Bibgetuschel
Für Flo hatte es Vor- und Nachteile, zum Lernen in die Bibliothek zu fahren. Die Vorteile waren, dass er sich besser konzentrieren konnte und es weniger Ablenkungen gab. Er konnte keinen Fernseher nebenher laufen lassen, keine Spiele nebenher spielen oder sich mit Essen ablenken. Das heißt, er konnte theoretisch schon, aber dann würde er damit die urteilenden Blicke der anderen auf sich ziehen und das war ihm nicht so egal, wie er es vielleicht erwartete. Der Gruppenzwang trieb ihn zum Fleiß.
Wenn da nicht die anderen Leute im Lernraum wären. Die meisten waren sicherlich ernsthaft mit ihrer Arbeit beschäftigt, da hatte er keinen Zweifel. Es gab allerdings auch diejenigen, die allein schon ein hervorragendes Unterhaltungsprogramm boten. Und Flo, leicht ablenkbar, wie er nun einmal war, saß Minute um Minute dort und tat nichts anderes, als sie zu beobachten.
Der Klassiker, bei dem es leider auch nur wenig zu beobachten gab, waren Leute, die vormittags kurz in die Bibliothek kamen, sich einen Platz sicherten, indem sie ihre Jacken über den Stuhl hängten und ihre Arbeitssachen ausbreiteten. Für gewöhnlich saßen sie dann sogar gute fünfzehn bis zwanzig Minuten auf ihrem Platz und arbeiteten halbherzig. Man konnte ihnen ansehen, dass sie nicht bei der Sache waren. Ihre Augen starrten auf einen beliebigen Punkt irgendwo hinter dem Buch, die brauchten nach dem Umblättern mehrere Minuten, um die Stelle ganz am Anfang der Seite zu finden, welche sie dann markierten, und blätterten zeitweise wohl nur deswegen um, weil das letzte mal bereits so lange her war.
Irgendwann erschien dann der Lernpartner oder die Lernpartnerin, für die der Nachbarplatz freigehalten worden war. Auch er/sie/es breitete sich schön aus, es folgte ein kurzes Gespräch über irgendwelche Nichtigkeiten, die in keinem Zusammenhang mit der Uni stehen konnten und nach weiteren fünf Minuten angestrengten so-tun-als-ob-man-eifrig-lernt haben beide keine Lust mehr und gehen erst einmal Kaffee trinken. Es bringt schließlich nichts, wenn man sich nicht vernünftig konzentrieren kann und außerdem muss man sich auch einmal seine Pausen gönnen. Nur lernen ist schließlich auch nicht gut, es muss ja auch noch ins Langzeitgedächtnis kommen und außerdem sitzt man ja schon fast eine Stunde in der Uni.

Natürlich wird für die Kaffeepause der Platz nicht geräumt. Man kommt ja schließlich wieder dahin zurück, wenn der Kaffee leer ist. Und man vielleicht auch noch einen kleinen Imbiss gegessen hat. Und sich noch etwas unterhalten hat. Und vielleicht kommt ja sogar noch jemand vorbei, mit dem man sich dringend unterhalten muss. Eventuell befasst man sich ja sogar wirklich mit dem Lernstoff und stößt auf Fragen, die man nicht so einfach spontan beantworten kann, und muss dafür in die Sprechstunde. Jedenfalls ist der Platz für die nächsten zwei bis drei Stunden völlig verwaist. Gelegentlich auch noch länger aber um seinen Platz muss man sich wenigstens nicht sorgen. Der ist ja solide blockiert.
Nach drei bis vier Stunden erscheinen die beiden plötzlich wieder, den Kaffeebecher noch in der Hand. Vermutlich eher ein neuer, denn der Kaffee dampft noch und ist viel zu heiß, um einen Schluck davon zu nehmen. Also muss man sich erst noch ein wenig unterhalten, ehe man einen Schluck nehmen kann und sich danach dann sogar noch einmal eine kleine Weile mit dem Lernstoff zu befassen. Spätestens dann, wenn der Kaffee leer oder kalt ist, wird es Zeit für eine weitere Pause. Man war schließlich wieder fleißig und auf einem so vermüllten Arbeitsplatz lernt es sich ja auch ganz schlecht. Da muss man eh aufstehen, und wenn man schon einmal steht, kann man auch gleich wieder Pause machen. Studieren kann so anstrengend sein.
Aber auch, wenn die beiden sich ihren ausgedehnten Pausen hingeben, ist Flo nicht gezwungen, sich mit intensivem Lernen abzulenken. Irgendwo finden sich immer auch Leute, welche die Bibliothek als Laufsteg sehen und nutzen. Mit BWL oder Jura wird man schließlich einmal zur Elite gehören und das muss man schon einmal zeigen. Außerdem will man ja seiner Familie keine Schande machen und zeigen, was man hat.
So klackern also die Stöckelschuhe von Gucci über den Boden, am Handgelenk baumelt das Täschchen von Yves Saint Lauren mit den Lernbüchern (natürlich nicht zu viele, sonst leiert das Leder aus) und hinter dem Fensterglas in der Dolce und Gabbana Brille lauern dick geschminkte Augen darauf, ob man im knappen Minirock auch ja wahrgenommen wird.
