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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 52

Jahrestag

Es war ein Donnerstag vor genau einem Jahr gewesen. Flo hatte sie gedrängt, ihn auf eine Party zu begleiten, wo er sich höchst wahrscheinlich eh nur abschießen würde, und dann von seiner Umgebung nichts mehr mitzubekommen. Aber Erik hatte ihn damals begleiten wollen, also hatte sie eingewilligt und verabredet, dass er sie abholen würde.

Damals war Erik noch der etwas schüchterne Kommilitone gewesen, der neben dem lauten Flo immer etwas untergegangen war, obwohl er ihn um etwas mehr als einen Kopf überragte. Sie hatte ihn gerne in den Vorlesungen beobachtet, wie er sich fleißig Notizen machte und die Augen über die schlechten Witze der Dozenten verdrehte. Vermutlich wäre er ihr nie aufgefallen, wenn sie Flo nicht schon gekannt hätte. Sie waren zu Schulzeiten im gleichen Schwimmverein gewesen. Sie hatte ihn immer gemocht, als guten Freund, aber auch nie mehr. Teilweise, weil er ihr einfach zu alt war, und er schien damit zufrieden zu sein.

Nach der Schule war es so gekommen, dass sie einen Studienplatz in einer fremden Stadt bekommen hatte. Das Einzige, was sie wusste, war, dass es dort einen Fluss und eine Uni gab und, dass Flo dort bereits studierte. Er hatte ihr bereitwillig geholfen eine Wohnung zu finden und war beim Einzug behilflich gewesen. Geschwommen war er damals offenbar schon länger nicht mehr. Mia war sehr erstaunt gewesen, dass Flo nicht nur das gleiche studierte wie sie, sondern auch noch im gleichen Semester war. Er redete nicht gerne darüber, aber er hatte mit seinem ersten Studienfach etliche Probleme gehabt und war auch aktuell nicht allzu erfolgreich.

Mit der kleinen Mia aus dem Schwimmverein auf einer Stufe zu stehen war aber offensichtlich eine Herausforderung für ihn und er gab sich große Mühe, nicht noch weiter zurückzufallen. Mia half ihm dabei und bald hatte sich eine kleine Lerngruppe auf Flo, Mia und Erik gebildet. Es dauerte lange, bis Erik etwas auftaute und nicht nur, wie ein Schatten, stumm seine Aufgaben erledigte. Wirklich laut wurde er aber auch dann noch nicht.

Selbst Flo wurde im Laufe der Zeit etwas ruhiger. Mia hatte zeitweise den Eindruck, er könne tatsächlich erwachsen werden, aber dieser Gedanke schien ihr zu absurd. Alles, was sie an ihm im Laufe der Jahre kennengelernt hatte, war albern und kindisch. Er war zuverlässig, wenn man genug Toleranz einräumen wollte und spontan, wenn man ihm rechtzeitig Bescheid gab. Überließ man ihm die Planung einer Sache, konnte man sich auf ein heilloses Chaos gefasst machen. Für Mia grenzte es nicht mehr an ein Wunder, es überschritt jede Grenze, wie er es trotzdem immer wieder schaffte, am Ende erfolgreich damit zu sein.

Erik mochte keinen guten Einfluss auf Flo haben, aber immerhin auch keinen Schlechten und Flo wiederum hatte keinen negativen Effekt auf Erik. Auch wenn er drei Jahre jünger war als Flo und ein Jahr jünger als Mia, er wirkte doch recht reif und gefestigt für sein Alter. Auch das war wohl einer der Gründe, wieso sie ihn so faszinierend fand. Sie hatte sich nur nie getraut, es ihm irgendwie zu offenbaren. Wie sollte sie auch bei ihm auf Interesse stoßen? Er sah sie doch sicher nur als die Freundin von Flo, die Nachhilfelehrerin oder einfach das Mädchen, was bei ihnen mit in der Vorlesung saß.

Gut, er hatte sie immer wieder gefragt, ob sie mit Flo und ihm etwas unternehmen wolle und auch als Flo mal keine Zeit hatte, weil er wieder einmal mit seinen Aufgaben zu sehr in Verzug geraten war, hatte er sie zu kleinen Ausflügen eingeladen. Gelegentlich hatte sie sogar zugesagt, ohne genau zu wissen, was sie mit der Situation anfangen wollte. Sie hatte nur laufend das Gefühl, für eine gewisse Spannung zwischen ihnen verantwortlich zu sein, die es unmöglich machte, sich zu entspannen und zu erholen. Wie sollte er sie denn auch so mögen?

Wahrscheinlich belog sie sich selbst, wenn sie behauptete, es sei doch eh nicht mehr als eine gewöhnliche Freundschaft. Sie verschwendete keinen Gedanken daran und behauptete, sich alleine doch eh viel wohler zu fühlen. Lieber auf den richtigen Partner warten, als sich jetzt blindlings in irgendein Abenteuer zu stürzen. So etwas ging doch sowieso immer schief und auf ein gebrochenes Herz konnte sie gut verzichten. So etwas lenkte einen nur vom Studium ab.

Und Erik, der verkniff sich die Initiative und wartete ab. Er beobachtete sie, versuchte zu deuten, was hinter ihrer Stirn vorging und hörte aufmerksam zu. Menschen konnten so kompliziert sein und er verstand sich nicht besonders gut darauf, sie zu deuten. Flo müsste es doch wissen, er las in den Gesichtern der Menschen doch wie in einem offenen Buch. Ihn direkt fragen wollte er aber nicht. Sie musste es auch nicht, denn Flo hatte inzwischen die Geduld verloren und begonnen, auf seine Weise aktiv zu werden.

Zu Verabredungen zu dritt war er mal mit einer Begleitung erschienen, mit der er sich dann sehr frühzeitig wieder zurückzog oder er hatte so kurzfristig abgesagt, dass Mia und Erik am Ende zu zweit da standen und das Signal nicht verstanden. Häufig kam er zwar mit, begab sich aber an den Rand der kleinen Gruppe und beobachtete das Geschehen auffällig unauffällig. Mia und Erik verkniffen es sich nach wie vor, übereinander herzufallen, in der Sorge, dabei auf die Nase zu fallen. Flo fiel nichts mehr ein, womit er sie aufeinander aufmerksam machen konnte.

Doch dann, als er schon alle Hoffnungen aufgegeben hatte und sich darauf eingestellt hatte, dass sie sich auf ewig mit einer Freundschaft begnügen würden, selbst wenn sie diese intensive Spannung besaß, kam der legendäre Abend.

Angekündigt war die Party des Jahrhunderts, schon zum mindestens zwanzigsten Mal dieses Jahr. Was am Ende dabei herumkommen würde, war ein einziges Besäufnis mit billigem Bier, schlechter Musik und zu vielen Leuten, mit denen sie nüchtern wohl nie reden würden. Es würde, wie jede angekündigte ‚Party des Jahrhunderts‘, mehr als weit davon entfernt sein, eine Party des Jahrhunderts oder gar des Jahres zu werden. Aber Alkohol ist die wirksamste, bekannte Zeitmaschine und vielen würde das reichen.

