Archiv für den Monat Oktober 2015

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 56

Besuch von Alex

Mal kommt die Bahn, dann mal wieder nicht und viel zu oft mit viel Verspätung. Flo saß seit einer halben Stunde am Bahnhof und wartete. Er ertappte sich dabei, nach Kristina ausschau zu halten, dabei wartete er nicht auf sie, sondern auf Alex. Sie hatten sich nicht treffen können, als er zuletzt bei seinen Eltern zu Besuch war. Das sollte jetzt nachgeholt werden. Nach Möglichkeit zu Semesterbeginn, da dort alles noch am entspanntesten war. Außerdem war Flos Zimmer noch aufgeräumt und sauber. Im Laufe des Semesters würde er vermutlich immer nachlässiger mit Putzen und Aufräumen werden.

Die genuschelte Durchsage in der Bahnhofshalle verkündete soeben das Eintreffen eines InterCities wegen Verspätung auf einem anderen Gleis. Nur leider aus der falschen Richtung kommend, war es nicht der Zug, auf den er wartete. Eine Woge von Menschen ergoss sich durch die Tunnel, dann lagen sie wieder leer und verlassen da, wie die meiste Zeit über. Wie Wellen am Strand brachen die Massen über den Bahnhof herein und zogen sich dann wieder zurück. Mit jeder Bahn eine neue Welle und dazwischen eine kurze Ebbe.

Dann tauchte Alex doch noch auf. Er sah etwas abgekämpft aus aber ansonsten glücklich und ausgeglichen. Kein Vergleich mit dem Alex von vor einem halben Jahr, der in der Bar gesessen hatte und nicht gewusst hatte, was er mit sich selbst anfangen sollte.

„Du siehst gut aus!“ Flo war positiv überrascht. Er hatte gehofft, dass sich sein Freund wieder etwas gefangen hatte, aber mit diesem Ausmaß hatte er nicht gerechnet.

„Dankesehr, du ebenfalls. Hast dich also von dieser Jenny getrennt?“

„Schon vor einer ganzen Weile. Sie hat sich irgendwann einfach nicht mehr gemeldet und ich bin nicht böse darum. Es hat zu viele positive Nebeneffekte. Und wie sieht es bei dir aus?“

Wenn er ehrlich war, dann war er überrascht, dass Alex sich überhaupt daran erinnerte. Er hatte nicht viel mit ihm über Jenny geredet. Damals hatte es Wichtigeres gegeben als seine eigene Beziehung.

„Alles gut bei mir. Es hat sich einiges getan. Ich bin kein Student mehr, zum Beispiel. Ich habe mich nicht mehr zurückgemeldet. Dafür fehlt mir einfach die Zeit, also habe ich abgebrochen. Dafür bin ich jetzt selbstständig als Softwareentwickler.“

„Erinnert mich irgendwie an den Deutschunterricht bei Frau Gumber. ‚Pass auf! Niemand wird dich dafür bezahlen, nur auf einen Bildschirm zu starren.‘ Das war das beste Argument, was ihr eingefallen ist, um uns für den Schimmelreiter zu begeistern. Wie bezeichnend. Was für Software schreibst du denn?“

Golden Gardens Seattle„Hauptsächlich die Programmierung für Industrieroboter aller Art. Meist für Maschinenbau und die Bauindustrie. Es ist wirklich erstaunlich, was inzwischen alles über Fertigteile gebaut wird und wie viel dabei automatisch läuft. Leider sind die Roboter teilweise echt mies gebaut, aber damit komme ich schon zurecht. Und als Hobby, so nebenher, experimentiere ich mit künstlichen Intelligenzen. Bisher sind die noch nicht besonders gut, egal wo auf der Welt du suchst. Aber wenn die einmal durchstarten, dann kann das das nächste ganz große Ding werden, das sag ich dir. Da ist noch so unendlich viel mehr möglich. Auch mit den Robotern.“

Das klang eher nach seinem alten Freund. Begeisterung in der Stimme und Leidenschaft in den Augen. Alex glühte regelrecht, während sie die Straße entlang gingen. Es tat gut, ihn so glücklich zu sehen. Doch Alex wollte eigentlich etwas anderes los werden, das merkte Flo gleich. Etwas, was ihn sehr aufregte.

