Archiv für den Monat März 2016

Einmal Lächeln mit Fritten zum mitnehmen bitte

Es ist endlich Frühling, die Sonne wagt ihre ersten vorsichtigen Expeditionen über die Landschaft, die Temperaturen krabbeln erschöpfend langsam aus dem Keller und ich begebe mich in den Park.
Der vergleichsweise milde und feuchte Winter macht sich bemerkbar und überall auf den Wiesen sprießt und blüht es. Schneeglöckchen, Krokusse und Osterglocken blühen zeitgleich um die Wette und auch den Bäumen sieht man den frischen Saft deutlich an. In den kommenden Tagen wird auch bei ihnen das große Blühen ausbrechen. Ich gönne mir ein oder zwei Minuten Ruhe, setze mich auf eine Bank und beobachte einfach einmal das verhaltene Treiben an diesem Nachmittag.

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Einige Radfahrer kommen vorbei, offensichtlich sind sie in Eile oder schwer beschäftigt. Ihr Blick ruht nüchtern und leicht gelangweilt auf dem asphaltierten Weg vor ihnen. Vielleicht ist das auch besser so, um Unfälle zu vermeiden.
Zum Beispiel mit der Mutter, die ihr Kind im Kinderwagen durch die Gegend schiebt, zwar nicht zielgerichtet aber dafür konsequent mit dem Telefon am Ohr und den Augen auf einem imaginären Punkt im Irgendwo fixiert. Das Kind bekommt keine Aufmerksamkeit ab, auch wenn es sich sichtlich um eine kleine Reaktion bemüht. Statt eines Lächelns bekommt es einen Schnuller und einen strengen Blick.
Einige Leute auf dem Heimweg sind unterwegs. Die Zeitumstellung ist ihnen nicht gut bekommen, denn sie schleppen sich mit schlaffen Gesichtern und schlurfenden Schritten voran, dem heimischen Kühlschrank oder Fernseher entgegen. Einige jüngere Leute haben offenbar mehr Energie. Es ist generell recht belebt, in diesen kurzen Minuten im Park.
Zwischen den Bäumen im Süden taucht ein älterer Mann auf. Er wirkt leicht verwirrt und spricht die anderen Passanten mit starkem lokalen Dialekt an. „Wieso guckst du denn so traurig? Es ist doch so ein schöner Tag.“ „Was ist denn los? Du guckst, als wäre jemand gestorben.“ „Sieh dir doch lieber einmal die Blumen an und guck nicht bloß so ernst.“
Den meisten Menschen ist er suspekt. Sie gehen ihm aus dem Weg, ignorieren ihn oder verziehen genervt das Gesicht. Einige wenige lächeln auch amüsiert, ob des merkwürdigen Kauzes, welcher hier sein Unwesen treibt. Und dabei hat er recht! Selbst mir ist aufgefallen, dass beinahe niemand, der durch den Park kommt, seinen Blick schweifen lässt oder wenigstens gut gelaunt scheint. Gut, abgesehen von dem frisch verliebten Pärchen, welches so glücklich miteinander ist und kaum die Finger voneinander lassen kann. Für diese beiden müssen allerdings nicht einmal die Blumen blühen.

Wieso eigentlich? Wieso wird selbst bei solch einem tollen Wetter und so schönen Blumen nicht darauf geachtet, sondern stattdessen Trübsal geblasen? Der alte Mann mag nicht besonders geschickt darin gewesen sein, die Leute aufzumuntern, aber trotzdem hat er einen Punkt. Es wird viel zu viel trübe Laune verbreitet und albern sein ist kindisch. Neugier und Begeisterung für Unbekanntes ist unerwünscht. Sei unauffällig, halt den Kopf unten, fall bloß nicht auf, bereite niemandem Schwierigkeiten und passe dich an. Wie entsetzlich grau und schrecklich kann man ein Leben eigentlich gestalten?

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Es ist so traurig, wie früh damit angefangen wird, kleine Leben in dieses Raster zu pressen. Wie das des kleinen Jungen, der gerade völlig fasziniert von der Elster ist, die sich gerade mit einem Eichhörnchen anfreundet. Er ist so gefesselt, dass er die Welt um sich herum völlig ausblendet. Der alte Mann bemerkt das und ist restlos begeistert. Noch ein wenig mehr, und er könnte vor Glück in Tränen ausbrechen. Die Mutter wird ungeduldig und nervös. Vielleicht liegt es daran, dass das Eis in der Einkaufstüte schmelzen könnte oder dass sie noch die Wäsche falten will, ehe ihre Mutter zum Kaffee kommt. Vielleicht hat sie aber auch den alten Mann bemerkt und will auf keinen Fall etwas mit ihm zu tun bekommen. Jedenfalls stopft sie ihren Sohn grob in den Kinderwagen zurück.
Elster und Eichhörnchen werden durch die plötzlichen Bewegungen des großen Zweibeiners aufgeschreckt und verschwinden in den Büschen. Der Moment ist zerstört, ein zaghafter Forschergeist hart vor den Kopf geschlagen und die Welt erscheint für das ein oder andere Auge gleich weniger farbenfroh. Ich sehe, wie die Schultern des alten Mannes resigniert herabsinken. Ich versuche mir vorzustellen, was gerade in seinem Kopf vorgehen könnte.
Vielleicht denkt er sich gerade, dass es schön sein könnte, wenn gute Laune und Lächeln am Kiosk oder der Imbissbude an der Ecke zu bekommen sein könnten. „Einmal ein Lächeln mit Fritten zum Mitnehmen bitte.“ Der Gedanke ist so absurd, dass ich unwillkürlich darüber kichern muss.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 76

Gedankenkarussell

Es war mal wieder eine lange Nacht, die spät begann, früh endete und sich trotzdem zäh wie Kaugummi anfühlte. Für Flo war das bereits nichts Neues mehr, allerdings traten diese Nächte in letzter Zeit als regelrechter Schwarm auf. Also lag er in seinem dunklen Zimmer wach, starrte an die Decke und überließ sich seinen Gedanken. Es wäre ihm lieber gewesen, dass die weiche Decke ihn einfach unerbittlich und mit Nachdruck ins Reich der Träume verschleppen würde, doch sie hatte diesen Kampf verloren, bevor er richtig angefangen hatte.

