ehemaliges Heim unterhalb des Restaurants präsentiert wurde. Inklusive aller persönlicher Gegenstände und Fotos. Die Behörden wussten viel zu genau, wer alles zur Gruppe gehörte. Dennoch hatte ich die Hoffnung, wenn ich nicht an sie denken würde, könnten meine Gedanken sie auch nicht verraten.

Marten und Marja hätten vielleicht noch eine Überraschung sein können, aber die Bäume waren ein zu schlechtes Versteck gewesen. Die beiden waren als erstes aufgefallen und festgenommen worden. Da hatten wir noch im Schlamm gelegen und gehofft, der Albtraum möge einfach an uns vorüberziehen. Natürlich hatten sie nichts verraten, aber das mussten sie auch überhaupt nicht. Man wusste auch so sehr gut, wonach man suchte.

Daher wunderte es mich umso mehr, dass sich der Wagen plötzlich doch in Bewegung setzte. Die Drohnen mussten über eine Stunde lang einen scheinbar leeren Acker beobachtet haben, nur um sich jetzt mit der Hälfte der Gruppe zufriedenzugeben? Gingen sie davon aus, dass wir uns aufgeteilt hatten? Hatten sie die Anderen erwischt und nur in einem anderen Transporter untergebracht? Hunderte Fragen schossen mir durch den Kopf, während wir über die unebenen Pisten rollten. Es blieb mehr als genug Zeit zum Nachdenken, oder um sich den Schlamm leidlich vom Körper zu kratzen.

Gefühlt stundenlang schlitterten wir über die schlecht befestigten Feldwege und Landstraßen. Hinter uns klang das Rumpeln weiterer Fahrzeuge. Immer wieder döste ich weg und schlief für kurze Zeit ein. Es war nicht mehr aufregend genug für mich, als dass meine Müdigkeit nicht ihren Tribut zollen wollte. Eine seltsam befriedigende Gleichgültigkeit machte sich in mir breit, wo ich doch eigentlich Angst hätte haben sollen. Angst war jedoch so ziemlich das Letzte, was ich fühlte. Was auch immer es was, es war viel mehr sortiert und friedlich.

Irgendwann wachte ich auf und bemerkte, dass das Fahrzeug ruhig auf einer asphaltierten Straße dahinfuhr. Es hatte uns Stunden, wenn man so wollte, sogar Tage gekostet, weit von der Stadt weg zu kommen. Einen Bruchteil dieser Zeit brauchte es, um diesen ganzen Erfolg zunichtezumachen und wieder direkt vor den Mauern angekommen zu sein. Vermutlich sollte es sich frustrierender anfühlen, als es für mich tatsächlich war. Was mich im Augenblick tatsächlich am meisten störte, war, dass die Bank zu unbequem zum Schlafen war.

Lena und Tom saßen aneinander gelehnt mir gegenüber. Es wäre genug Platz gewesen, als dass auch sie sich hätten ausstrecken können, aber sie hatten sich wohl dagegen entschieden. Lena war ein Mensch, der nicht gerne lag. Zeitweise hatte sie nicht einmal in ihrem Zimmer geschlafen, sondern auf den Sesseln im Wohnzimmer. Dabei hatte sie sogar einen bequemen Ohrensessel in ihrer Kammer stehen gehabt. Doch genauso liebte sie das Kaminfeuer, welches so häufig bei uns gebrannt hatte.

Hier gab es weder Sessel noch Kaminfeuer. Aber es war warm genug gewesen, als dass die Erde in meiner Kleidung getrocknet war. Bei jeder Bewegung knackte und staubte es. Lena und Tom hatten das bereits hinter sich. Ihre Kleidung war nicht sauber, aber die meiste Erde bildete einen ansehnlichen Haufen unterhalb ihrer Bank.

Durch die solide Wand des Transporters drangen die ersten Geräusche der Stadt. Beinahe hätte ich damit gerechnet, dass wir zu irgendeiner zwielichtigen, vielleicht sogar geheimen Anlage außerhalb gebracht werden würden, aber wie es schien, steuerten wir tatsächlich das Polizeipräsidium an, direkt im Zentrum. Waren wir etwa doch nicht völlig vogelfrei?