„Erinnerst du dich noch an Nadine?“

Natürlich erinnerte er sich noch an sie. Nadine war Alex‘ großer Schwarm gewesen für die meiste Zeit der Schule. Elegant, intelligent und ausnehmend schön anzusehen. Nur ihr Charakter hatte sich nicht so schnell gefestigt und so war sie bei ihrer Partnerwahl immer etwas ungeschickt gewesen. Nach seinem letzten Treffen mit Alex hatte Flo wieder Kontakt mit ihr aufgenommen. Offenbar hatte sie ihre Linie und sich selbst gefunden.

„Sie hat sich jedenfalls vor etwa einem halben Jahr bei mir gemeldet, kurz, nachdem du zu Besuch warst. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und sind seitdem zusammen. Es ist einfach traumhaft! Wenn alles gut geht, dann ziehen wir in einem Monat zusammen.“

Flo konnte ihm natürlich nicht sagen, dass dies für ihn keine Neuigkeit war. Nadine hatte sich seit dem mehrfach bei ihm gemeldet und sich für seine Intervention bedankt. Und Flo hatte ihr das Versprechen abgerungen, darüber Stillschweigen zu bewahren. Am Ende konnte noch der Eindruck entstehen, er wäre nur all zu fürsorglich.

„Job läuft super, Beziehung läuft super und glücklich bist du auch damit. Sieht doch so aus, als hättest du den ganz großen Wurf gelandet. Das freut mich sehr. Besonders, da du bei unserem letzten Treffen ja doch ziemlich am Ende warst.“

„Oh ja! Es ist fast zu gut, um wahr zu sein. Wie läuft es denn bei dir? Was kam nach dieser Jenny?“

„Das letzte Semester lief nicht ganz so gut wie erwartet. Mia ist natürlich mal wieder in allem besser als ich. Dafür habe ich Kristina gefunden. Du wirst sie vielleicht noch kennenlernen. Sie wollte morgen gegen Abend vorbei kommen, aber das steht noch nicht ganz fest. Sie ist jedenfalls seit einigen Monaten mein persönliches Glück.“

„Dann haben wir ja heute Abend wenigstens einen ordentlichen Grund zum Anstoßen. Es geht aufwärts. Und das mit deinem Studium rockst du auch noch, keine Sorge.“

Und wenigstens für die nächsten Tage würde er sich auch keine Sorgen darum machen können. Endlich hatte auch er einmal mit einem Plan Erfolg gehabt.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 55

Zahnarzt

„Sie studieren also hier? Ich muss gestehen, ich bin etwas überrascht, wie wenige Studenten wir unter unseren Patienten haben. Achtung, das könnte jetzt etwas unangenehm werden. Der Zahnhals liegt ziemlich frei.“

Flo konnte ja verstehen, dass auch Zahnärzten dann und wann bei ihrer Arbeit etwas langweilig wurde, aber die Behandlung war nicht der perfekte Zeitpunkt für ein Gespräch. Er gurgelte einen unbestimmten Laut zwischen den Instrumenten und Fingern in seinem Mund hindurch. Die Ärztin war halb über, halb auf ihn drauf gebeugt und wühlte eifrig in seiner Mundhöhle, während Sauger und Reinigungshaken lärmten. Inzwischen fühlte sich sein Gaumen verdorrt und ausgetrocknet, wie eine Wüste an. Er zuckte empfindlich zusammen, als das vibrierende Gerät auf ungeschützte Nerven traf. Nackte Zahnhälse konnten ein Fluch sein. Einen Nutzen konnte man jedenfalls nicht daraus ziehen.

„Was studieren Sie denn, wenn ich fragen darf?“

Wie sollte er ihr denn darauf antworten? Jetzt, wo er hier lag, fiel ihm erst auf, wie viel ausgesprochene Sprache mit Bewegungen von Kiefer und Lippen zu tun hatte. Eigentlich das gesamte Klangspektrum, jenseits von ah war davon abhängig. Im Moment konnte er seine Lippen und seinen Kiefer nur nicht bewegen und ah wäre damit der einzige Laut, mit dem er sich verständlich machen konnte. Selbst wenn er den Namen des Studienganges ohne Mundbewegungen aussprach, es wäre doch kaum identifizierbar, selbst wenn man es wusste. Und auch wenn die Ärztin oft auf diese Art mit Patienten sprach, so geübt konnte doch selbst sie nicht sein, daraus etwas Sinnvolles verstehen zu können. Er versuchte es trotzdem.