„Was willst du mit dem Leben anfangen, welches dir zur Verfügung steht?“

Das war die Frage, die über allem stand. Was wollte er? Was waren seine Ziele und Wünsche, was seine Träume? Die gleichen Fragen hatte er sich vor vielen Jahren, kurz vor dem Abitur, gestellt. Damals hatte er sie nicht beantworten können und wollen. Stattdessen war er an die Uni gegangen, um noch einmal etwas mehr Zeit zum Nachdenken zu bekommen. Nur hatte er die Zeit für vieles genutzt, außer um Antworten auf seine Fragen zu finden und nun verfluchte er sein Vergangenheits-Ich, welches ihm diese Suppe eingebrockt hatte.

Mia hatte ihr Leben schon seit Jahren durchgeplant. Rational und nüchtern, selbstredend. Erik entschied sich immer für den Weg des geringsten Widerstands und das hieß, dass früher seine Eltern, jetzt Mia für ihn die Lebensplanung übernommen hatten. Erst in letzter Zeit zeigte er sich zunehmend unzufrieden damit. Kristina war ihrem Herzenswunsch gefolgt und konnte es nicht verstehen, wieso nicht jeder es so handhabte.

Nur wie sollte er es ihr denn gleich tun, wenn er keinen Herzenswunsch hatte? Er war immer irgendwie „gewesen“ aber hatte nie den Sinn seines Seins hinterfragt oder zufällig gefunden. Gleiches galt für seine Hobbys. Er hatte noch nie etwas gefunden, was ihn wirklich fesselte und begeisterte. Egal was seine Faszination weckte, nach wenigen Wochen wurde es ihm stets langweilig.

Und vor diesem Hintergrund raste sein Gehirn jetzt, um zwei Uhr nachts, bereits seit Stunden, immer im Kreis. Er brauchte ein Ziel, eine Planungsgrundlage, ein Irgendetwas! Was wollte er erreichen? Wann wollte er wo sein und als was? Was wollte er mit seinem Abschluss anfangen, in welchen Beruf oder welche Branche gehen? Und welcher Abschluss würde es sein? Er hatte überdurchschnittlich lange gebraucht, um bis in Sichtweite zum Bachelor zu kommen. Würde er noch die Energie für den Master aufbringen können und wollen? Oder würde er es vielleicht müssen, weil er ansonsten keine Aussichten hatte?

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Der Bachelor, da schienen sich viele Leute einig, war anscheinend kein vollwertiger Abschluss. Als Absolvent dieses Grades verfügte man über viel Halbwissen und viele Eindrücke aber keine Fähigkeiten und Spezialisierungen, um auf dem Arbeitsmarkt wertvoll zu sein. So jedenfalls, hatte Flo den Eindruck, sollte es ihnen vermittelt werden. Einige Leute wollten trotzdem Bachelorabsolventen einstellen. Aus dem einfachen Grund, dass sie preiswerter waren, denn eine schlechter ausgebildete Fachkraft kann man auch schlechter bezahlen. Dafür hat man dann seinen Berufseinstieg wenigstens geschafft.

Und was dann? Dann sitzt man sein Leben lang in einem Beruf, der sich nach vier oder fünf Jahren als eintönig und sterbenslangweilig entpuppt? Was ist ein Berufseinstieg dann noch wert, wenn man wechseln möchte? In einem Land wie Deutschland, in dem man für sein schönes Raster fast schon einen Fetisch entwickelt hatte und jeder hatte genau in dieses Raster zu passen. Du willst als Handwerker einen Bürojob? Da hättest du besser gleich eine kaufmännische Ausbildung gemacht, denn so passt du nicht auf die ausgeschriebenen Positionen. Du beherrschst eine Fremdsprache, aber hast keinen amtlichen Nachweis darüber? Tut uns Leid, aber so können wir das nicht einschätzen, die Angabe über die Qualifikation ist nichts wert. Autodidaktisch den Umgang mit Software gelernt? Schöner Versuch aber du kannst den Lehrgang nachholen, für nur 200 €. Und du möchtest nach zwanzig Jahren im Dienst mit nur einem Bachelorzeugnis doch noch etwas höher auf der Karriereleiter? Das passt nicht ins Raster.

Möglicherweise besteht später noch die Möglichkeit, entsprechende Zusatzqualifikationen zu erlangen. Möglicherweise aber auch nicht. Wie sollte er das jetzt abschätzen können und wieso verlangte die Welt das von ihm? Nur weil er jetzt erwachsen war, hieß das noch lange nicht, dass er auch weise war, allwissend schon gar nicht. Und dann wieder die Frage, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Wo wollte er hin und auf welchem Weg?

Die Zimmerdecke erschien ihm immer weiter entfernt und verhielt sich damit exakt gegensätzlich zu den Wänden. Ihm war schwindlig, er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Allein die Gedankengänge strengten ihn an wie ein Dauerlauf und dörrten ihm die Kehle aus. Er griff neben sein Bett, zu der Wasserflasche und schob sie beiseite. Dahinter zog er eine zweite Flasche hervor. Er wollte endlich Schlafen, und wenn sich sein Gehirn weigerte und ihm den Krieg erklären musste, dann wollte er sich wenigstens nicht kampflos geschlagen geben. Erholsam würde der Schlaf trotzdem nicht werden.