Genau genommen mochte vogelfrei das genaue Gegenteil von dem gewesen sein, was wir waren. Als die Türen des Transporters sich schlussendlich öffneten, folgten lange kalte Gänge aus nacktem Beton und kleine Räume ohne Fenster oder irgendeine Alblenkung. Nüchterne Edelstahlstühle und -tische, eventuell eine Kamera unter der Decke, Türen aus Stahl, die einem Nashorn in vollem Galopp standgehalten hätten, wenn es denn überhaupt in den engen Flur gepasst hätte. Finstere Gesichter, die uns anstarrten und immer wieder die gleichen Fragen stellten, von denen sie wussten, dass wir sie nicht beantworten konnten.

Von wem hatten wir den Sprengstoff erhalten? Wer waren die Komplizen? Wo waren die Hintermänner? Was war die Motivation? Solche Fragen, Kombinationen oder Abwandlungen davon, vermutlich, um uns mürbe zu machen und uns „den Ernst unserer Lage“ zu verdeutlichen. Es war entsetzlich langweilig und nicht das geringste Bisschen einschüchternd. Vielleicht hatten sie bei Marja oder Marten Erfolg, aber selbst wenn, die beiden waren erst zu uns gestoßen, als eh alles zu spät war. Für die Ermittler waren sie absolut wertlos. Tom konnte zeigen, was wirklich in ihm steckte und Lena konnte so oder so immer noch sagen, sie habe überhaupt nichts gesehen und wisse also von nichts.

Was sie genau gefragt wurden und was sie antworteten, wusste ich nicht. Selbstverständlich wurden wir schließlich getrennt befragt. Ich ging aber davon aus, dass auch sie große Zugeständnisse versprochen bekamen, wenn sie uns andere verrieten. Wieso führten sie diese Scharade überhaupt noch fort? Das war doch überhaupt nicht der Grund, weswegen wir hier waren. Wussten sie das wirklich nicht? War der Polizeiapparat in dieser Stadt wirklich dermaßen inkompetent, dass ihnen das Offensichtlichste entgangen war? Das sollte ich niemals herausbekommen.

Es dauerte eine ganze Weile, und in der Zwischenzeit verloren unsere Beamten reichlich Geduld und Nerven, bis das Klischee an die Tür klopfte und übernahm. Und meine Güte hatte es sich Mühe gegeben, auch wirklich dem Klischee gerecht zu werden.

„Gehen Sie sich einen Kaffee holen, wir übernehmen ab hier. Vielen Dank für ihre Hilfe.“

Die emotionslose Stimme gehörte zu einem ebenso emotionslosen blassen Gesicht, das zum großen Teil von einer geradezu lächerlich großen Sonnenbrille verdeckt war. Schwarze Haare, kurz rasiert und mit reichlich Gel glatt nach hinten gekämmt. Ein hochgeschlossener schwarzer Anzug mit lediglich einem weißen Rand, welcher der Länge nach vom Kragen aus über die Brust hinab führte und die Knopfleiste verdeckte. Keine Kennungen, keine Rangabzeichen, nur ein kurzer Blick auf ein ebenfalls schwarzes Hemd, als er widerwillig einen für mich unsichtbaren Ausweis aus der Innentasche zog, als danach verlangt wurde.

Ich konnte mir nicht vorstellen, was im Gehirn der Orakelwache vorging, als er dem Beamten nachsah, der mürrisch den Raum verließ. Vermutlich war er es nicht einmal gewohnt, sich ausweisen zu müssen. Niemand zweifelte eine Orakelwache an und niemand würde jemals so dreist sein, sich fälschlich als eine solche auszugeben. Sie waren der nicht nur der Arm des Gesetzes, sondern rechte und linke Hand gleich mit. Die persönliche Exekutive des Orakels, Gegenstand von zahlreichen Filmen, Geschichten und auch Legenden. Und sie hatten die Macht. Nicht irgendeine Macht oder die Macht, dieses oder jenes zu tun, nein. Die Macht! Sie hatten sich einzig und allein dem Orakel zu verantworten. Für ihre Aufgaben hatten sie absolut freie Hand.