Flo hatte wissen müssen, dass sowohl Erik als auch Mia dieser Art von Partys nichts abgewinnen konnten, aber hatte sie dennoch gedrängt, ihn zu begleiten. „Ihr könnt mich da doch unmöglich alleine hingehen lassen! Und ich muss da auf jeden Fall hin. Die süße Rothaarige aus dem Seminar letztes Semester geht da hin.“ Was für eine phänomenale Aussicht. Nicht einfach nur sinnlos Besoffene, auch noch sinnlos Besoffene, die auf der verzweifelten Jagd nach einer Traumpartnerin im Schweinestall waren. Mia war der festen Überzeugung, das Niveau dort mit ihrer bloßen Anwesenheit über den üblichen Schnitt heben zu können.

Trotzdem hatte Flo Erfolg gehabt und so hatte zunächst Erik, dann auch Mia zugestimmt, mit hinzugehen. Erik wollte sie abholen und mit ihnen gemeinsam dort hin gehen. Sie würden sich vielleicht auch an der Bushaltestelle dort treffen, wenn er schon früher da war, um das Bier und die Gesellschaft zu testen. Wer allerdings zu früh war, was Erik. Mia stand noch vor Spiegel und sortierte Outfit, als er klingelte. Wäre er nur fünf Minuten eher gekommen, hätte er eventuell noch Unterwäsche auf dem Bett liegen sehen können. Insgeheim ärgerte sie sich, dass es dafür nun zu spät war. Vielleicht wäre das der nötige Anstoß gewesen.

Ihren Teddybären streichelnd saß er auf ihrem Bett und fragte sie über ihren Tag aus, während sie sich schminkte. Im Spiegel konnte sie sehen, wie er sie mit seinen Blicken verschlang. Er war sich des Spiegelbildes nicht bewusst, weswegen er diesmal nicht gleich verlegen den Blick abwandte. Zum ersten Mal nahm sie wahr, wie er sie ansah, mit welchem Gesichtsausdruck, und mit welcher Stimme er mit ihr sprach. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie beinahe zitterte. Nur mit großer Anstrengung vollendete sie ihren Lidstrich perfekt. Dieser Blick, auf den sie so lange gehofft hatte. Nur wieso saß er nur da und unternahm nichts?

„Und, wie seh ich aus? Nimmst du mich so mit?“

Mit ausgebreiteten Armen stand sie vor ihm, drehte sich einmal um die eigene Achse, präsentierte sich von allen Seiten. Erik war aufgestanden und auf sie zugekommen. Vorsichtig hatte er eine Hand gehoben und ihr sanft eine Strähne aus dem Gesicht geschoben. Er war so nah, dass sie nichts anderes mehr als ihn riechen konnte. Selbst ihr gutes Rosenparfum war zur Seite getreten. Er musste ihr Herz einfach schlagen hören oder ihr inneres Beben sehen.

„Perfekt. Überall, wohin du willst.“

Die Antwort kam mehr geflüstert als gesprochen. Er lies seinen Arm wieder sinken, strich dabei ihren Arm entlang, bis er ihre Hand berührte. Im nächsten Augenblick fielen sie. Aufs Bett, übereinander her, in ihre Arme, auf ihre Lippen. Über Monate aufgestaute Gefühle, Küsse und Berührungen brachen durch ihre Dämme und brandeten über das Pärchen hinweg. Glühende Haut und heißer Atem prallten aufeinander, während der arme Teddybär unbeachtet aus dem Bett fiel.

Der nächste Morgen kam und mit ihm strahlender Sonnenschein und die Vorlesungen. Bisher schien das Semester zu gut zu starten, das gab ihnen beiden viel Rückenwind. Sie gingen nicht davon aus, Flo in der Uni zu finden. Sie sollten sich vielleicht bei ihm entschuldigen, dass sie ihn alleine gelassen hatten, auch wenn er selbst oft so spontan abgesprungen war, dass sie nur zu zweit da standen. Die Überraschung wartete an der Hörsaaltür, bis zu der Flo seinen Körper geschleift hatte, obwohl er offensichtlich mal wieder nicht in der Verfassung für die Uni war.

100_8507bMia konnte kaum glauben, wie viel sich seit dem verändert hatte, für sie alle drei. Es war ihr wie nur ein Augenblick vorgekommen und gleichzeitig wie ein sehr sehr langes Jahr. Ihre Lerngruppe war erfolgreich gewesen und hatte sich eifrig und mit Erfolg durch alle Klausuren gearbeitet. Mit Erik hatte sie ein turbulentes, gemeinsames Jahr erlebt, ein Abenteuer, von dem sie nicht erwartet hätte, dass es möglich sein würde. Ihre gemeinsame Freundschaft zu Flo hatte nicht darunter gelitten, auch wenn sie es erwartet hatte. Er schien sogar eher erleichtert zu sein, dass sie zueinander gefunden hatten.

Während sie in Erik einen soliden Anker für sich gefunden hatte, war Flo etwas ins Straucheln geraten. Mit Jenny hatte er keinen großen Glücksgriff gelandet. Vor einigen Wochen hatten sie sie noch einmal in der Stadt gesehen. Sie trug einen stattlichen Bauch vor sich her und machte einen recht abgekämpften Eindruck. Flo hatte wohl erwartet, dass es ihm egal sein würde. Trotzdem wirkte er recht geknickt, als er realisierte, dass sie dieses Kind während der gemeinsamen Zeit mit ihm empfangen haben musste. In Mias Augen tat ihm Kristina sehr viel besser. Wenigstens wirkte er nun nicht mehr wie in einer beiläufigen Schwärmerei, sondern handfest verliebt. Mia wünschte ihm das gleiche Glück, wie Erik und sie es erleben konnten. Gelegentlich etwas ruppig, aber dennoch tief und innig.

Erik und Mia saßen in der Küche von Mias WG. Sie hatten sich ein kleines Festmal zubereitet, statt auszugehen. Mias Mitbewohnerinnen waren weg, sie hatten die Wohnung für sich und konnten morgen früh ausschlafen. Aus dem Plan, einfach ein neues Rezept auszuprobieren und gemütlich ihren Abend gemeinsam zu verbringen, war ein opulentes Drei-Gänge-Menü geworden. Auch wenn sie eigentlich abgesprochen hatten, dass sie ihren Jahrestag wie jeden anderen Tag behandeln wollten, saßen sie jetzt hier doch bei einem romantischen Abendessen mit Blumen bei Kerzenschein. Erik hatte ihr eine Rose mitgebracht. Keine Schnittblumen sondern eine kleine Pflanze, mit Blüten, Blättern, Blumentopf und Überlebenschancen. Wenn er das zu oft tat, würde ihre Fensterbank nicht mehr ausreichen. Einer lebenden Pflanze konnte sie trotzdem mehr abgewinnen als einer toten. Es wunderte sie beinahe, dass er daran gedacht hatte und nicht mit dem klassischen Rosenstrauß aufgetaucht war.

Den großen Knall aber hatte er sich für das Dessert aufgehoben. Bei Mousse au Chocolat mit Vanillesoße und Himbeeren hatte er ihr ein kleines Päckchen hinübergeschoben. Unter dem bunten Papier war ein Buch zum Vorschein gekommen. Auf dem Einband prangte Eriks Name über dem Titel. Sie hob die Augenbrauen und sah erstaunt zu ihm auf. Er löffelte nur unbeeindruckt seinen Nachtisch.