Seattle Gum Wall

Seattle, im U.S. Bundesstaat Washington, verfügt über eine etwas andere Touristenattraktion. Die Gum Wall in der Post Alley. Gut versteckt zwischen, unter, hinter oder neben dem Pike Place Market (je nachdem, von wo aus man guckt) findet sich hier eine Wand, die über und über mit Kaugummis beklebt ist. Mit gekauten Kaugummis, wohlgemerkt.

Market Theater
Ich habe nur Erzählungen und Geschichten von der legendären Gum Wall gehört, ehe ich 2013 selbst in Seattle war, und ich konnte mir nicht wirklich etwas darunter vorstellen. Kaugummis auf dem Boden der Fußgängerzone kennt man ja, aber an den Wänden? Ein Blick kann ja nicht schaden.
Was mir als Erstes auffiel, war, wie schwer dieses „Wahrzeichen“ zu finden ist. Die Post Alley liegt etwas abseits der Straßen und ist wirklich nur eine schattige Gasse durch die Hinterhöfe. Vom Markt aus kommt man über eine Treppe dort hinab und erwischt man den falschen Torbogen, findet man sich statt in einer feuchten Unterführung in einem gequetscht vollem Kram- und Postkartengeschäft wieder. Ich war am Ende von der anderen Seite aus erfolgreicher, wo sogar ein Schild auf die Gasse aufmerksam macht. Verblüffend ist, wie leicht man es übersieht, bedenkt man die Größe.
Und dann findet man tatsächlich eine Backsteinmauer und etwas, was wie der Hintereingang zu einer Kneipe oder ein sehr alternatives Theater aussehen könnte. Etwas zurückliegende Türe und daneben Fenster, die in den letzten zehn oder zwanzig Jahren wahrscheinlich nie geputzt worden sind. Das rote Backsteinmauerwerk tritt absolut in den Hintergrund, angesichts dieser Masse von kunterbunten Kaugummis, welche daran kleben. Es reicht ein Blick, um zu verstehen, wie es dieses Kunstwerk in die Liste der „top 5 germiest tourist attractions in 2009“ in den USA schaffen konnte. Vielen Besuchern hat es nicht gereicht, einfach einen Kaugummi zu hinterlassen. Sie haben Herzchen oder kleine Schriftzüge daraus geformt oder es auch benutzt, um kleine Zettelchen mit Botschaften zu hinterlassen.

Gum Wall

Seinen Ursprung findet diese Sehenswürdigkeit um 1993 herum, als Besucher des Market Theater die Kaugummis benutzten, um Münzen an dessen Außenwand zu kleben. Anfänglich wurden diese noch von den Theaterangestellten entfernt, doch spätestens, seit das Management des Marktes die Wand 1999 als Touristenattraktion deklarierten, gaben sie auf. Die letzte größere Reinigung lag zu diesem Zeitpunkt schon etliche Jahre zurück. Köln und Paris haben Brücken voller Schlösser, New York Graffitikunst, Los Angeles seine Promi-Imitatoren und Seattle halt eine Wand voller Kaugummi.
Damals, 2013, sah es auf jeden Fall beeindruckend aus und auf seine eigene Weise völlig skurril. Auf guten zwanzig Metern länge und so hoch, wie man halt reichen konnte, mal als kleiner Blobb, tropfend oder lang gezogen und zu Buchstaben und Zeichen geformt.
Und dann, im November 2015, gab die Marktleitung bekannt, das Kunstwerk zu entfernen. Das erste mal seit zwanzig Jahren rückten Hochdruckreiniger an und befreiten die Mauern von ihrem bunten Kostüm. Der Grund hierfür ist der Zucker in den Kaugummis. Er greift die Ziegel an und schädigt den Zementmörtel. In dem Versuch, der Erosion und dem Zerfall Einhalt zu gebieten, wurde vom 10. bis 13. November in hundertdreißig Arbeitsstunden über eine Tonne Kaugummi von den Steinen gekratzt. Kurz vorher hatte es noch den öffentlichen Aufruf gegeben, sich mit einem letzten Kaugummi und der Teilnahme an einem Fotomarathon von der Gum Wall in seiner bisherigen Form zu verabschieden.

Gum Wall Seattle
„Die Wand ist wie die Kunst, die dahinter stattfindet, ständigem Wandel unterworfen, durch jene, die sich daran beteiligen.“ Den Offiziellen des Marktes war klar, dass jede Reinigung der Wand nur ein Neubeginn, auf keinen Fall aber ein Ende sein würde und sie behielten recht. Kaum war bekannt gegeben, dass die Wand gereinigt werden sollte, organisierte sich ein Flashmob unter dem Motto „Re-gumming the gum wall.“ Die Marktleitung hatte sich in ihrer Ankündigung neugierig gezeigt, in welcher Form das Kunstwerk neu entstehen würde. Das Ergebnis hatte dann aber keiner erwartet.
Am 13. November, dem Tag, an dem die Reinigung abgeschlossen war, erschütterten Explosionen das viele Tausend Kilometer entfernte Paris. Der Donner hallte nicht nur in Europa wider, sondern dröhnte selbst im jungen, weltoffenen Seattle. „Re-gum“ änderte spontan seinen Zweck und beschloss, statt etwas schrecklich Albernem und Sinnlosem lieber etwas Albernes aber wenigstens ein wenig sinnvollem zu tun. “Re-gumming” the gum wall – for Paris. Unter den ersten Kaugummis auf der neuen Gum Wall waren Kondolenzen und Botschaften für Paris. Sie entstanden, noch bevor die lokale Presse die Bilder der gereinigten Wand veröffentlichen konnte. Seitdem wächst sie wieder und es ist kaum absehbar, wie weit sie es diesmal schaffen wird, ehe die nächste Reinigung das historische Mauerwerk darunter renoviert.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 75