Und eben diese Orakelwache stand auf einmal hier vor mir im Verhörzimmer. Vor mir, einem Untoten, der vor einem Jahr aus einem völlig unaufgeregten und durchschnittlichen Leben in ein Leben nach dem Tod übergegangen war, das in erster Linie aus Verstecken bestanden hatte. Drei Greise und zwei Mitgefangene waren den Besuch der Orakelwache bei der Polizei wert. Entweder ihnen war schrecklich langweilig oder hier wartete doch noch etwas Interessantes auf uns.

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Exitus XI

Ein leises Zischen veranlasste mich dazu, dennoch die Augen zu öffnen. Ich hatte bereits bemerkt, dass der Boden angefangen hatte zu vibrieren, und das Brummen der Feldmaschine lauter geworden war. Wir waren etwa in ihrer Fahrtrichtung losgegangen, mit etwas Glück würde sie also so an uns vorbei kommen, dass wir uns Jay und Tom anschließen, und in ihrem Schutz zum Feldrand gelangen konnten.

Das leise Zischen stammte von Tom, der hektisch aber unauffällig versuchte, unsere Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich sah ziemlich schnell, was der Grund für seine Aufregung war. Der Feldroboter fuhr nicht in der Richtung, die ich in Erinnerung hatte, sondern direkt auf uns zu. Ich versuchte Mimir zu erspähen und fand ihn mit offenen Augen aber ruhig in seine Ackerfurche gepresst daliegen. Jay sah kurz von einem kleinen Terminal auf, welches er am Roboter gefunden hatte, spähte zwischen den Ketten hindurch, bedeutete uns, ruhig und flach liegen zu bleiben und zog dann auch Tom auf den Boden.

Rote Laserstrahlen der Messraster schossen über das Feld hinweg. Wir waren bemerkt worden. Ob als bestätigtes Signal oder nur als Messinterferenz, das konnte ich nicht sagen. Wieder und wieder krochen die Messungen über das Feld, verharrten mal hier, mal dort länger. Und währenddessen kam der Feldroboter immer näher und näher. Wären wir aufgestanden, wären wir entdeckt worden. Blieben wir liegen, rollte die Maschine über uns hinweg und tat mit uns, was sie nun einmal mit dem Acker tat. Ich wusste es nicht und wollte es auch eigentlich überhaupt nicht herausfinden.

Zwischen das Rumpeln der Ketten und den Geräuschen aus dem Inneren der Maschine mischte sich ein dumpfes, rhythmisches Schlagen. Meine Fantasie malte Bilder von Dolchen und Säbeln, welche die Erde zerschlugen und umwühlten. Mit jedem Schlag wollte ich weniger wissen, was da auf uns zukam, es erschien mir so oder so wie der sichere Tod. Um es heraus zu bekommen, hätte ich den Kopf heben müssen, bis auf die Ebene, wo ich in das Messraster hinein geragt hätte.

Das Sirren einer Drohne zog über uns hinweg, ein aufgeschreckter Hase schoss quer an uns vorbei, ehe er genau wie wir in einer Ackerfurche Deckung suchte. Ich sah ihm mit wachsender Verzweiflung nach und fragte mich, wie um alles in der Welt wir mit einem so kleinen Tier verwechselt werden sollten. Das wäre sicherlich unsere Rettung gewesen, aber wohl so wahrscheinlich wie ein Sonnenaufgang zu Mitternacht. Das Letzte, was ich von Jay sah, war sein beruhigendes Nicken und eine Geste, die unmissverständlich deutlich machte, wir mögen schön flach liegen bleiben. Dann verschwand er im Sichtschatten der Maschine.

Thump, thump, thump…

Das Hämmern der Maschine war inzwischen bei mir angelangt. Es kostete mich allen Mut, die Augen zu öffnen, und mich danach umzusehen. Das Messraster der Polizei konnte den Kettenschutz der Maschine zum Glück nicht durchdringen, sodass wir halbwegs sicher waren.