Discovery Park Seattle„Ehrlich? Coole Sache! Das war damals mein Zweitwunsch fürs Studium, aber dann habe ich die Zulassung für Medizin bekommen und meine Eltern hätten mich vermutlich enterbt, wenn ich diese Chance nicht genutzt hätte. Dabei sollte man absolut nicht für jemand anderen studieren als sich selbst, sonst wird man nur unglücklich. Dafür ist ein Studium viel zu raumgreifend.“

Sie atmete tief durch und setzte ihr Werkzeug neu an. Flos ganzer Kiefer vibrierte. Bei dem Resonanzkörper seiner Mundhöhle musste sie das Geräusch vielfach verstärkt zurück bekommen. Durften Zahnärzte eigentlich Hörschutz tragen oder würde dadurch die bescheidene Kommunikation mit dem Patienten zu sehr eingeschränkt werden? Die Zahnärztin bemühte sich gerade einmal nicht um Konversation, sondern ging stumm ihrer Arbeit nach. Flo hatte nicht den Eindruck, dass sie sich besonders konzentrieren musste. Er hatte eher das Gefühl, sie hing gerade einem vergangenen Traum nach und das beruhigte ihn ganz und gar nicht. Sie war heute schon wiederholt abgerutscht und der metallische Geschmack, der ihm auf der Zunge lag, deutete auf etliche undichte Stellen im Zahnfleisch hin.

Der erste Schritt der halbjährlichen professionellen Zahnreinigung war abgeschlossen. Wenigstens die Zahnhälse hatten für einen Augenblick Ruhe. Die Politur war etwas schonender für sie, wenn auch eher für den Zahn selbst. Wenn nur das Zahnfleisch nicht im Weg wäre. Er wünschte sich beinahe, die Zähne einfach nach Belieben hinaus nehmen zu können. Es würde so vieles einfacher machen aber so gab es nichts, was ihn retten konnte. Erbarmungslos fräste sich der Polierkopf in das wunde Zahnfleisch und trieb die raue Polituhrpaste tief in die offenen Wunden. Er würde noch viele Stunden Freude an dem Pfefferminzgeschmack haben.

Eine halbe Stunde später war die Tortur vorbei. Die Zähne waren sauber aber locker, das Zahnfleisch blutig oder gleich ganz verschwunden. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wegen welcher Zähne er den Arzt noch einmal hätte fragen wollen, wieso sie schmerzten. Inzwischen taten sie ihm alle gleichermaßen weh.

„Und denken Sie daran: Heute keinen Kaffee, Tee oder Rotwein mehr, sonst verfärben sich die Zähne. Rauchen bitte genau so wenig, aber das tun Sie ja sowieso nicht, oder?“

Alles, was er die letzte Stunde getan hatte, war nach Kommando den Kopf zu drehen, während er einfach nur da lag. Trotzdem fühlte er sich erschlagen und zerstört. Er war froh, in keinen Spiegel sehen zu müssen. Wenn er auch nur ansatzweise so aussah, wie er sich fühlte, dann konnte es kein schöner Anblick sein. Kaffee oder Rotwein konnte ihn nicht locken. Heißer Tee oder kaltes Bier wären da etwas anderes, aber empfindlich, wie seine Zähne im Moment waren, könnte er auch einfach mit einem Hammer drauf schlagen. Alles, was ihm blieb, war sich mit einer Flasche Wasser und einer weichen Banane ins Bett zu kriechen und einen Film oder eine Doku zu sehen. Wenn er denn den Rückweg überstand.

Es kostete ihn viel Beherrschung, nicht ärgerlich mit den Zähnen zu knirschen, als er sich vor der Praxis nach seinem Fahrrad umsah. Der Schlüssel rasselte in seiner Hand und eigentlich sollte in der anderen gerade das Schloss und die Kette liegen. Beides war aber genau so wenig zu sehen, wie das Fahrrad selbst. Auf der Straße rumpelte der Bus vorbei und erinnerte ihn daran, dass sein Fahrrad zu Hause im Keller stand, und in seiner Jackentasche die Busfahrkarte steckte. Nur der Bus war nun weg. Er konnte genau so gut nach Hause laufen, damit wäre er am Ende eventuell sogar schneller im Bett.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 54

Inkonsistenz

„Ich verstehe es nicht. Die ersten Semester haben Sie doch durchgehend hervorragende Noten geschrieben. Wie kommt es denn, dass Sie auf einmal solche Einbrüche zeigen? Wir wollen Ihnen auf keinen Fall etwas Böses. Es fällt nur einfach stark auf, gerade bei Ihnen. Wenn es Probleme oder so gibt, dann können Sie ja immer hereinkommen, das wissen Sie hoffentlich.“