Bibgetuschel

Für Flo hatte es Vor- und Nachteile, zum Lernen in die Bibliothek zu fahren. Die Vorteile waren, dass er sich besser konzentrieren konnte und es weniger Ablenkungen gab. Er konnte keinen Fernseher nebenher laufen lassen, keine Spiele nebenher spielen oder sich mit Essen ablenken. Das heißt, er konnte theoretisch schon, aber dann würde er damit die urteilenden Blicke der anderen auf sich ziehen und das war ihm nicht so egal, wie er es vielleicht erwartete. Der Gruppenzwang trieb ihn zum Fleiß.

Wenn da nicht die anderen Leute im Lernraum wären. Die meisten waren sicherlich ernsthaft mit ihrer Arbeit beschäftigt, da hatte er keinen Zweifel. Es gab allerdings auch diejenigen, die allein schon ein hervorragendes Unterhaltungsprogramm boten. Und Flo, leicht ablenkbar, wie er nun einmal war, saß Minute um Minute dort und tat nichts anderes, als sie zu beobachten.

Der Klassiker, bei dem es leider auch nur wenig zu beobachten gab, waren Leute, die vormittags kurz in die Bibliothek kamen, sich einen Platz sicherten, indem sie ihre Jacken über den Stuhl hängten und ihre Arbeitssachen ausbreiteten. Für gewöhnlich saßen sie dann sogar gute fünfzehn bis zwanzig Minuten auf ihrem Platz und arbeiteten halbherzig. Man konnte ihnen ansehen, dass sie nicht bei der Sache waren. Ihre Augen starrten auf einen beliebigen Punkt irgendwo hinter dem Buch, die brauchten nach dem Umblättern mehrere Minuten, um die Stelle ganz am Anfang der Seite zu finden, welche sie dann markierten, und blätterten zeitweise wohl nur deswegen um, weil das letzte mal bereits so lange her war.

Irgendwann erschien dann der Lernpartner oder die Lernpartnerin, für die der Nachbarplatz freigehalten worden war. Auch er/sie/es breitete sich schön aus, es folgte ein kurzes Gespräch über irgendwelche Nichtigkeiten, die in keinem Zusammenhang mit der Uni stehen konnten und nach weiteren fünf Minuten angestrengten so-tun-als-ob-man-eifrig-lernt haben beide keine Lust mehr und gehen erst einmal Kaffee trinken. Es bringt schließlich nichts, wenn man sich nicht vernünftig konzentrieren kann und außerdem muss man sich auch einmal seine Pausen gönnen. Nur lernen ist schließlich auch nicht gut, es muss ja auch noch ins Langzeitgedächtnis kommen und außerdem sitzt man ja schon fast eine Stunde in der Uni.

Ballard Locks

Natürlich wird für die Kaffeepause der Platz nicht geräumt. Man kommt ja schließlich wieder dahin zurück, wenn der Kaffee leer ist. Und man vielleicht auch noch einen kleinen Imbiss gegessen hat. Und sich noch etwas unterhalten hat. Und vielleicht kommt ja sogar noch jemand vorbei, mit dem man sich dringend unterhalten muss. Eventuell befasst man sich ja sogar wirklich mit dem Lernstoff und stößt auf Fragen, die man nicht so einfach spontan beantworten kann, und muss dafür in die Sprechstunde. Jedenfalls ist der Platz für die nächsten zwei bis drei Stunden völlig verwaist. Gelegentlich auch noch länger aber um seinen Platz muss man sich wenigstens nicht sorgen. Der ist ja solide blockiert.

Nach drei bis vier Stunden erscheinen die beiden plötzlich wieder, den Kaffeebecher noch in der Hand. Vermutlich eher ein neuer, denn der Kaffee dampft noch und ist viel zu heiß, um einen Schluck davon zu nehmen. Also muss man sich erst noch ein wenig unterhalten, ehe man einen Schluck nehmen kann und sich danach dann sogar noch einmal eine kleine Weile mit dem Lernstoff zu befassen. Spätestens dann, wenn der Kaffee leer oder kalt ist, wird es Zeit für eine weitere Pause. Man war schließlich wieder fleißig und auf einem so vermüllten Arbeitsplatz lernt es sich ja auch ganz schlecht. Da muss man eh aufstehen, und wenn man schon einmal steht, kann man auch gleich wieder Pause machen. Studieren kann so anstrengend sein.

Aber auch, wenn die beiden sich ihren ausgedehnten Pausen hingeben, ist Flo nicht gezwungen, sich mit intensivem Lernen abzulenken. Irgendwo finden sich immer auch Leute, welche die Bibliothek als Laufsteg sehen und nutzen. Mit BWL oder Jura wird man schließlich einmal zur Elite gehören und das muss man schon einmal zeigen. Außerdem will man ja seiner Familie keine Schande machen und zeigen, was man hat.

So klackern also die Stöckelschuhe von Gucci über den Boden, am Handgelenk baumelt das Täschchen von Yves Saint Lauren mit den Lernbüchern (natürlich nicht zu viele, sonst leiert das Leder aus) und hinter dem Fensterglas in der Dolce und Gabbana Brille lauern dick geschminkte Augen darauf, ob man im knappen Minirock auch ja wahrgenommen wird.