Thumprr, thumprr, thumprr…

Da war es. Blitzende, spitze Metalllanzen, welche aus dem Bauch der Maschine geschossen kamen, sich tief in den Boden bohrten und dann wieder zurückzogen.

Thumprrrz, thumprrrz, thumprrrz…

An den Spitzen der Lanzen waren kleine Öffnungen zu sehen. Die Art, wie sich der Boden hier bewegte, legte nahe, dass sie irgendetwas in den Boden injizierten. Aber was viel wichtiger war, war für mich, wo sie es taten.

Thumprrrz, thumprrrz, thumprrrz…

Zuverlässig trafen die Lanzen immer den Kamm der aufgeschütteten Erde. Links und rechts von meinen Füßen schlugen sie ein, brachten den Untergrund zum Beben, wanderten dann einen halben Meter weiter hinauf.

Thumprrrz, thumprrrz, thumprrrz…

In der Furche nebenan konnte ich sehen, wie Mimir sich auf den Bauch gedreht hatte. Sein Rücken schien nur noch aus Erde zu bestehen und ragte nur so gerade eben nicht hervor. Aber er brachte mich damit auf eine Idee. Ich suchte die Unterseite der Maschine ab und fand, wonach ich suchte. Ein Träger spannte sich der Breite nach unter dem Roboter entlang. Ich streckte die Hand danach aus und griff zu. Auch wenn ich mich etwas strecken musste, ich erreichte ihn. Das scharfe Metall schnitt sich in meine aufgeweichten Handflächen, kleine Steinchen scheuerten rau, als sich die Spannung aufbaute.

Thumprrrz, thumprrrz, thumprrrz…

Langsam aber stetig zog mich die Feldmaschine nun mit sich mit. Mit der freien Hand hatte ich Lena am Kragen gegriffen und so wurden wir von der Maschine in Richtung Feldrand gezogen. Mimir in der Furche nebenan robbte ebenfalls langsam mit der Maschine mit. Endlos lange Minuten ging das so, während draußen immer noch das Sirren der Drohnen zu hören war und das Flackern ihre Messungen leuchtete.

Thumprrrz, thumprrrz, thumprrrz…

Ich konnte nicht sagen, wie die Anderen es geschafft hatten, dem Suchraster zu entgehen, aber offenbar hatten sie genau das geschafft. Die Dämmerung war bereits in eine nur vom Mond erhellte Dunkelheit übergegangen. Wir ließen uns wieder in die Furchen zurücksinken, als die Maschine sich dem Ende ihrer Bahn genähert hatte. Es war noch kein Grund zur Entwarnung, immerhin hatten wir noch keine Reifengeräusche hören können. Andererseits, die Feldmaschine war reichlich laut, es war gut möglich, dass wir es einfach überhört hatten. Dennoch konnte es sich lohnen, auf Nummer sicher zu gehen.

Es hatte aufgehört zu regnen. Als der Roboter zum Wenden angesetzt hatte, waren Tom und Jay ebenfalls in Mulden verschwunden. Hier lagen wir nun, und niemand traute sich, auch nur zu laut zu atmen. Helle Sterne und ein Halbmond lächelten auf uns herab und ihr kaltes Licht schien uns regelrecht zu verhöhnen. Die schwärzeste Finsternis wäre uns lieber gewesen, als dieser silberne Schimmer. Es hätte uns zwar nichts geholfen, denn Infrarotaugen und Restlichtverstärker funktionierten so oder so noch, aber wir hätten uns wenigstens sicherer fühlen können.

Irgendwo in der Ferne rief eine Eule, kleine Tiere raschelten in den Hecken nur wenige Meter von uns entfernt. Irgendwo dort mussten sich auch die anderen verstecken, zu sehen war aber niemand. War das nun gut oder schlecht? Ich versuchte mir einzureden, dass es gut sei. Der Feldroboter war inzwischen wieder weit weg, Stille hatte sich über uns gelegt. Außer dem entfernten Rumpeln der Maschine war kein künstliches Geräusch zu vernehmen.