Das wusste Mia tatsächlich. Sie saß im Büro ihrer Dozentin und hielt eine korrigierte Hausarbeit in der Hand. Es war das erste Mal, dass sie überhaupt eine Arbeit zurück bekommen hatte und es war wohl auch nur eine Ausnahme. Erik oder Flo hätten sich mit der 2,7 wahrscheinlich einfach zufriedengegeben und niemand hätte weiter nachgefragt. Aber sie war Mia, und sie schrieb keine so schwachen Noten. Vielleicht war sie deswegen zum Gespräch gebeten worden und bekam das Angebot, eine Wiedervorlage zu tätigen.

„Ich habe auch mit Professor Dürer darüber gesprochen. Bei ihm haben Sie ja auch eine Arbeit geschrieben. Die Note haben Sie ja auch schon bekommen, er war höchst zufrieden. Da frage ich mich natürlich auch, ob es vielleicht an meinem Unterricht oder dem Thema von der Hausarbeit liegt. Ich will Ihnen natürlich auch nicht den Schnitt ruinieren.“

Das war es nicht. Weder das Thema noch die Veranstaltung waren schlecht gewesen. Die Wahrheit war, dass Mia einfach keine Lust gehabt hatte. Es war ihr ungelegen gekommen, zwischen Urlaub und Klausuren auch noch eine Arbeit über ein Thema schreiben zu müssen, was sie nicht begeisterte. Aber das konnte sie ihrer Dozentin unmöglich sagen. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben und immer ein offenes Ohr für jeden gehabt. Selbst der ewig überkritische und ansonsten faule Flo konnte keinen Kritikpunkt finden. Nein, sie brauchte etwas anderes. Es wäre jedenfalls unfair gewesen, die Schuld von sich zu weisen.

„Ich habe im letzten Semester generell recht inkonsistente Leistungen gebracht. Wahrscheinlich habe ich mich einfach übernommen, zu viele Kurse belegt und Veranstaltungen aus höheren Semestern vorziehen wollen. Auch privat war es sehr turbulent. Zwei Kurse habe ich schon während der Vorlesungen wieder abbrechen müssen. Ich hätte sie einfach nicht geschafft. Trotzdem ist diese Arbeit am Ende wohl leider zu kurz gekommen.“

Es war nicht gelogen. Sie hatte tatsächlich Kurse abbrechen müssen und sich auch generell sehr viel vorgenommen. Aber wenn sie gewollt hätte, dann hätte sie auch diese Arbeit besser schreiben können. Ein paar mehr Quellen, ein wenig mehr Konzentration und vor allem, einmal Korrekturlesen. Viele Fehler wären wahrscheinlich vermeidbar gewesen, wenn sie sich nur noch einmal hingesetzt hätte und die Arbeit selbst gelesen hätte. Erik hätte sicher auch einmal darüber sehen können, so wie sie immer seine Arbeiten korrigierte, auch ungefragt. Aber dafür war es ihr einfach zu egal gewesen. Sie hatte sich die Zeit nicht nehmen wollen, und wenn es nur eine halbe Stunde gedauert hätte. Eine Demotivation, die sie so überhaupt nicht von sich kannte. Ihre Dozentin nickte verständnisvoll. Sie war ganz offenkundig erleichtert, dass die Schuld von ihr genommen worden war, aber dennoch genau so offen enttäuscht von der Arbeit.DSC01197

„Wie gesagt, unter den gegebenen Umständen haben wir am Lehrstuhl beschlossen, Ihnen wenigstens anzubieten, zu verbessern. Es wäre ja wirklich schade, wenn Ihnen deswegen jetzt der Schnitt kaputtgemacht wird. Die Alternative wäre nur, nächstes Jahr den Kurs noch einmal zu machen. Oder halt einen Entsprechenden, nur dadurch verlieren Sie halt ein ganzes Jahr. Das wäre einfach unnötig.“

Es war doch unglaublich, wie gut es manche Menschen mit einem meinen konnten. Sie sah sich in einer kleinen moralischen Zwickmühle. Wenn sie das Angebot ausschlug, konnte ihr Schnitt tatsächlich empfindlich Schaden nehmen. Es anzunehmen wäre aber ein echt unfairer Vorteil den anderen gegenüber. Konnte ihr das nicht eigentlich sogar egal sein? Erik und Flo mussten es nie erfahren und der Rest vom Kurs sowieso nicht. Wieso kümmerte sie sich also um gerechte oder ungerechte Vorteile?