Zum Beispiel von Modell „Papas Liebling“. Sie sitzt, im Gegensatz zu den Pausemachern, stundenlang in der Uni, einen dicken Stapel Bücher neben dem Laptop, der nicht unter zweitausend Euro gekostet haben darf, und dem neuesten Luxussmartphone. Auf beidem wird permanent die Welt der Social Media überwacht. Facebook, Twitter, Pinterest, Instagram und Tumblr, am liebsten auch noch alles zeitgleich und parallel. Auch sie ist natürlich nur in edle Stöffchen gehüllt. Wenigstens ist der Kaffee in der Thermoskanne FairTrade, um das soziale Gewissen zu befriedigen.
Ihre Mitschriften sind in einer peniblen bis pedantischen Handschrift und mindestens vierfarbig, gerne auch mit Herzchen, Blumen und Sonnen verziert. Es ist die saubere Abschrift von hastig in der Vorlesung mitgeschriebenen Notizen und den Folien im Internet. Immerhin hat sie sich beim Abschreiben gründlich damit befassen müssen, das sieht man.
Aktuell gilt ihr Interesse aber hauptsächlich dem Laptop. Social Media hat Pause, es ist die Shoppinglaune ausgebrochen. Mit der besten Freundin am Telefon wird sich emsig beraten. Bademode für den nächsten Urlaub in Thailand oder der Karibik ist bereits abgehakt, nun werden Oberteile und Kleider diskutiert. Unterwäsche und Dessous werden später folgen, immer noch im Foyer der Bibliothek, versteht sich.
Was Flo der werten Dame allerdings ohne Zögern zugestehen muss, ist, dass sie Geschmack hat. Die ausgesuchte Kleidung gefällt ihm und unwillkürlich stellt er sich vor, wie Kristina wohl in solcherlei Mode aussehen würde. Es ist immerhin deutlich verspielter, als die edle Schlichtheit, die sie bevorzugt. Ihm fällt auf, dass er seit sicher fünf Minuten mit beiden Augen beobachtet, statt wie üblich ein Auge in Büchern oder auf dem Bildschirm zu haben. Das Theater, welches ihm hier geboten wird, ist einfach viel zu verlockend.

Er will sich grade wieder zu seiner Arbeit zwingen, da erscheint die nächste Ablenkung. Der junge Mann bedient alle Klischees der Ingenieursstudierenden. Schlackerndes Hemd, schlecht sitzende Brille auf der Nase, Taschenrechner und wirre Aufzeichnungen von Berechnungen, die auch sauber aufgeschrieben noch gerade zu ekelhaft komplex sind, unter dem Arm. Er steht offensichtlich unter großem Stress, guckt sich wirr und eingeschüchtert nach einem leeren Platz um.
Doch die einzigen freien Plätze sind die, der beiden Kaffeetanten, die gerade eben mal wieder in ihre Pause verschwunden sind. Ihr Verschwinden wurde von allen drum herum sitzenden mit einem geringschätzigen Kopfschütteln kommentiert. Welch eine Platzverschwendung.
„Die zwei Plätze da sind für sicher drei Stunden noch frei. Räum einfach alles auf einen Tisch, die gehören eh zusammen. Die machen wahrscheinlich grad Kaffeepause.“
Flo muss innerlich beinahe lachen, als er sich die Worte sagen hört. Die beiden werden reichlich verdutzt gucken, wenn sie zurückkommen. Aber er ist sich sicher, wenn sie so dreist sein sollten, sich auch noch darüber zu beschweren, dann sitzen hier einige Studierende, die ihm dankbar zur Hilfe kommen werden. Jeder hier ist schon mindestens einmal durch die Gebäude geirrt, auf der Suche nach einem Platz zum Lernen.
Zu einer Konfrontation kommt es dann aber doch nicht. Drei tatsächlich sehr produktive Stunden später ist die Kaffeepause immer noch nicht vorbei. Dafür hat sich der junge Ingenieursanwärter bis zur Verzweiflung festgefressen. Niemand hier kann ihm helfen, eine Berechnung von finiten Elementen seines Bauteils durchzuführen. Er verschwindet, um einen Hiwi, die Sprechstunde oder irgendjemanden zu fragen, der ihm wenigstens einen Hinweis geben kann. Seine Hände zittern und die Angst vor einem vergeigten Drittversuch und damit dem Ende seines Studiums rauben seinem Gesicht jede Farbe.
Draußen geht die Sonne unter und Papas Liebling hat keine Lust mehr, ihre sauberen Abschriften bunt einzufärben. Die Bestätigungsmails ihrer Einkäufe sind eingetroffen und sie muss feststellen, dass die über vierhundert Euro ihr Konto stärker beanspruchen, als sie es erwartet hatte. Natürlich ist es immer noch solide gedeckt, trotzdem wird sie später noch ihre Eltern anrufen und sich darüber beklagen, dass sie nur das billige Brot beim Bäcker kaufen kann und die Rindersteaks ja viel zu teuer sind. Mama wird den Wink mit dem Zaunpfahl schon verstehen und hundert Extraeuros fürs Einkaufen schicken. Das Leben ist nun einmal teuer.
Flo indes hat genug für heute. Von den zehn Stunden, die er heute in der Bib verbracht hat, sind bestimmt vier nur dafür geopfert worden, die Umgebung zu beobachten und zu belauschen. Er kommt sich vor wie inmitten einer billigen Realityshow im Privatfernsehen und hat das scheußliche Gefühl, viel zu langsam vorangekommen zu sein. Vielleicht bleibt er morgen einfach zu Hause und lernt dort. Dann kann er die Schuld für seine Ablenkung wenigstens niemand anderem geben.