Wir lagen schon so lange hier, dass meine Schlammkruste inzwischen getrocknet und rissig war. Das änderte nur nichts daran, dass immer mehr Kälte in meine Knochen kroch und die Gelenke steif machte. Würde ich noch lange liegen bleiben, könnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich beschloss also, das Risiko einzugehen und als Erster in Richtung der Hecken zu kriechen. Nichts deutete noch darauf hin, dass wir beobachtet wurden.

Sehr langsam und sehr vorsichtig robbte ich mich die Furche entlang bis zur Hecke. Die Bewegung war ein regelrechter Segen, aber dennoch wollte ich nichts riskieren. Erst als ich die Hecke erreicht hatte, sah ich mich etwas unschlüssig um. Sollte ich hineinkriechen, und Lärm riskieren, oder doch einfach liegen bleiben?

Tom nahm mir die Entscheidung ab. Er hatte mich beobachtet, so gut er es im dünnen Mondlicht konnte, und die Lage für sicher befunden. Auch er war sichtlich steif gefroren, als er sich aus seinem Versteck erhob, um Lena stützend unter die Arme zu greifen. Strauchelnd und mit unsicheren Schritten kamen sie auf meine Position zu. Ich stand auf, um ihnen zu helfen, doch kaum stand ich, bereute ich meinen Entschluss.

Als hätte jemand glühende Nägel in meine Augen geschlagen, brannte sich schmerzhaft grelles, weißes Licht auf die Netzhaut. Das ganze Feld war eine einzige weiße Fläche, ohne Konturen, ohne Ende und Anfang. Lena und Tom waren lediglich noch als weniger helle Schemen vor dieser weißen Wand zu sehen. Für mein Gehirn war das alles zu viel. Es gab die Kontrolle über meinen entkräfteten Körper auf und alles, was ich noch spürte, war, wie ich fiel, und vor dem Aufschlag gefangen wurde.

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Exitus X

Um uns herum blühten die Felder auf. Der Frühling hatte sich in der Zwischeneiszeit in seiner vollen Schönheit entfaltet und das war auch der einzige Anhaltspunkt für die Zeit, der mir noch verblieben war. Ich hatte irgendwann einfach aufgehört, den Kalender zu beobachten oder Tage zu zählen. Ein Tag war für mich genau so gut wie der andere. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem ich ein Jahr verstorben war. Vielleicht war er auch schon gewesen, ich konnte es nicht sagen und es war mir auch egal. Es war nicht einmal, dass ich lethargisch geworden wäre, sicherlich nicht. Mir war nur einfach die Zeit egal geworden.

Welchen Wert hatte es für mich, zu wissen, ob wir nun seit einer oder seit acht Wochen auf einer alten Farm irgendwo im Nirgendwo vor den Toren der Stadt waren? Klar, irgendwann musste ein Inspekteur kommen, um die Maschinen zu warten. Spätestens dann würden wir auffliegen. Aber wir hatten uns ja eh darauf geeinigt, uns zu den Inseln durchzuschlagen. Ohne, dass wir uns auf einen festen Tag oder Zeitpunkt geeinigt hätten, hatten wir alle am gleichen Tag irgendwann unsere Taschen gepackt und waren bereit zur Abreise.

Es war wenig, was wir besaßen. Gerade einmal so viel, dass wir es problemlos in Rucksäcken oder Taschen verstauen und bequem tragen konnten. Im Grunde genommen war es immer noch dasselbe, mit dem wir auch unser Versteck in der Stadt verlassen hatten. Lena hatte mit Hatties Hilfe eine alte Kommunikationsleitung angezapft und nahm ein letztes mal Kontakt zu ihren Vertrauten in den Behörden auf. Es war ihr wichtig, nicht einfach nur zu verschwinden, sondern sich zu bedanken und ordentlich abzumelden. Nur was sie hörte, begeisterte sie überhaupt nicht.