„Dann würde ich Ihnen in spätestens einer Woche dann die Korrektur vorlegen.“

„So schnell wollen Sie sein? Ich hätte jetzt gesagt, in einem Monat, aber wenn Sie es früher schaffen wollen, soll mir das auch recht sein.“

Einen ganzen Monat wollte Mia es nun wirklich nicht mehr vor sich herschieben. Sie würde es fertigmachen so schnell sie konnte und dann wollte sie erst recht nichts mehr damit zu tun haben. Sie bedankte sich für die Chance zur Korrektur und steckte die Arbeit ein. Mia wusste ganz genau, dass heute Nacht schlecht schlafen würde und das Ganze schwer im Magen liegen würde. Es wäre das Richtige gewesen, das Angebot abzulehnen und sich damit zufriedenzugeben. Aber andere hätten genau das gleiche getan, wenn in Situation gewesen wären. Vielleicht musste sie lernen, das Schicksal besser auszunutzen.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 53

Blockseminar

Wie konnte ein Mensch bloß so viel reden? Für Flo war es absolut unbegreiflich. Er redete selbst gerne und viel und ging damit den Leuten auf die Nerven aber das hier war ein Härtefall. Seit mehr als sechs Stunden war der Kerl da vorne kaum zum Schweigen zu bringen und die letzten beiden Tage hatte es schon nicht anders ausgesehen. Er redete, erzählte, stellte Fragen, nippte an seinem längst erkalteten Kaffee und erklärte. Zwischenzeitlich hatte selbst der Beamer erschöpft und überhitzt aufgegeben, also war er an die Tafel gewechselt und hatte weiter gemacht. Unerbittlich und gnadenlos.

Vor dem Fenster stürzte die Sonne dem Horizont entgegen. Flo war dankbar, dass er sie wenigstens durch das Fenster sehen konnte. Er erinnerte sich an Hörsäle, bei denen man nicht einmal durch die geöffneten Türen einen Blick auf die Außenwelt hatte erhaschen können. Jetzt die kostbaren, kurzen Sonnenstunden von hier drinnen betrachten zu müssen, schmerzte ihn sehr. Wie konnte das neue Semester so brutal beginnen?

Der Monolog hielt an und ein Blick in die Gesichter im Saal sprach Bände. Die meisten waren im Geiste weit weg, mit anderen Dingen beschäftigt oder unterhielten sich im Flüsterton oder mit den klassischen Zettelbriefchen. Tiefe Augenringe dominierten das Bild. Besonders bei den wenigen, die sich alle Mühe gaben und nach wie vor aufmerksam waren und ihre Notizen beibehielten.

Flo hatte am Anfang noch den gleichen Anspruch an sich gestellt. Inzwischen hatte er den Eindruck, jemand habe ihm einen Mixer durch die Augen ins Gehirn geschoben und dort einmal gründlich umgerührt. Sein Gehirn fühlte sich an wie Püree, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und selbst ein guter Liter Energydrinks hatten daran nichts geändert. Dafür hörte er jetzt sein Blut durch die Adern rauschen und sah das Pochen seines Herzens an einem Regenbogen, der mit jedem Schlag über sein Sichtfeld pulsierte. So fest er die Augen auch schloss, dieser Blitz war beinahe so erbarmungslos wie der Dozent in seinem Programm.

Blockseminar nannten sie es und man sollte besonders viel dabei lernen. Einige wenige Tage volle Konzentration auf ein Thema lenken und direkt im Anschluss die Prüfung schreiben. Kurz, schmerzlos und nachhaltig sollte es sein. Flo hätte gerne einige deutliche Worte mit dem Erfinder dieser Technik gewechselt. Zumindest hätte er gerne gewusst, unter dem Einfluss welcher Drogen man dafür stehen musste. Vielleicht war das ja überhaupt das Geheimnis eines erfolgreichen Studiums. Man musste nur die richtigen Drogen und Aufputschmittel zur richtigen Zeit haben.