„Du hast ein Buch geschrieben? Das hast du dann also die ganze Zeit auf deinem Laptop gehämmert.“ Sie drehte das Buch in ihren Händen und strich mit dem Finger über den Rücken. „Sogar gebunden. Du hast so schnell einen Verlag dafür gefunden? Du hast doch noch vor dem Urlaub daran geschrieben, oder nicht? Ich dachte immer, das dauert ewig lange.“

„Tut es auch. Das habe ich in der Druckerei neben der Mensa in Auftrag gegeben aber ich habe es auch an Verlage geschickt. Immerhin fünf Stück haben noch keine Absage geschickt, also warten wir einmal ab.“

Beeindruckt schlug sie es auf. Die erste Seite enthielt die Widmung. „Für Mia. Danke, dass du mich dazu gebracht hast, meine Träume nicht nur zu jagen, sondern auch zu fangen.“ Handschriftlich hatte er noch ein „Viel Spaß“ ergänzt.

„Also wenn ein Verlag noch etwas geändert haben will, ehe er es druckt, dann bleibt das aber trotzdem so da drin. Aber ich hoffe natürlich, dass es ziemlich genau so in Druck geht, wie du es da jetzt hast.“

Er hatte sich echt die Zeit genommen, ein ganzes Buch zu schreiben. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er die Idee dazu hatte, geschweige denn den Traum. Flo war dafür zuständig, Hirngespinste zu verkünden. Mal wollte er einen Film drehen oder eine eigene Stadt bauen, wahlweise auch ein Kreuzfahrtschiff designen, ohne jemals ein Schiff betreten zu haben. Umsetzen würde er nichts davon. Erik hatte von alledem nichts erwähnt. Er hatte sich einfach hingesetzt und das Buch geschrieben. Direkt unter ihren Augen und ohne dass sie es mitbekommen hätte. Und sie war der Anlass gewesen.

Sie hätte die Widmung nicht auch noch haben müssen. Es reichte ihr doch vollkommen, dass er ihr das Gefühl gab, ihm gut zu tun und auch nach all der Zeit an ihrer Seite, ihr noch immer das gleiche Herzklopfen, wie am ersten Tag, zu geben. Das war vielleicht das größte Geschenk. Sie fing seinen Blick ein und versank derart tief in diesen strahlenden Augen, dass sie völlig vergaß, dass sie auch eine Kleinigkeit für ihn hatte. Für heute Abend hatte sie sowieso etwas ganz anderes mit ihm vor.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 51

Heimaturlaub

Flo kam nicht darum herum, sich einzugestehen, dass er aufgeregt war. Er war lange nicht mehr zu Hause gewesen. Das letzte mal vor beinahe einem halben Jahr. Seine Eltern waren ihrer Arbeit hinterhergezogen, nachdem er für sein Studium ausgezogen war. Jetzt wohnten sie wieder in der Stadt, in der er geboren war und die ersten Lebensjahre verbracht hatte. Sechs Stunden würde eine direkte Autofahrt brauchen. Fernbusse oder die Bahn würden acht brauchen, wenn er nicht den ICE nehmen würde, mit dem er zwei mal mehr umsteigen müsste.

Aber was würde denn nun zu Hause auf ihn warten? Er konnte es nicht einschätzen. Die letzten Male, die er seine Eltern besucht hatte, war ihm die Situation irgendwie immer surrealer vorgekommen. Sie entwickelten ein Verhalten, was er nicht verstehen konnte und wollte. Es erschien ihm zu unpassend und irgendwie einfach schräg. Seine Mutter war zu schrill und sein Vater zu ruhig. In seiner Kindheit waren sie doch anders gewesen. Menschen veränderten sich im Laufe der Zeit, das konnte er an sich selbst schon gut beobachten, aber das fand immer im gewissen Rahmen statt.

Nun stand Flo an den Türrahmen seines Zimmers gelehnt und sah sich um, ob er was vergessen hatte. Es war aufgeräumt, geputzt und alles, was er mitnehmen wollte, lag in einem kleinen Koffer verstaut. Irgendwas hatte er bestimmt vergessen. Irgendetwas hatte er immer vergessen, grundsätzlich. Er bemerkte es nur ausnahmslos zu spät. Diesmal sollte er eigentlich alles haben. Kristina hatte ihm sogar beim Packen geholfen. Sie würde ihn nicht begleiten, zum Wochenende aber nachkommen und dann mit ihm gemeinsam zwei Tage später wieder zurück fahren. Mehr Fernweh wollte sie sich nicht leisten.

In drei Stunden würde sein Fernbus fahren. Für gewöhnlich wurde es in der letzten Zeit vor der Fahrt immer besonders stressig, nur heute konnte er nichts finden, was er noch zu tun hatte. Er hatte keine verderblichen Lebensmittel mehr im Kühlschrank, dafür aber das Regal voller Konservendosen und Bier. Nur für den Fall, dass er zum Semesterstart nicht mehr rechtzeitig einkaufen konnte. Er hatte dann schließlich nur drei Einkaufstage, an denen er sich aus dem Bett bemühen musste. Und das auch noch vor Feierabend. Es war schon schwer, das Studentenleben. Wieso spielten alle das immer so hinunter?

Während Kristina die Zeit ohne ihn kräftig nutzen wollte, zeigte sich Mia tatsächlich etwas traurig. Sie war auf den Geschmack gekommen, Kuchen zu backen und hatte sich bei ihm um Nachhilfe bemüht. Seit sie aus ihrem Urlaub zurückgekommen war, hatten sie einiges ausprobiert. Sie war auf jeden Fall eine sehr eifrige Schülerin. Zielstrebig und regelrecht verbissen, die bestmögliche Torte zu kreieren. Sie würde auch ohne ihn weiter machen. Insgeheim hoffte er, dass sie nicht besser wurde, als er. Wenigstens in diesem Bereich wollte er ihr etwas voraushaben.

Es war später Abend, als der Bus ihn in der alten Heimat aus lud. Die Stadt war nicht groß und um diese Tageszeit mehr oder minder ausgestorben. Seine Eltern hatten gesagt, sie würden ihn abholen kommen. Inzwischen stand er alleine an der Bushaltestelle, den kleinen Koffer neben sich auf dem Boden. Der Bus war genau so längst weg, wie die anderen Fahrgäste oder die zwei Taxen, die zu Recht gehofft hatten, hier Kundschaft zu finden. Nur von seinen Eltern war nichts zu sehen. Es stand nur eine Richtung zur Auswahl, aus der sich hätten kommen können, und in diese lief er jetzt los.

DSC02039Die Straßen hatten sich seit seiner Kindheit nicht verändert. Die meisten Häuser hier hatten in der Zwischenzeit nicht einmal neue Farbe bekommen. Die Straßenlaternen warfen ein trübes Licht auf rissigen Putz und buckeligen Asphalt. Die Zeit war hier nicht stehen geblieben. Sie war unerbittlich weiter gelaufen und hatte den Verfall mitgebracht. Es hatte nichts von Nostalgie, die geflickten Bürgersteige entlang zu gehen, vorbei an Zigarettenautomaten und mit Zeitungen verhängten Fenstern. Auch Melancholie war es nicht. Es war einfach nur schnöder, langweiliger Verfall und Vernachlässigung. Es ärgerte ihn, zu sehen, wie alles vor die Hunde ging. Dabei musste er sich eingestehen, dass er selbst wahrscheinlich auch nicht motivierter wäre, an der Situation etwas zu ändern.

