Besuch von Alex
Mal kommt die Bahn, dann mal wieder nicht und viel zu oft mit viel Verspätung. Flo saß seit einer halben Stunde am Bahnhof und wartete. Er ertappte sich dabei, nach Kristina ausschau zu halten, dabei wartete er nicht auf sie, sondern auf Alex. Sie hatten sich nicht treffen können, als er zuletzt bei seinen Eltern zu Besuch war. Das sollte jetzt nachgeholt werden. Nach Möglichkeit zu Semesterbeginn, da dort alles noch am entspanntesten war. Außerdem war Flos Zimmer noch aufgeräumt und sauber. Im Laufe des Semesters würde er vermutlich immer nachlässiger mit Putzen und Aufräumen werden.
Die genuschelte Durchsage in der Bahnhofshalle verkündete soeben das Eintreffen eines InterCities wegen Verspätung auf einem anderen Gleis. Nur leider aus der falschen Richtung kommend, war es nicht der Zug, auf den er wartete. Eine Woge von Menschen ergoss sich durch die Tunnel, dann lagen sie wieder leer und verlassen da, wie die meiste Zeit über. Wie Wellen am Strand brachen die Massen über den Bahnhof herein und zogen sich dann wieder zurück. Mit jeder Bahn eine neue Welle und dazwischen eine kurze Ebbe.
Dann tauchte Alex doch noch auf. Er sah etwas abgekämpft aus aber ansonsten glücklich und ausgeglichen. Kein Vergleich mit dem Alex von vor einem halben Jahr, der in der Bar gesessen hatte und nicht gewusst hatte, was er mit sich selbst anfangen sollte.
„Du siehst gut aus!“ Flo war positiv überrascht. Er hatte gehofft, dass sich sein Freund wieder etwas gefangen hatte, aber mit diesem Ausmaß hatte er nicht gerechnet.
„Dankesehr, du ebenfalls. Hast dich also von dieser Jenny getrennt?“
„Schon vor einer ganzen Weile. Sie hat sich irgendwann einfach nicht mehr gemeldet und ich bin nicht böse darum. Es hat zu viele positive Nebeneffekte. Und wie sieht es bei dir aus?“
Wenn er ehrlich war, dann war er überrascht, dass Alex sich überhaupt daran erinnerte. Er hatte nicht viel mit ihm über Jenny geredet. Damals hatte es Wichtigeres gegeben als seine eigene Beziehung.
„Alles gut bei mir. Es hat sich einiges getan. Ich bin kein Student mehr, zum Beispiel. Ich habe mich nicht mehr zurückgemeldet. Dafür fehlt mir einfach die Zeit, also habe ich abgebrochen. Dafür bin ich jetzt selbstständig als Softwareentwickler.“
„Erinnert mich irgendwie an den Deutschunterricht bei Frau Gumber. ‚Pass auf! Niemand wird dich dafür bezahlen, nur auf einen Bildschirm zu starren.‘ Das war das beste Argument, was ihr eingefallen ist, um uns für den Schimmelreiter zu begeistern. Wie bezeichnend. Was für Software schreibst du denn?“
„Hauptsächlich die Programmierung für Industrieroboter aller Art. Meist für Maschinenbau und die Bauindustrie. Es ist wirklich erstaunlich, was inzwischen alles über Fertigteile gebaut wird und wie viel dabei automatisch läuft. Leider sind die Roboter teilweise echt mies gebaut, aber damit komme ich schon zurecht. Und als Hobby, so nebenher, experimentiere ich mit künstlichen Intelligenzen. Bisher sind die noch nicht besonders gut, egal wo auf der Welt du suchst. Aber wenn die einmal durchstarten, dann kann das das nächste ganz große Ding werden, das sag ich dir. Da ist noch so unendlich viel mehr möglich. Auch mit den Robotern.“
Das klang eher nach seinem alten Freund. Begeisterung in der Stimme und Leidenschaft in den Augen. Alex glühte regelrecht, während sie die Straße entlang gingen. Es tat gut, ihn so glücklich zu sehen. Doch Alex wollte eigentlich etwas anderes los werden, das merkte Flo gleich. Etwas, was ihn sehr aufregte.
„Erinnerst du dich noch an Nadine?“
Natürlich erinnerte er sich noch an sie. Nadine war Alex‘ großer Schwarm gewesen für die meiste Zeit der Schule. Elegant, intelligent und ausnehmend schön anzusehen. Nur ihr Charakter hatte sich nicht so schnell gefestigt und so war sie bei ihrer Partnerwahl immer etwas ungeschickt gewesen. Nach seinem letzten Treffen mit Alex hatte Flo wieder Kontakt mit ihr aufgenommen. Offenbar hatte sie ihre Linie und sich selbst gefunden.
„Sie hat sich jedenfalls vor etwa einem halben Jahr bei mir gemeldet, kurz, nachdem du zu Besuch warst. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und sind seitdem zusammen. Es ist einfach traumhaft! Wenn alles gut geht, dann ziehen wir in einem Monat zusammen.“
Flo konnte ihm natürlich nicht sagen, dass dies für ihn keine Neuigkeit war. Nadine hatte sich seit dem mehrfach bei ihm gemeldet und sich für seine Intervention bedankt. Und Flo hatte ihr das Versprechen abgerungen, darüber Stillschweigen zu bewahren. Am Ende konnte noch der Eindruck entstehen, er wäre nur all zu fürsorglich.
„Job läuft super, Beziehung läuft super und glücklich bist du auch damit. Sieht doch so aus, als hättest du den ganz großen Wurf gelandet. Das freut mich sehr. Besonders, da du bei unserem letzten Treffen ja doch ziemlich am Ende warst.“
„Oh ja! Es ist fast zu gut, um wahr zu sein. Wie läuft es denn bei dir? Was kam nach dieser Jenny?“
„Das letzte Semester lief nicht ganz so gut wie erwartet. Mia ist natürlich mal wieder in allem besser als ich. Dafür habe ich Kristina gefunden. Du wirst sie vielleicht noch kennenlernen. Sie wollte morgen gegen Abend vorbei kommen, aber das steht noch nicht ganz fest. Sie ist jedenfalls seit einigen Monaten mein persönliches Glück.“
„Dann haben wir ja heute Abend wenigstens einen ordentlichen Grund zum Anstoßen. Es geht aufwärts. Und das mit deinem Studium rockst du auch noch, keine Sorge.“
Und wenigstens für die nächsten Tage würde er sich auch keine Sorgen darum machen können. Endlich hatte auch er einmal mit einem Plan Erfolg gehabt.