DSC00872Was war denn zum Beispiel Mias Mittel der Wahl? Immerhin war sie doch ausgesprochen erfolgreich, auch wenn sie sich im letzten Semester etwas übernommen hatte. Sie trank bevorzugt Tee, aber was, wenn es nicht nur Tee war? Die Welt der Pilze und Pflanzen war ausgesprochen vielseitig. Irgendetwas Nützliches musste sich doch darunter finden. Selbst Mia konnte schließlich keine sechs Stunden konzentriert bleiben. Bei Erik müsste er nicht suchen, der fuhr in ihrem Fahrwasser. Natürlich nicht, ohne sich selbst auch zu bemühen aber sie würde ihn nicht hängen lassen.

Aber Mia würde nie zugeben, wenn sie sich auf fremde Helferlein verließ. Ihr Stolz würde sie eher in der Mitte durchreißen, als solch eine Schwäche einzugestehen. Nein, er müsste woanders suchen. Wen kannte er noch von denen, die noch aufmerksam waren? Er sah sich um. Tristesse und Trostlosigkeit schienen den Start des neuen Semesters zu prägen. Das war es nicht gewesen, worauf er aus war. Verzweifelte Gesichter, verkrampfte Knöchel und knittriges Papier. Tische voller Essensreste und leeren Flaschen. Schokolade funktionierte nicht als Droge für ihn.

Tina starrte an die Tafel, machte sich beiläufig Notizen, strich sich durch die Haare und kaute schon seit guten drei Stunden auf einem holzigen Pflanzenteil herum. Es sah nicht so aus, als könne es lecker sein, also musste es das Geheimnis ihrer Konzentration sein. Er kannte die Pflanze nicht, also hatte sie sie vermutlich nicht aus dem Supermarkt. Auch nicht aus dem Biomarkt, in dem Mia so gerne einkaufen ging und der Gemüse und Obst hatte, von dem Flo vorher noch nie etwas gehört oder gesehen hatte. Vieles sah so abenteuerlich aus, dass er nicht einmal wissen wollte, ob es wirklich essbar oder nur zur Dekoration gedacht war. Vielleicht war es ja nicht einmal etwas Legales, in dem Fall musste es doch auf jeden Fall der kleine Helfer sein. Ob er sie einfach fragen sollte?

Die Straßenlaternen vor dem Fenster sprangen an, ergänzten das Dämmerlicht des Frühlings durch einen Glanz, den er immer mit schmuddeligen, trostlosen Straßenzügen assoziierte. Er war nun schon wieder etliche Minuten abgelenkt gewesen, hatte seinen Geist schweifen lassen und über Blödsinn nachgedacht. Noch war es nicht die Zeit, sich mit einem kühlen Bier zu entspannen. Zunächst musste er sich wieder auf den Kurs konzentrieren. Auch wenn es ihn einiges an Überwindung kostete, er zwang sich erneut zur Konzentration und suchte den Wiedereinstieg.

Der Dozent zeigte mit keiner Regung, ob er sein Publikum überhaupt registrierte. Die größte Gefühlsregung war ein müdes Blinzeln in einer Redepause. Endlich zeigte er doch noch einen regelrechten Ausbruch von Freude und Begeisterung, als der Beamer sich aus seinem späten Mittagsschlaf zurückmeldete und er die Kreide fallen lassen konnte. An der Tafel verblieben die Namen von Theorien, die so unbedeutend und unsinnig erschienen, dass es sich nicht einmal lohnte, nur den Titel abzuschreiben. Für Flo musste eine Theorie bestimmte Grundsätze erfüllen. Der Wichtigste davon war, dass sie zunächst einmal dem gesunden Menschenverstand nicht widersprechen durfte. Als Beispiel für gesunden Menschenverstand nahm er sich selbst. Ein besseres Beispiel hatte er einfach nicht, denn jeden anderen Verstand kannte er nur von außen. Für ihn aber war das ausreichend. Die Logik musste bedient bleiben.

Inzwischen zeigte selbst der Dozent erste Ermüdungserscheinungen. Hatte er die letzten Tage noch bis zum Ende sein Programm durchgezogen, geriet er nun ins Straucheln. Immer wieder versprach er sich und verdrehte Namen. Mit jedem dieser Fehler stieg die Frustration in seinen Augen. Flo kannte das Gefühl nur zu gut. Dieses Entsetzen ob der Erkenntnis de eigenen Fehlbarkeit. Menschen waren keine Roboter. Selbst dieser Dozent nicht, den seine Fehlbarkeit unendlich tief zu erschüttern schien.