Vereinzelte Autos fuhren vorbei. Ausnahmslos zu schnell und für seinen Geschmack viel zu laut. Geisterhafte Schemen klammerten sich an die Lenkräder, Erschöpfung auf den bleichen Gesichtern stehend. Abgesehen von den wenigen Autos und seinen Schritten, war kein Geräusch zu hören.

Der Schlüssel klapperte im Schloss, laut genug, als wolle er das ganze Viertel aufwecken. Aus der Wohnzimmertüre streckte sich neugierig ein Kopf.

„Nanu, du bist schon da? Ich dachte, dein Bus kommt erst in einer Stunde an.“

„Es ist gleich Mitternacht. Der Bus kam um kurz nach zehn an. Mit welcher Zeit hattest du denn gerechnet?“

Sein Vater starrte schuldbewusst auf seinen Laptop. Seine Mutter lag neben ihm auf dem Sofa und schlief, ihren eigenen Laptop noch neben sich auf dem Beistelltisch. Der Anblick war so typisch, dass Flo beinahe lachen musste. Das war es, was er vergessen hatte. Die Abendroutine seiner Eltern, die daraus bestand, sich im Wohnzimmer gegenüberzusitzen und über die Laptops hinweg anzuschweigen. Er setzte sich dazu, nahm sich ein Glas Kräuterschnaps und schwieg mit.

Auch wenn er diese Wohnung gelegentlich „zu Hause“ nannte, es war doch nur die Wohnung seiner Eltern. Er hatte keinerlei persönliche Beziehung zu diesem Ort. Allein hier zu sein schien irgendwie seltsam unpassend. Vielleicht fühlten sich seine Eltern auch so, wenn sie ihn besuchten. Er konnte es nicht sagen. Die Wohnung passte aber perfekt zu seinen Eltern und zu der Stadt, durch die er hierhin gelaufen war. Sie hatte zu wenig Aufmerksamkeit bekommen.

Vielleicht hätte er traurig oder verletzt sein sollen, dass seine Eltern ihn komplett vergessen hatten. Die Wahrheit war aber, dass er zu sehr damit gerechnet hatte, um wirklich enttäuscht zu sein. So waren die beiden eben. Sie träumten lieber von großen Ereignissen, als sich mit ihrem kleinen Leben abzufinden, und das Beste daraus zu machen. Flo gruselte sich davor, in das gleiche Muster zu fallen und am Ende nur noch sein Leben zu träumen. Er hatte die gleichen Tendenzen. Einen Kopf voller Hirngespinste und keinen Antrieb, die realistischeren davon herauszupicken und auszuführen. Aber immerhin würde er die Uni abschließen. Wenigstens darin wollte er sich von seinen Eltern abheben. Die restlichen Träume würde er später folgen lassen.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 50

Mia allein zu Hause

Zwei Wochen Strandurlaub mit Erik, einige Tage bei ihren Eltern und Mia fühlte sich wie neu geboren und voller Tatendrang. Sie hatte Sonne getankt und sich von Erik dazu überreden lassen, faul am Strand zu liegen. An ein paar Tagen hatte sie ihn sogar dazu überreden können, die Gegend zu erkunden und kleine Wanderungen zu unternehmen. Sie hatte Land und Leute DSC00972kennengelernt und ihren Wissensdurst bei Stadttouren gestillt. Alles in allem hatte sie den Eindruck, der Urlaub hatte auch ihnen beiden gut getan. Erik und sie waren sich wieder nähergekommen und sie hatten sich nicht gestritten. Ihr erschien das wie ein Erfolg.

Die letzten Tage hatte sie damit zugebracht, ihre Eltern und Geschwister zu besuchen. Die Waschmaschine ihrer Eltern war etliche Unendlichkeiten besser als ihre in der WG. Das allein war schon ein guter Grund, bei jeder Gelegenheit zu Hause zu waschen. Wenn ihre Eltern traurig darüber waren, dass dies vielleicht der stärkste Faktor für ihre Besuche war, dann zeigten sie es nicht. Sie freuten sich jedes Mal überschwänglich, wenn die jüngste Tochter zu Besuch kam und noch besser war es, wenn „der Schwiegersohn in spe“ mit dabei war.

Außerdem gehörten bei einer großen Familie zwangsläufig auch etliche Geburtstage mit den entsprechenden Feiern dazu. Ihr Bruder war zum Beispiel ein Frühlingskind. Immer unter Strom stehend, konnte er nicht darauf verzichten, seinen Geburtstag auch immer zu feiern. Auch wenn er inzwischen längst nicht mehr im Elternhaus wohnte, hatte es sich zu einer gewissen Tradition entwickelt, dass sich die gesamte Großfamilie am ersten Wochenende nach seinem Geburtstag mit engen Freunden im heimischen Garten traf und den Grill kräftig anzuheizen.

Nun war ihr Urlaub vorbei und sie saß wieder in ihrer Wohnung. Es war ruhig, oder besser gesagt: still. Sie war alleine. Ihre Mitbewohnerinnen waren noch weg und würden es auch noch für ein oder zwei Wochen bleiben. Für sie war das die Gelegenheit gewesen. Sie hatte den Kühlschrank ausgemistet und gründlich geputzt. Nun roch er zwar etwas streng nach Chlor, dafür hatte sie bereits seit drei Tagen Tomaten darin liegen und sie waren noch nicht verschimmelt. Den offenen Sekt von vor fünf Monaten hatte sie entsorgt, ebenso die sauren Gürkchen, die inzwischen nicht mehr in Essig, sondern einer Flüssigkeit schwammen, die recht authentisch nach nicht geputztem Aquarium aussah.

Der Staubsauger hatte mit dem Boden ziemlich zu Kämpfen gehabt. Unter lautem Rasseln hatte er Reis, Müsli und Brotkrümel in rauen Mengen verschlungen. Mia hatte sich gewundert, wie in so kurzer Zeit eine so dicke Schicht von Nahrungsmitteln unter dem Tisch statt darauf landen konnte. Essen war doch zum Essen da und nicht als Bodendekoration. Vor dem Herd war der Staubsauger dann auch keine Hilfe mehr gewesen. Die klebrige Fettschicht lies die undefinierbaren Reste nicht mehr los. Mit viel Seife und Wasser war aber auch diese Stelle wieder strahlend sauber.

Es tat gut, in einer sauberen Küche zu stehen. Alles war da, wo sie es gerne sehen wollte und wieder finden konnte. Auch wenn sie sich etwas breitgemacht hatte, wenigstens noch für diese Woche war die Küche ihre. Die Spüle war sauber und leer, sie kam wieder an ihr Geschirr und ihre Töpfe. So freundlich waren ihre Mitbewohnerinnen noch gewesen, ihre Sachen zu spülen, auch wenn sie es dann nur zum Trocknen in der Küche verteilt hatten, statt wegzuräumen. Zeitweise traute sich Mia jetzt sogar, die Küche auf Socken zu betreten.

Ähnlich sah es mit dem Badezimmer aus. Es war aufgeräumt und sauber. Der Schimmel hatte in einem erbitterten Krieg gegen einen Angreifer mit chemischen Massenvernichtungswaffen den kürzeren gezogen. Kalkflecken und Verstopfungen waren in einem Bad aus Essig und Rohrreiniger zu Staub zerfallen. Und das Allerbeste daran war, all diese kleinen Helferlein hatte Mia nicht einmal selbst bezahlt sondern aus der Kaffeekasse der beiden gekauft. Es war ein Traum! Eventuell traute sie sich sogar, ein Bad zu nehmen.