Zum Beispiel von Modell „Papas Liebling“. Sie sitzt, im Gegensatz zu den Pausemachern, stundenlang in der Uni, einen dicken Stapel Bücher neben dem Laptop, der nicht unter zweitausend Euro gekostet haben darf, und dem neuesten Luxussmartphone. Auf beidem wird permanent die Welt der Social Media überwacht. Facebook, Twitter, Pinterest, Instagram und Tumblr, am liebsten auch noch alles zeitgleich und parallel. Auch sie ist natürlich nur in edle Stöffchen gehüllt. Wenigstens ist der Kaffee in der Thermoskanne FairTrade, um das soziale Gewissen zu befriedigen.

Ihre Mitschriften sind in einer peniblen bis pedantischen Handschrift und mindestens vierfarbig, gerne auch mit Herzchen, Blumen und Sonnen verziert. Es ist die saubere Abschrift von hastig in der Vorlesung mitgeschriebenen Notizen und den Folien im Internet. Immerhin hat sie sich beim Abschreiben gründlich damit befassen müssen, das sieht man.

Aktuell gilt ihr Interesse aber hauptsächlich dem Laptop. Social Media hat Pause, es ist die Shoppinglaune ausgebrochen. Mit der besten Freundin am Telefon wird sich emsig beraten. Bademode für den nächsten Urlaub in Thailand oder der Karibik ist bereits abgehakt, nun werden Oberteile und Kleider diskutiert. Unterwäsche und Dessous werden später folgen, immer noch im Foyer der Bibliothek, versteht sich.

Was Flo der werten Dame allerdings ohne Zögern zugestehen muss, ist, dass sie Geschmack hat. Die ausgesuchte Kleidung gefällt ihm und unwillkürlich stellt er sich vor, wie Kristina wohl in solcherlei Mode aussehen würde. Es ist immerhin deutlich verspielter, als die edle Schlichtheit, die sie bevorzugt. Ihm fällt auf, dass er seit sicher fünf Minuten mit beiden Augen beobachtet, statt wie üblich ein Auge in Büchern oder auf dem Bildschirm zu haben. Das Theater, welches ihm hier geboten wird, ist einfach viel zu verlockend.

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Er will sich grade wieder zu seiner Arbeit zwingen, da erscheint die nächste Ablenkung. Der junge Mann bedient alle Klischees der Ingenieursstudierenden. Schlackerndes Hemd, schlecht sitzende Brille auf der Nase, Taschenrechner und wirre Aufzeichnungen von Berechnungen, die auch sauber aufgeschrieben noch gerade zu ekelhaft komplex sind, unter dem Arm. Er steht offensichtlich unter großem Stress, guckt sich wirr und eingeschüchtert nach einem leeren Platz um.

Doch die einzigen freien Plätze sind die, der beiden Kaffeetanten, die gerade eben mal wieder in ihre Pause verschwunden sind. Ihr Verschwinden wurde von allen drum herum sitzenden mit einem geringschätzigen Kopfschütteln kommentiert. Welch eine Platzverschwendung.

„Die zwei Plätze da sind für sicher drei Stunden noch frei. Räum einfach alles auf einen Tisch, die gehören eh zusammen. Die machen wahrscheinlich grad Kaffeepause.“

Flo muss innerlich beinahe lachen, als er sich die Worte sagen hört. Die beiden werden reichlich verdutzt gucken, wenn sie zurückkommen. Aber er ist sich sicher, wenn sie so dreist sein sollten, sich auch noch darüber zu beschweren, dann sitzen hier einige Studierende, die ihm dankbar zur Hilfe kommen werden. Jeder hier ist schon mindestens einmal durch die Gebäude geirrt, auf der Suche nach einem Platz zum Lernen.

Zu einer Konfrontation kommt es dann aber doch nicht. Drei tatsächlich sehr produktive Stunden später ist die Kaffeepause immer noch nicht vorbei. Dafür hat sich der junge Ingenieursanwärter bis zur Verzweiflung festgefressen. Niemand hier kann ihm helfen, eine Berechnung von finiten Elementen seines Bauteils durchzuführen. Er verschwindet, um einen Hiwi, die Sprechstunde oder irgendjemanden zu fragen, der ihm wenigstens einen Hinweis geben kann. Seine Hände zittern und die Angst vor einem vergeigten Drittversuch und damit dem Ende seines Studiums rauben seinem Gesicht jede Farbe.

Draußen geht die Sonne unter und Papas Liebling hat keine Lust mehr, ihre sauberen Abschriften bunt einzufärben. Die Bestätigungsmails ihrer Einkäufe sind eingetroffen und sie muss feststellen, dass die über vierhundert Euro ihr Konto stärker beanspruchen, als sie es erwartet hatte. Natürlich ist es immer noch solide gedeckt, trotzdem wird sie später noch ihre Eltern anrufen und sich darüber beklagen, dass sie nur das billige Brot beim Bäcker kaufen kann und die Rindersteaks ja viel zu teuer sind. Mama wird den Wink mit dem Zaunpfahl schon verstehen und hundert Extraeuros fürs Einkaufen schicken. Das Leben ist nun einmal teuer.

Flo indes hat genug für heute. Von den zehn Stunden, die er heute in der Bib verbracht hat, sind bestimmt vier nur dafür geopfert worden, die Umgebung zu beobachten und zu belauschen. Er kommt sich vor wie inmitten einer billigen Realityshow im Privatfernsehen und hat das scheußliche Gefühl, viel zu langsam vorangekommen zu sein. Vielleicht bleibt er morgen einfach zu Hause und lernt dort. Dann kann er die Schuld für seine Ablenkung wenigstens niemand anderem geben.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 74

Mindeshaltbarkeitsdaten

Es war ein langer Tag in der Uni gewesen. Dämmerung legte sich bereits über das Land und eine niedrig stehende Sonne würde lange Schatten werfen, wenn sie nicht hinter dicken und düsteren Wolken verborgen wäre. Ein kalter Wind zerrte an den sich verfärbenden Blättern und bereits kahlen Ästen. Die Luft roch schwer nach Regen, der wahrscheinlich noch später am Abend einsetzen würde.