„Ich nehme an, ihr wollt nach Südwesten, zu den Longinius Inseln? Von hier aus wäre das der logischste Schritt. Aber ich warne euch, seid auf der Hut. Wenn ich schon auf diesen Gedanken komme, dann können das auch die Leute in der Sicherheit und die haben ganz andere Möglichkeiten, die Route zu überwachen.“

So hatte sich nicht nur einer von Lenas alten Freunden geäußert und damit einen Punkt angesprochen, den wir alle schlicht vergessen hatten. Wenn das der logische Schritt war, dann würde die Grenze überwacht sein. Und plötzlich gerieten unser Aufbruch und der ganze Plan gehörig ins Wanken.

Tom kratzte sich in seinem immer länger werdenden Bart und schlug vor, den Polizeitransport zu nutzen, der noch immer im Silo stand. Auf den ersten Blick wirkte das zwar logisch, bereitete mir aber Bauchschmerzen. Und offenbar nicht nur mir, denn Mimir widersprach ihm, da das sehr viel Aufmerksamkeit auf uns lenken würde. Stattdessen schlug er vor, mit den Feldmaschinen zunächst in Richtung Nordwesten zu fahren, und von da aus bis zur Grenze zu laufen. Er hatte die Hoffnung, dass die Route nördlich der Sümpfe schlechter überwacht werden würde.

Man merkte, wie sehr es Tom ärgerte, sich nicht geschickter an der Debatte beteiligen zu können. Er kannte einfach die Gegend nicht gut genug, war selten außerhalb der Stadt gewesen und selbst dann auch immer nur in einer anderen Region. Hier waren wir alle komplett Mimir ausgeliefert, denn er war der Einzige, der sich hier auskannte. Das Einzige, was wir bisher hatten tun können, war, die Feldmaschinen zu beobachten und ihre Routen und Zeitpläne zu notieren. Jedenfalls so weit, wie wir sie von der Farm aus sehen konnten.

Am Ende siegte Mimirs Erfahrung im Gelände. Es war ein herrlicher Tag mit strahlend blauem Himmel, dem süßen Duft der Blumen in der warmen Luft, als wir auf eine der großen Maschinen kletterten, die uns zum Nordrand der Sümpfe bringen sollte. Niemand würde dem Roboter besondere Aufmerksamkeit schenken, sie fuhren schließlich in großer Zahl überall im Umland herum. Es war jedenfalls unendlich unauffälliger als der Polizeitransporter, ob wir nun direkt beobachtet wurden oder nicht.

Hasen nahmen eilig Reißaus, als sich unser Gefährt über die von Kräutern bedeckten Äcker näherte. Auf Vögel wirkten wir hingegen anziehend. Ob nun die Ketten den Boden zerdrückten und Leckereien freilegten, oder ob sie schmackhaftes Saatgut oder sonstige gute Sachen hinter sich zurückließen, für die Tiere war es ein gedeckter Tisch. Wenn zwischen den Hügeln und Hecken ein Roboter unterwegs war, erkannte man dies meist schon an den Vogelschwärmen darüber. Wenn die Ernte eingefahren wird, sind sie meistens noch von der Stadt aus gut zu sehen.

Und auch wenn wir bei traumhaftem Wetter gestartet waren, je länger wir fuhren, umso mehr zog es zu, bis schließlich ein leichter Regen einsetzte. Feldmaschinen besitzen keinen Innenraum für Passagiere. Wieso auch? Wir saßen einfach auf dem unförmigen Rumpf und versuchten, nicht herunterzurutschen. Für Wartungszwecke bot zwar eine Reling Halt, aber sie war nicht für eine Gruppe von zehn Köpfen ausgelegt, die wir zusammenbekamen. Uns blieb nur übrig, uns so gut wie möglich gegen den Regen zu schützen und nicht den Halt auf dem immer glitschiger werdenden Dach zu verlieren.

Links zogen inzwischen die knorrigen, verwachsenen Bäume der Sümpfe an uns vorbei. Gemeinsam mit den finsteren, tief hängenden Wolken bot es einen regelrecht gespenstischen Anblick. Selbst die Vögel hatten sich in ihre Nester zurückgezogen, bis auf einige wenige extra hartnäckige Ausnahmen. Die Silotürme unserer Farm waren bereits vor Stunden hinterm Horizont versunken und damit war jeder Schritt wieder völliges Neuland für uns. Einige Male hatten wir bereits das Gefährt gewechselt, wenn das aktuelle Modell seine Zielfläche erreicht hatte.