Zunächst aber wollte sie einen Kuchen backen. Über das Semester verteilt hatte sie sich nie Sorgen um Kuchennachschub machen müssen. Flo hatte jede Kleinigkeit zum Anlass genommen, sich in die Küche zu stellen und seinen Ofen anzuheizen. Es war fast schon eine Selbstverständlichkeit geworden, dass es wenigstens einmal die Woche Kuchen gab. Jetzt gab es schon eine ganze Weile keinen mehr und sie begann, es zu vermissen. In einigen Wochen hatte Erik Geburtstag und sie hatte den Plan, ihm eine Geburtstagstorte zu backen.

Es war mehr eine fixe Idee als ein wirklicher Plan. Mia war in der Küche etwa so geschickt wie ein Elefant beim Hochsprung. Aber das war doch ein Umstand, den man ändern konnte. Es würde etwas Übung benötigen, das war klar, und vielleicht etwas Nachhilfe von Flo, aber sie würde es schaffen. Jetzt, wo die Küche einmal sauber war, war die perfekte Gelegenheit, die Übungsphase einzuleiten. Rezepte hatte sie sich auch schon aufgeschrieben. Erik hatte sie nicht ausgelacht, als sie ihm von ihrer Idee erzählt und angekündigt hatte, ihn gegebenenfalls um Hilfe zu bitten. Und das, obwohl er ihre Kochkünste kannte. Er hatte lediglich gefragt, was sie an Ausrüstung benötigte und war nicht überrascht gewesen, dass es quasi alles war.

Einige Tage später hatte sie sich Backformen und Mixer von ihm geliehen, war einkaufen gewesen und hatte sich an ihrer ersten Torte versucht. Drei Böden aus Zitronenkuchen, gefüllt und zusammengeklebt mit einer butterigen Sahnecreme, ummantelt mit einer Schicht aus Marzipan. Es schmeckte überhaupt nicht schlecht, aber war entsetzlich süß und viel zu mächtig. Für ihren ersten Versuch war sie trotzdem sehr zufrieden und ein wenig stolz. Flo half ihr bereitwillig und gemeinsam übten sie zunächst die Füllungen. Sie hätte Erik gerne probieren lassen, um seine Meinung zu hören, aber dann wäre die Geburtstagsüberraschung ja bereits angekündigt und außerdem war er noch bei seiner Familie.

Sein Großvater hatte beschlossen, nach dem Tod seiner Frau in die Nähe seiner Kinder und in eine kleinere Wohnung zu ziehen. Erik nutzte die letzten Tage der Semesterferien, um ihm bei diesem Umzug zu helfen. In seinem weit über achtzig Jahre währenden Leben hatte er eine stolze Bibliothek angesammelt, die er nicht mehr alleine bewegen konnte. Leider war in der kleinen Einliegerwohnung kein Platz für all die Bücher. Erik und seine Familie verbrachten also ihre Zeit damit, zunächst das Nötigste in der neuen Wohnung einzurichten. Die übrigen Bücher stapelten sich derweil in Eriks Kinderzimmer. Zwischen Mein Kampf, dem Kommunistischen Manifest, der Blechtrommel, Bibel, Koran, dem Herrn der Ringe und unzähligen Krimis verpasste er also die immer besser werdenden Backversuche seiner Freundin.

Die Abende verbrachte Mia meist alleine in ihrer Wohnung. Es war sauber, ruhig und sie war alleine. Es gab nichts, was sie noch dringend tun musste und nichts, worüber sie sich aufregen oder schimpfen konnte. Das Fernsehprogramm langweilte sie schnell und Erik fand auch nicht immer die Zeit, stundenlang mit ihr zu telefonieren. Sie war noch keine Woche alleine, aber sie bekam einen Verdacht, wieso Flo sein Bier so wichtig war. Mit einer Freundin, die in einer anderen Stadt arbeitete und einer Wohnung, die so klein war, dass man sie nicht in Unordnung bringen konnte, wenn man sich noch umdrehen wollte, musste er eigentlich schrecklich einsam sein. Für sie war es eine Woche, für ihn aber schon mehrere Jahre. Es war ihr unbegreiflich, dass er damit glücklich sein konnte.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 49

Bahnfahrt nach …

Die große Anzeigetafel am Hauptbahnhof blinkte und die angezeigten Züge rutschten alle um eine Position nach oben. Intercitys, ICEs und einige S-Bahnen. Wonach Flo Ausschau hielt, waren Regionalbahnen oder Regionalexpress-Zügen. Er war diesmal nicht auf dem Weg zu Kristina. Er war heute Morgen aufgestanden und hatte sich irgendwie rastlos gefühlt. Der Urlaub war ja gut und schön aber es trieb ihn hinaus und weg von hier. Also hatte er sich etwas zum Essen und Trinken eingepackt und war hinausgegangen.

Er konnte die Stadt nicht mehr sehen. Hier gab es nichts Neues für ihn und nichts, was ihn irgendwie gerade reizte. So war er am Bahnhof gelandet, entschlossen, in den ersten Zug zu steigen, der ihn woanders hinbrachte. Der nächste Zug zum Beispiel fuhr von Gleis 9 ab, in Richtung Süden. Wie passend eigentlich, die Gegend kannte er noch überhaupt nicht. Ohne sich die restliche Auswahl weiter anzusehen, ging er los.

Jeder Bahnhof in Deutschland musste irgendwie gleich aussehen. Eine Nische mit Fahrkartenautomaten, die er dank seines Studententickets ignorieren konnte, und dann der übliche Tunnel zu den Gleisen. Trostlos, muffig, immer feucht und mit Lachen mysteriöser Flüssigkeiten, deren übler Geruch auf undichte Mitreisende schließen lässt. Die seit mindestens dreißig Jahren aus der Mode gekommenen Fliesen waren stumpf, zerkratzt, von den Wänden gefallen oder gleich durch einen wilden Flickenteppich irgendwelcher Reste ersetzt worden. Irgendwo im weiteren Umfeld der Fahrkartenautomaten gibt es auch eine unbeachtete, schattige Nische mit Schließfächern, die einsam und verlassen vor sich hin blinken. Verbeulte Türen zeugen von jahrelanger Vernachlässigung und schlechter Behandlung.

Über ausgetretene Treppen, die in ihrem Zustand dem Tunnel in nichts nachstehen, gelangt man auf den zugigen Bahnsteig. Bei den älteren Modellen finden sich an den Enden kleine, gelbe Rechtecke auf dem Boden. Sie sind als Raucherbereich markiert, nur Raucher sieht man dort nie. Die neueren Schilder „Rauchfreier Bahnhof“ haben sie offensichtlich vor die Treppenaufgänge verscheucht. Ein weiterer Klassiker sind die Snackautomaten, in welchen sich gefühlt seit Jahren die gleichen Packungen geröstete Nüsse, trockene Gummibärchen und Studentenfutter befinden.

Dafür sind selbst in ländlicheren Gegenden inzwischen die Züge nicht mehr die aller ältesten, welche die Bahn zu bieten hat. Elektrische Türen gehören langsam aber sicher doch zum Standard, wenn sie denn nicht mal wieder „außer Betrieb“ oder defekt sind. Flo war beinahe erstaunt, dass sein Zug keine defekten Türen hatte. Auch wenn es nicht das neuste Modell war, er hatte bequeme Sitze und große Fenster. Für heute war es das, was er gesucht hatte. Außerdem brauchte er nicht auf die Haltestellen zu achten denn der letzte Halt lag noch immer in dem Bereich, den er mit seinem Ticket befahren durfte.