Flo stapfte mit hängenden Schultern durch angewehte Haufen von Blättern und umherfliegendem Müll. Eine alte Zeitung versuchte sich gerade um seine Beine zu wickeln, als er die Straße überqueren wollte. An der nächsten Häuserecke erzeugte der raue Wind eine kleine Windhose, in der, scheinbar fröhlich, eine Plastiktüte mit den Blättern um die Wette tanze. Für die Tageszeit waren erstaunlich wenige Autos unterwegs. Auch die Geschäfte wirkten irgendwie dunkler als gewöhnlich. Der Herbst kündigte sich mit all seiner Macht an.

Dass gerade vorlesungsfreie Zeit war, hieß nicht, dass Flo nicht in die Uni musste. Heute hatte er sich einen Tag in der Bibliothek gegönnt, um sein Wissen etwas aufzufrischen und das nächste Semester einmal vorzubereiten. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er so viel Einsatz gezeigt hatte, und bislang war er irgendwie enttäuscht. Vielleicht hätte er nicht gleich nach den ersten zwei Stunden überragende Ergebnisse erwarten sollen, aber er war ungeduldig.

Die Dönerbude bei ihm an der Ecke verströmte appetitanregenden, einladenden Duft. Seltsamerweise nach allem, außer Döner. Er überlegte kurz, ob er sich trotzdem einen leisten wollte, wobei Pizza oder Burger natürlich auch verlockend waren. Doch eigentlich hatte er noch genug Essbares zu Hause. Vielleicht sollte er vorerst damit vorlieb nehmen. Immerhin wollte er nichts schlecht werden lassen. Er konnte es einfach nicht leiden, Essen wegwerfen zu müssen. Außerdem war es ungesund, dauerhaft von FastFood zu leben. Gut, das gleiche galt theoretisch für Bier, aber da machte er eine Ausnahme. Immerhin war sein Körper quasi perfekt an Bier angepasst, nicht aber an Pizza.

Er öffnete die Haustüre, ohne Pizza oder Döner in der Hand. Ein Mix aus Zwiebel-, Fisch-, Bratfett- und Kuchengerüchen hatte sich im Treppenhaus gemischt. Er hörte und spürte seinen Magen laut knurren. Es war wirklich Zeit, etwas zu essen. Kurz darauf sah er sich in seiner Küche um, und verspürte nicht das allerkleinste Verlangen nach irgendetwas, was er sehen konnte. Vielleicht hätte er sich doch eine Pizza, einen Döner oder eine Nudelbox holen sollen. Dann würde er sich jedenfalls nicht mehr mit dem Thema befassen müssen, sondern konnte einfach essen.

Die Dosensuppen erschienen ihm gerade in etwa so verlockend wie Camping auf einem überfluteten Campingplatz. Sein Brot wanderte direkt in den Mülleimer, ohne die Tüte zu verlassen. Die grünen Flecken waren auch von draußen zu sehen. Kartoffeln oder Nudeln zu kochen war ihm zu viel Aufwand und das Müsli war leer. Reis mit Pesto wäre vermutlich das Einfachste gewesen, aber das hatte er schon letzten Monat gehabt und damit war sein Bedürfnis danach für dieses Jahr eigentlich gestillt.

Gerade, als er sich schon mit einer rohen Scheibe Käse zufriedengeben wollte, fiel ihm etwas ins Auge. Unten im Regal, hinter Aufbackbrötchen und Nudeltüten versteckt, lugte die Ecke eines bunten Pappkartons hervor. Futter! „Frühstückszerealien“, wie die Werbung es so gerne vollmundig nannte. Vermutlich einfach, weil es nicht so schnöde wie „Puffweizen“ klang, und der Kunde doch gerne ein tolles Wort hören will, damit er sich wertvoller und professioneller fühlen kann. So oder so stand dort eine vergessene, unberührte und original verpackte Verpackung von genau diesem kostbaren und vollwertigen Nahrungsmittel und erschien ihm wie ein sieben Gänge Menü eines Sternekochs.

2015-08-28 20.03.10

In dem Moment, in dem er sich entschieden hatte, standen auch bereits Milch und eine Schüssel auf dem Tisch. Der Karton leistete verhaltenen Widerstand, was mit einem ungeduldigen Knurren bedacht wurde, ansonsten aber nicht ins Bewusstsein drang. Die innere Plastiktüte raschelte kurz und mit hellem Klimpern und Rasseln fiel ihr Inhalt in die Schüssel. Der Rest der Küche verschwand in einem wohligen Nebel, nur das Essen blieb im Fokus. Flo schnupperte kurz an der Milch. Sie stand schon seit einigen Tagen im Kühlschrank und er vertraute Milch grundsätzlich nicht. Sie war zu lebendig, als dass man leichtfertig mit ihr umgehen sollte. Zu oft schon hatte er erlebt, dass sie auch im Kühlschrank aktiv geworden war und einen fiesen Beigeschmack bekommen hatte. Diese aber roch herrlich frisch, genau, wie sie sein sollte.

Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als der weiße Strahl in die Schüssel plätscherte und der leichte Puffweizen aufschwamm. Er konnte die mit einer feinen Schicht süßen Honigs überzogenen Körner schon schmecken. Der vertraute Duft stieg ihm in die Nase, wenigstens glaubte er das. Es war ein leicht anderer Geruch, nur wischte er den Gedanken daran fix beiseite.