Neben der Kälte und der unangenehmen Nässe brachte der Regen auch einen weiteren Nachteil mit. Die Feldwege waren nun nass und keine Staubwolke konnte uns vor etwaigen Fahrzeugen warnen, die sich unplanmäßig näherten. Nicht, dass es uns etwas genützt hätte. Hier draußen hätte es nichts gegeben, wo wir uns rechtzeitig hätten verstecken können. Selbst hinter den Hecken wäre eine Gruppe von zehn Köpfen auf den Wärmebildern der Polizeidrohnen sehr auffällig gewesen. Aber immerhin hätten wir es versuchen können.

Tom hatte noch gejubelt, als sich der Himmel zugezogen hatte. Bei solchem Wetter, so erzählte er, würden die Luftüberwacher der Polizei nicht fliegen. Ihre Augen könnten hier keine brauchbaren Ergebnisse erzielen. Ich war mir allerdings ziemlich sicher, dass diese Wolken für die Radarsensoren nicht den geringsten Widerstand darstellten. Von den Details wusste ich aber auch nicht genug.

Wieder war es Zeit, die Maschine zu wechseln. Wir hatten das Pech, einen gepflügten Acker hierfür erwischt zu haben, würden also durch tiefe, schlammige Gräben klettern müssen, ehe wir eine weitere Maschine erreichten, die uns weiter bringen konnte. Tom stand auf dem Dach und sah sich nach dieser neuen Möglichkeit um, während wir bereits auf dem Weg zum Feldrand waren. Durch seine erhöhte Position konnte er die dunklen Schatten am ehesten entdecken.

Dunkelgraue Kisten, vor dem Hintergrund im Dämmerlicht kaum auszumachen. Die ersten fuhren noch vorbei, gut verdeckt von Bäumen und Sträuchern. Toms scharfe Warnung hatte uns spät erreicht. Lukas hatte sich Selima und Hattie gegriffen und war mit ihnen in die nächste Hecke geflüchtet. Mit etwas Glück konnten sie als einige Rehe interpretiert werden. Marten und Marja hingegen versuchten, sich zwischen einigen Bäumen zu verbergen, die nicht weit von uns gestanden hatten. Jay hatte die Nachhut gebildet und war noch nicht weit gekommen. Er sprintete zurück und ging gemeinsam mit Tom hinter dem Roboter in Deckung. Geduckt spähten sie durch die Ketten hindurch und wirkten extrem angespannt. Mimir und Lena waren beide in keiner Verfassung, dass sie hätten sprinten können. Auch für mich stellte sich das Problem dar, dass sowohl die Maschine als auch die Hecken zu weit entfernt waren. Das würden wir unmöglich schaffen.

Der einzige Schutz, der mir einfiel, lag unter uns. Mimir hatte offenbar den gleichen Gedanken gehabt. Kaum hatte er sich wie wir alle hektisch umgesehen, hatte er sich fallen lassen und war zwischen den Ackerfurchen verschwunden, als habe er nie existiert. Mir blieb nur übrig, Lena bei den Schultern zu greifen und ebenfalls in die Mulden abzutauchen. Es fühlte sich nach einem absolut kümmerlichen Schutz an. Mit dem Mut der Verzweiflung strampelte ich mich tiefer in den Schlamm hinein, wälzte mich, bis ich von oben bis unten von Erde bedeckt war, und versuchte gleichzeitig Lena noch mit Dreck zu bedecken. Vom kiesigen Weg her war zu hören, wie schwere Räder zum Stillstand kamen.

Wenn kleine Kinder verstecken spielen, dann halten sie sich manchmal die Augen zu. „Wenn ich dich nicht sehen kann, dann kannst du mich auch nicht sehen.“ Offenbar ist dieser Instinkt nicht auszurotten. Ich tat nun genau das Gleiche. Tief in den Schlamm gepresst lag ich dort, die Augen fest geschlossen, den Regen im Gesicht, und hoffte.

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