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Weiden mit frischem Grün zogen vor dem Fenster vorbei. Die Bäume waren nicht mehr nur kahl, sondern ließen junge Blätter in die Frühlingssonne hinaus schießen. Friedlich wandte sich der Fluss neben der Bahntrasse entlang. Die ersten Pferde und Kühe waren aus dem Stall gelassen worden und erkundeten nun ihre Weiden, gelegentlich vor Freude albern in die Luft springend. Dörfer und Städte lagen ruhig da, nur gelegentlich fuhr ein Auto über die leeren Straßen. Es passierte nicht viel. Irgendwie war es so eine Eigenart, dass man aus fahrenden Zügen heraus nie lebendige Städte sah. Alles schien in einem Dornrösschenschlaf da zu liegen.

„Was soll das heißen, du hast keine Schokolade eingepackt? Schatz, willst du mich verarschen?“

Dafür schienen die Gespräche im Zug heute wieder vielversprechend zu werden. Eine junge Frau in Jogginghose und mit lila gefärbter Assipalme fuhr aufgebracht ihren Begleiter an. Der junge Mann mit Undercut und Tribaltatoo am Hals sah sie entgeistert an.

„Ey was für verarschen?! Du hast nix von Schokolade gesagt. Soll ich raten, dass du Schokolade willst oder was?“

Der Disput der beiden schien sich in einer außergewöhnlichen intellektuellen Höhe abzuspielen. Vielleicht etwa die Höhe der Schuhsohlen? Das könnte eine lange Zugfahrt werden. Die Lautstärke war beachtlich hoch, das Schamgefühl der beiden das genaue Gegenteil.

„Bist du dumm, Junge? Du weißt ganz genau, dass ich immer Schokolade brauch, wenn ich meine Tage habe.“

„Was laberst du plötzlich von Tagen? Ich denk du bist schwanger.“

„Bist du jetzt Muschiloge oder was? Hast doch keinen Plan von sowas. Besorg mir einfach Schokolade, Spast.“

Ein Mädel, welches Flo gegenübersaß griff sich entnervt an die Stirn. Ihr Gesichtsausdruck entlockte ihm ein leises Kichern. Sie blickte zu ihm auf und hob entschuldigend die Hände.

„Sorry aber manche Leute sollten sich wahrscheinlich einfach nicht fortpflanzen. Verbieten kann man es ihnen aber auch nicht.“

Widersprechen konnte oder wollte er ihr nicht. Der junge Mann tat ihm fast etwas leid. Er hatte mit seiner Freundin offenbar nicht viel Glück gehabt. Sie war offensichtlich ziemlich dumm und an ihrem Aussehen konnte es auch nicht liegen. Andererseits, Gleich und Gleich gesellt sich gern. Ein Einwand, der dem Mädel ihm gegenüber ein gehässiges Lachen abrang. Interessiert musterte sie ihn.

„Wohin fährst du? Unterwegs nach Hause?“

Flo zuckte unbestimmt mit den Schultern. Er hatte sich noch nicht entschieden, wo oder wann er aussteigen wollte und ob überhaupt.

„Ich weiß es noch nicht. Ich hatte Langeweile, also dachte ich mir, fahr doch einfach mal wo hin. Ich habe mich noch für kein Ziel entschieden. Hast du einen Vorschlag? Wohin fährst du?“

„Nach Hause. Meine Eltern sind weg und ich soll auf das Haus aufpassen. Vier Haltestellen hab ich noch. Ist nur ein kleines Kaff, das musst du nicht kennen, aber es ist ein sehr schnuckeliges Örtchen. Also, wenn du sonst nichts vor hast…“

Diesmal zuckte sie unbestimmt mit den Schultern. Es war eine mehr als deutliche Einladung. Selbst Flo musste nicht mehr nachfragen, ob sie ihn dabei begleiten würde. Er dachte an Kristina und ein kleiner Schlag durchzuckte ihn. Vor vielleicht einem Jahr noch hätte er an so etwas nicht denken müssen aber diesmal sah es anders aus. Er wollte Kristina auf keinen Fall verletzen, dafür war sie ihm viel zu wichtig. Auch wenn er gelegentlich noch in die alte Sorglosigkeit zurückrutschte. Die Zeiten hatten sich geändert.

Der Schaffner kam Flos Antwort auf das Angebot zuvor. Fahrkartenkontrolle, einmal alles vorzeigen bitte. Etwas ungläubig erfuhr Flo so, dass er offenbar im falschen Zug saß. Die letzte Haltestelle war die Grenze seines Gültigkeitsbereichs gewesen. Vielleicht hatte es eine Änderung gegeben, die er nicht mitbekommen hatte? Die nächste Haltestelle wäre dann die Station, an der er besser wieder umstieg. Immerhin war der Schaffner so großzügig, ihn für seine Tollpatschigkeit zwar auszulachen, aber nicht nachzahlen zu lassen. Sein Lachen hallte noch durch den Wagen, als der Zug bereits in den Bahnhof einfuhr.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 48

Urlaubszeit

Flo war gelangweilt. Die Tage wurden länger, überall schoss das junge Grün hervor und er saß alleine in seiner Wohnung. Das beschrieb die Situation der letzten Tage eigentlich sehr allumfassend. Es drängte ihn hinaus, aber so ganz alleine kam er sich dabei albern vor.

Die ersten Tage hatte er die Ruhe noch genossen, hatte faul im Bett gelegen, Filme geguckt oder mit neuen Kuchenrezepten experimentiert. Nun war sein Gefrierfach voll mit halb gegessenen Kuchen, die er alleine nicht schaffte, und sein Salat faul. Um die Langeweile zu vertreiben hatte er sogar ein Computerspiel ausprobiert, was Erik ihm empfohlen hatte, aber er war einfach nicht der Typ für diese Art von Unterhaltung. Es war ihm zu anstrengend und zu zeitintensiv. Er wollte unterhalten werden, nicht selbst nachdenken.

Letzte Woche hatte er noch Kristina für ein paar Tage besucht. Sie musste allerdings arbeiten und er wollte sich nicht daran gewöhnen, zu Hause zu sitzen, auf sie zu warten, um dann festzustellen, dass sie von ihrem langen Arbeitstag erschöpft war. In ihrem Bücherregal hatte er nichts finden können, was ihn ablenkte und mit dem Kuchen konnte sie ihm auch nur bedingt helfen. Für ihre Diät war er pures Gift.

DSC02367Mia und Erik hatten ihre Koffer gepackt und waren für zwei Wochen dem nahenden Frühling entflohen. Rotes Meer, Sonnenschein, Wärme und Faulheit. Vielleicht würden sie auch ihr Hotelzimmer kaum verlassen und sich nur miteinander befassen. Vielleicht wollte er es auch eigentlich nicht so genau wissen. Die beiden hatte in letzter Zeit eine schwere Zeit gehabt. Die gemeinsame Zeit, abseits von Alltag und Stress, würden ihnen sicher gut tun.