Der erste Löffel. Dankbar kaute er auf den knusprigen Körnern und schloss für einen Moment und mit einem sehr tiefen Seufzer die Augen. Das war doch bereits alles viel besser. Ein zweiter und ein dritter Löffel folgten, nur die Befriedigung setzte nicht so wirklich ein. Stattdessen hatte er ein merkwürdiges Gefühl.

Irgendwie schmeckte sein Essen anders, als seine Erinnerung es erwartet hätte. Primär roch es auch einfach völlig anders, als es sollte. Wieso hatte er das nicht sofort bemerkt? Einen dermaßen penetranten Geruch musste er doch auf jeden Fall wahrgenommen haben. So viel Vertrauen hatte er schon noch in seinen Körper. Während er den nächsten Löffel kaute, überlegte er, ob er die Schüssel noch zu Ende essen sollte, oder doch lieber weg goss.

Weg schütten wäre natürlich eine ziemliche Lebensmittelverschwendung, aber wenn es nun wirklich schlecht geworden war? Andererseits, es war Puffweizen. Was sollte sich an diesem Zeug befinden, was schlecht werden konnte? Der Geruch des perfekten Produkts allein war schon nicht gesund, aber das hier war noch einmal anders. Er zog die geöffnete Tüte aus dem Karton und schnupperte daran. Ein beißender Geruch von Plastik und Lösungsmitteln stieg ihm in die Nase, trieb ihm fast die Tränen in die Augen. Angesichts dieses Geruchs war es ein Wunder, dass die Milch noch nicht geronnen war. War es am Ende alles nicht so schlimm?

Mit dem nächsten Löffel kam für ihn die Gewissheit. Es war nicht so schlimm, es war schlimmer. Sein Körper wehrte sich mit allem, was er hatte. Flo konnte sich kaum erinnern, wann er das letzte Mal so schnell gerannt war. Bis zum Klo brauchte er 2,3 Sekunden, weitere 0,1 Sekunden dauerte es, den Deckel zu öffnen. Es hätte keine hundertstel Sekunde länger dauern dürfen.

Als er wieder Luft bekam und sich traute, die Toilette zu verlassen, untersuchte er den Karton genauer. Alles daran wirkte normal, auch die Tüte darin war intakt und optisch einwandfrei. Dann fiel ihm etwas anderes auf. Kleine schwarze Punkte setzten sich zu einem Mindesthaltbarkeitsdatum zusammen. Flo war ehrlich überrascht, so etwas überhaupt auf Puffweizen zu sehen aber selbst Salz wies eins auf, und das war als mineralischer Rohstoff doch beinahe für die Ewigkeit geschaffen. Es wäre kein Problem, wenn ein Mindesthaltbarkeitsdatum geringfügig überschritten war. Es war immerhin ein Mindestdatum und kein Maximum. Bis dahin ging es auf jeden fall! Nur dieses Datum sah etwas anders aus und Flo sah ein, dass Puffweizen wirklich nicht für die Ewigkeit geschaffen sein konnte. Und dabei war diese Packung erst etwas mehr als zwei Jahre über ihr Mindesthaltbarkeitsdatum. Es war doch wirklich eine Schande.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 73

Nora

„Oh mein Gott, es ist mir egal, was es alles noch an Wohnungen gibt, wir müssen uns endlich für eine entscheiden. Ich muss unbedingt aus dieser WG raus!“

Mia lief wie ein Tiger im Käfig vor Erik auf und ab. Sie war eben erst zur Tür hinein gekommen und hatte seitdem nur einen Beutel mit Wechselklamotten auf den Boden geworfen und ihm einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Sie war geladen wie eine Kanone und die Tatsache, dass sie nun eine Pause machte, erzeugte nicht einmal eine trügerische Ruhe. Sie erwartete lediglich, dass er fragte, was los war oder ihr in irgendeiner Form signalisierte, dass sie weiter reden sollte. Es war nicht so, dass sie ihm dabei eine Option offen ließ, sie erachtete es als Höflichkeit, wollte sich aber wahrscheinlich nur seiner Aufmerksamkeit versichern.

„Hm?“ Welch wohlartikulierte und fein formulierte Gegenfrage. Das intellektuelle Äquivalent zum legendären deutschen Fragewort mit zwei Buchstaben. Universell einsetzbar und alles umfassend und außerdem völlig ausreichend, um den Tiger wieder auf seine Reise durch den Käfig zu schicken. Er konnte unterdessen weiter sein Zimmer aufräumen. Es reichte aus, wenn er anwesend war, ab und an reagierte und ihren Ärger aushielt.

„Nora raubt mir noch den Verstand. Es ist der Wahnsinn, wie viel negative Energie in so eine kleine Person passt. Ich hab ja kein Problem damit, wenn mal jemand einen schlechten Tag hat, aber sie sucht ja regelrecht danach. Und dann kann sie das natürlich nicht einmal für sich behalten. Gestern Abend komme ich nach Hause und was finde ich da vor? Die Kuh sitzt in der Küche, säuft MEINEN Sekt aus, und zwar beide Flaschen, und heult mir dann die Ohren voll, wie ungerecht die Welt ist. Wieso das alles? Weil sie auf einer Hochzeit eingeladen ist! Ihre beste Freundin heiratet einen Kerl, mit dem sie noch kein halbes Jahr zusammen ist. Ich sag dir, nach spätestens einem Jahr steht die Scheidung aus aber egal. Aber das ist nicht das, worüber sie rumheult, nein! Sie sitzt da und meint, dann muss sie ja ihre ganzen Freundinnen wieder sehen und die erzählen ihr dann wieder, wie perfekt deren Leben doch ist und alles. Du weißt schon, erfolgreich in der Uni oder halt im Beruf und so. Tja, hätte sie halt mal nicht Germanistik und altchinesische Geschichte studieren sollen. Selber Schuld würde ich sagen. Aber da jammert die mir dann zwei Stunden lang die Ohren mit voll und wundert sich, dass ich sauer bin, weil sie mir nicht einmal was Sekt übrig lassen wollte.