Flo hätte auch nicht wirklich etwas gegen Urlaub einzuwenden. Eine weite Reise konnte er sich allerdings nicht leisten. Vielleicht würde er sein Fahrrad reparieren oder seine Familie besuchen, wo auch niemand Zeit für ihn hatte, denn er war der Einzige, der frei hatte. Er saß also entweder in seiner Wohnung alleine, bei Kristina alleine oder bei seinen Eltern alleine.

Erik hatte ihm erzählt, dass er ein Buch schreiben wollte und er machte Ernst. In letzter Zeit war er jedenfalls sehr auf seinen Laptop fixiert. Vielleicht sollte er auch versuchen, etwas zu schreiben. Immerhin schien Erik daran recht viel Freude zu haben. Andererseits war Erik auch Erik und nicht Flo. Er hatte generell einige andere Interessen und Vorlieben. Außerdem konnte Erik sehr viel besser mit Worten umgehen als er selbst. Schlechte Wortspiele war alles, was er zustande brachte.

Vielleicht sollte er sich einfach einen Ruck geben und hinaus gehen. Was konnte schon groß passieren? In der Stadt musste ja irgendetwas los sein. Es gab doch genug Leute, die nicht in Urlaub gefahren waren. Irgendwo mussten doch gute Freunde herumlaufen, die er nur noch nicht kennengelernt hatte. Apropos herum, vielleicht würde es mit etwas Rum leichter gehen. Eigentlich ja mit Bier aber davon hatte er keins mehr.

Die Erkenntnis traf ihn hart, als er es realisierte. Sein Bier war leer! Wie hatte das passieren können? Er war felsenfest davon überzeugt gewesen, noch mindestens einen halben Kasten zu haben, aber die Flaschen waren leer. Soviel konnte er unmöglich getrunken haben. Er musste also auf jeden Fall raus, und sei es nur zum Einkaufen. Es konnte nicht angehen, dass er keines hatte. Nur wo war es denn hin verschwunden? Getrunken hatte er es jedenfalls nicht. Vielleicht hatte Kristina ja ihren Durst gelöscht. Möglich war es. Sie wusste gutes Bier genau so zu schätzen wie er selbst.

Er hatte nie so sehr darauf geachtet, wie viel sie gemeinsam tranken. Vielleicht sollte er für etwas Abwechslung sorgen. Das sorgte für Frische, nicht nur im Bett und auf dem Esstisch. Am Fluss, etwas unterhalb der Stadt, hatte vor einiger Zeit ein Getränkehandel eröffnet, den er bisher noch nie von innen gesehen hatte. Dabei war es ziemlich in der Nähe für ihn. Vielleicht sollte er einmal etwas Neues wagen.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 47

Ehekrach

Das letzte Kapitel war geschrieben, die letzte Seite vollendet. Erik hatte seine Korrektur abgeschlossen und saß jetzt stolz vor seinem Werk. Noch hatte er es nur in digitaler Form auf seinem Rechner liegen, aber das sollte sich ändern. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr aber dennoch genug. Die Druckerei hatte ihm versichert, dass er nicht länger als vier Tage auf seinen Auftrag warten müsse. Vorausgesetzt natürlich, er wartete nicht noch zwei Monate. Dann wären nämlich die Abschlussarbeiten fällig und es war absehbar, dass sie dann auf Überstunden kommen würden.

Bis dahin musste er eh durch sein. Eigentlich hatte er geplant, das Buch nicht einfach nur drucken zu lassen, sondern durch einen Verlag richtig verlegen zu lassen. Dafür reichte aber die Zeit beim besten Willen nicht mehr, wenn es denn überhaupt einen Verlag gab, der es annahm. Erik würde es sich natürlich wünschen, aber er war nicht überzeugt genug von seinem Werk, dass er davon ausgehen wollte.

Es war ein schöner Tag. Zwar noch immer sehr kalt, aber die ersten Blumen streckten neugierig ihre Köpfe in Richtung der immer höher stehenden Sonne. Mit jedem Tag stieg die Zahl der Sonnenstunden und er freute sich sehr auf den Frühling. Außerdem freute er sich auf Mias Reaktion, wenn er ihr das Buch überreichte. Sie wusste zwar, dass er schrieb. Wusste aber nicht was oder wieso und er konnte es kaum erwarten, es für sie aufzuklären. Nur für den Augenblick war sie das Thema, was diesen schönen, sonnigen Frühlingstag für ihn trübte.

Eigentlich hatte er sie gestern nur anrufen wollen, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Doch dann war das allabendliche Ritual anders als gewöhnlich verlaufen. In der Regel bestanden diese Telefonate, wenn sie sich nicht gerade erst gesehen hatten, aus allerlei philosophischem Gefachsimpel über Gott, die Welt und die Nachrichten des Tages. Für ihn war es immer ein schönes Ausklingenlassen des Tages, nachdem er sich entspannt in die Kissen sinken lassen konnte.

Doch in den letzten Tagen war es immer schwerer geworden, ein Gespräch mit Mia zu führen. Sie war immer wortkarger geworden und zeigte im Allgemeinen kein Interesse an einem Gespräch. Zunächst hatte er noch gedacht, sie sei einfach müde oder mal einen Abend schlecht gelaunt. Es war ja nicht unmöglich. Er hatte auch Tage, an denen er sich nach etwas mehr Ruhe sehnte oder auch einfach mal den halben Tag lieber schlafen wollte. Jeder brauchte wohl dann und wann einmal eine kleine Pause.

Doch Mias Situation besserte sich nicht und Erik begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Es war nicht Mias Art ihn zu ignorieren oder mit der Wand reden zu lassen. Wenn sie Ruhe brauchte, dann sagte sie das für gewöhnlich einfach und schwieg ihn nicht minutenlang am Telefon an, nur um dann mit einem knappen „hmm“ zu signalisieren, dass sie überhaupt noch da war. Nur genau das war es, was sie nun tat.

Das Schlimme war für Erik nur, so sehr er seine Freundin liebte und so sehr er ihr auch helfen wollte, im Augenblick war er einfach nur extrem gereizt. Sie erwartete offensichtlich von ihm, dass er ihre Gedanken lesen konnte und ihr auf wundersame Weise helfen konnte. Sie lies ihn lieber raten und gab nicht den leisesten Hinweis darauf, was sie störte. Er versuchte es mit Geduld, er versuchte es mit Ausdauer, mit Verständnis und mit Hartnäckigkeit. Das Ergebnis war jedes mal das Gleiche und mit jedem „hmm“ schwand seine Geduld.

Er hätte so viel mit der Zeit anstellen können. Er hätte schreiben können, oder ein Spiel spielen oder etwas kochen. Stattdessen lag er auf dem Bett und versuchte verzweifelt, eine verhaltene Reaktion zu provozieren. Und provozieren war genau der richtige Ausdruck, denn inzwischen wusste er sich nicht besser zu helfen, als an den stellen zu kitzeln, von denen er wusste, dass sie es nicht leiden konnte.

„Doch, doch. Alles okay.“

Das war der Satz gewesen, bei dem er innerlich aufgegeben hatte. Dieser legendäre Satz, der das Synonym für „du hast es total versaut“ war. Und er wusste nicht einmal, auf was sie sich denn bezog. ‚Jetzt beeile dich bloß, heraus zu bekommen, was du falsch gemacht hast. Sonst ist hier gleich die Hölle los‘ schien die unausgesprochene Botschaft. Für solche blödsinnigen Psychospielchen hatte er kein Verständnis.