Aber das Beste ist ja, und da habe ich wirklich innerlich gefeiert, dann heult die rum, weil sie keine Begleitung für die Hochzeit hat. Die Anderen kommen alle mit Freund oder Freundin nur sie hat natürlich niemanden. Weißte, erst vergrault die jeden Typen, indem sie ihre Dildos demonstrativ im Zimmer rumliegen lässt, wenn die vorbei kommen, und dann sowas. Ich hätte sie ja beinahe laut ausgelacht. Aber das würde die natürlich auch alles niemals einsehen. Ich hab sie mal einfach unauffällig gefragt, was denn mit dem letzten Typen war. Der war ja sogar noch ein zweites mal da, schien also mal wirklich ernsthaft interessiert zu sein. Wenigstens für den Moment. Nein, mit dem hat sie Schluss gemacht, weil ihr die Muskeln nicht dick genug waren. Vermutlich eher das Portemonnaie aber egal. Der letzte Typ, der nicht nach einem mal wieder sofort weg war, den hat sie ja abgeschossen, weil sie ein Taschentuch neben seinem Bett gesehen hat. Toller Grund, nichtwahr? Sagt, sie will keinen Kerl, ders sich selbst macht, aber selber die Dildos rumfliegen lassen. Weißte, und ich darf mir dann wieder anhören, wie scheiße die Männer doch alle sind, während die mein Zeug wegsäuft. Die kauft mir sowas von neuen Sekt, und nicht den Billigen.“

Erik kroch unter dem Bett hervor und zog eine staubige, bunte Kiste mit sich. Er hatte seine Fotokiste schon vermisst und gesucht, nur halt nicht unter dem Bett. Was hatte sie da schließlich verloren? Und was hatte Mias Unterwäsche da drin verloren? So sehr sie es liebte, über ihre Mitbewohnerinnen zu schimpfen, sie nahm immer mehr deren Sinn für Ordnung und Sauberkeit an. Hinter ihm stieg Mia auf ihrer Wanderroute über seine Beine und holte tief Luft.

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„Jedenfalls habe ich ihr am Ende geraten, alleine auf die Hochzeit zu gehen. Soll sie sich halt an den Trauzeugen des Bräutigams ranmachen. Der wird sich zwar sicher zu schade dafür sein, aber das muss sie ja nicht wissen. Wer weiß, vielleicht versucht sie es wirklich. Auf die Stories bin ich dann aber wirklich mal gespannt. Ich sags dir, der wird sie hart abblitzen lassen und vor der ganzen Mannschaft blamieren. Dann werde ich sowas von lachen. Naja, irgendwann war sie jedenfalls noch besoffen genug, als dass sie mir dann das Brautkleid noch gezeigt hat, was sich Charlotte ausgesucht hat. Extrem kitschig aber es passt halt irgendwie zu ihr. Nur Nora will sich dann halt gleich was holen, was dann vom Stil her dazu passt. So best Friends und so. Ehrlich, das ist so garnicht ihr Stil und wird einfach nur schrecklich aussehen.“

Kitschig war wirklich nicht Noras Typ. Sportlich schlicht würde gehen, aber wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann würde sie es auch umsetzen. Er wischte den Staub von seiner Kiste mit Karteikarten und stellte sie zurück an ihren angestammten Regalplatz. Auch sie hatten auf mysteriöse weise ihren Weg unter das Bett gefunden. Unterdessen war er erstaunt, wie gut er der Lamentation folgen konnte, ohne wirklich aktiv zuzuhören. Lange konnte ihr Ärger auch nicht mehr vorhalten. Ein Großteil ihres Pulvers hatte sie verschossen und statt durch das Zimmer zu laufen, hatte sie sich an den Schreibtisch gesetzt. Dort war er schon fertig mit aufräumen und putzen. Lediglich sein Laptop verströmte leises Gedudel und kämpfte damit verzweifelt gegen trübe Stimmung vor dem Fenster und Mias Ärger an. Vielleicht sollte er die Musik demonstrativ etwas lauter machen, möglicherweise würde das aber auch in einer Katastrophe enden. Er putzte stattdessen seinen Spiegel.

„So ein kitschiges Kleid würde ihr jedenfalls absolut nicht stehen.“ Da war er ja bereits gewesen… „Aber wahrscheinlich macht sie es trotzdem. Wer weiß, vielleicht sieht es ja an ihr dann extra nuttig aus. Könnte doc lustig werden…“

Nach einem kurzen Moment bemerkte Erik eine verdächtige Ruhe. Er drehte sich um und sah, wie Mia an seinem Laptop etwas las.

„Sag mal, wieso schreibt dir Tina eigentlich eine Mail?“

Scheiße. Damit war die Kanone wieder geladen bis zum Rand. Er schrieb schon eine ganze Weile wieder mit Tina, nur durfte Mia davon nichts wissen. Nachdem die Fronten klar waren, und Tina das zu akzeptieren schien, sah er keine Notwendigkeit mehr, ihr die kalte Schulter zu zeigen. Wieso auch? Aber seine Freundin würde das übermäßig aufblasen und es einfach nicht verstehen können und wollen. Jetzt war es nur zu spät, um das Passwort des Laptops zu ändern.