Wie verlockend es doch war, einfach wortlos aufzulegen und zu tun, als wäre alles in bester Ordnung. Mia würde toben und ihm den Hals umdrehen aber vielleicht würde sie dann endlich damit herausrücken, was sie denn nun eigentlich störte. Erik empfand es jedenfalls als schwere Beleidigung, ohne den leisesten Hinweis so abgewiesen zu werden. Oh, er hatte alles Recht, sauer zu sein und einfach aufzulegen. Würde er diese Frau nicht so lieben, er hätte es auch sicher getan.

Wieso war es eigentlich so, dass Frauen über ihre Probleme nicht reden konnten? Mia war nicht die Erste, bei der er dieses Verhalten beobachtet hatte. Es war eines der großen Klischees, gegen das sie so gerne wetterten. Und hier saß er nun seit einer gefühlten Ewigkeit und sah dieses Klischee auf grausame Weise bestätigt. Das Leben hätte doch so einfach sein können, wenn Männer und Frauen in der gleichen Sprache sprächen.

Nach allem, was er nun herausbekommen hatte, und das war nicht viel, gab sich Mia nicht einmal die geringste Mühe, in seiner Sprache zu reden. Er hatte das nagende Gefühl, das ihr absolut nicht daran gelegen war, das Problem zu beheben. Es schien ihr zu gelegen zu kommen. Ein Vorwand, um sauer auf ihn zu sein. Schluss machen konnte sie nicht. Nicht einfach so, nicht nach fast einem gemeinsamen Jahr. Da würde sie ihm eine bessere Begründung liefern müssen als ‚hmm‘ und so unfair konnte sie nicht sein. Selbst in ihrer aktuellen Situation. Was auch immer das für eine war.

Vielleicht hatte sie auch einfach ein paar schlechte Tage. Oder die Tage, und übermorgen war alles wieder okay. Er konnte es nicht sagen und seine Motivation, sich damit zu befassen war in der letzten halben Stunde „Telefonat“ auf deutlich unter Null gefallen. Er hatte getan, was er konnte, nun war seine Freundin am Zug. Und er hatte verdammt noch mal ein Recht darauf, dass auch sie sich einmal ein klein wenig um ihre Beziehung bemühte. Auch wenn das nun einfach nur noch eine Trotzreaktion war. Mürrisch stopfte er sich ein Bonbon in den Mund. Eines von der Sorte, von dem er wusste, dass Mia den Geruch hasste, nur um es mit seiner Trotzreaktion zu übertreiben. War er ihr denn wirklich so wenig wichtig, dass sie ihn so behandeln konnte? Das Bonbon war köstlich, trotzdem blieb ein unangenehm fahler Beigeschmack.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 46

Büroarbeit

Es war zu früh für Flo. Deutlich zu früh aber so war nun einmal der Lauf der Dinge. Im Arbeitsleben musste man sich an gewisse Regeln halten und eine davon war nun einmal, dass man zu einer gewissen Zeit an bestimmten Orten sein musste. Für Flo hieß das aktuell, pünktlich um acht Uhr morgens im Büro zu sitzen und darauf zu warten, dass ihm eine Aufgabe zugewiesen wurde.

Heute musste er nicht warten. Er war gestern mit seiner Arbeit nicht fertig geworden und der nächste Schritt war so zeitaufwendig, dass er ihn kurz vor Feierabend nicht mehr beginnen wollte. Er hatte sich vorgenommen, nicht übermäßig viele Arbeitsstunden zu sammeln. Er hatte sich allerdings auch vorgenommen, seine Pausen einzuhalten und dazu von seinem Arbeitsplatz zu verschwinden. Die letzten Tage hatte er dann aber doch wieder nebenbei gegessen und die Pause hindurch gearbeitet.

Es war nicht so sehr, dass er seine Arbeit liebte. Sie ging ihm regelmäßig ziemlich auf die Nerven, aber es war eine bequeme Möglichkeit um Geld zu verdienen. Das wiederum brauchte er für Bier, denn auf Dauer war auch das ganz schön teuer und das Bier benötigte er dringend, wo ihm der Job schon nervte. Er machte sich deswegen keine großen Sorgen. Es war nur ein Ferienjob um etwas Geld und Arbeitserfahrung zu sammeln. Praktika und Arbeitszeugnisse waren wichtig und wurden immer bedeutsamer. Das Einzige, was wohl noch wichtiger war, war Vitamin B.

Auf dem Monitor flimmerte der Entwurf eines Anschreibens. Flo blickte etwas ratlos auf die ausgedruckte Version vor sich. Die Chefin hatte es ihm zurückgegeben und gut die Hälfte des Textes mit roten Anmerkungen versehen oder gleich gestrichen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass an so wenig Text so viel auszusetzen sein konnte. Mit bürokratischer Wortklauberei wollte er sich nicht anfreunden, obwohl er einsah, dass es nötig werden würde. ‚Hatte viel Verständnis für seine Aufgaben‚ geisterte es ihm durch den Kopf. Eine Formulierung, die er so auf keinen Fall in seinem Arbeitszeugnis lesen wollte.

Wieso war er eigentlich so schrecklich darauf fixiert, was in dem Zeugnis stehen würde? Er war kaum für einen Monat hier. Was für ein Bild konnten sich die Kollegen und Vorgesetzten in der Zeit schon bilden? Wie aussagekräftig konnte das schon sein? Er wollte natürlich gute Arbeit abliefern aber eben im Rahmen seiner Möglichkeiten. Er war nicht hier, um die Firma im Alleingang zu betreiben. Er war Praktikant, eine Aushilfe, mehr nicht. Und ganz offensichtlich war ein simples Anschreiben schon eine Herausforderung für ihn. Er knirschte mit den Zähnen.

Zaghaft glitten seine Finger über die Tastatur, dessen Leertaste nur dann funktionierte, wenn man sie in einem ganz bestimmten Winkel und an einer bestimmten Stelle drückte. Es fühlte sich falsch an, mit diesem Rechner zu arbeiten statt mit seinem eigenen. Andererseits wäre das auch sehr unangemessen gewesen. Er hatte die kritisierten Stellen im Anschreiben markiert und arbeitete sie nun einzeln ab. Am Ende hatte er den Eindruck, ein kleines literarisches Meisterwerk geschaffen zu haben. Er überflog den Text erneut und revidierte seinen Eindruck wieder. Es würde ihm reichen, wenn er dem kritischen Blick der Chefin standhalten würde.

Statt der Chefin stand allerdings die Sekretärin als Nächstes vor seinem Tisch und begutachtete ihn leicht tadelnd.

„Herr Naseweis, es fehlen noch immer Unterlagen von Ihnen. Meine Güte, ich kann mich einfach nicht an Ihren Namen gewöhnen. Es fühlt sich so seltsam an. Ich nenne meinen Sohn immer so, wenn er mit wieder Löcher über Gott und die Welt in den Bauch fragt. Er ist so schrecklich neugierig, wissen Sie. Wie dem auch sei, ich benötige immer noch eine Bescheinigung von Ihrer Universität, wenigstens aber die Immatrikulationsbescheinigung.“

Flo war nicht mehr nur ratlos, sondern auch noch irritiert. Späße über seinen Namen war er gewohnt, da konnte er nichts dran ändern. Was die Unordnung anging, gab er sich aber alle Mühe, sich neue, bessere Eigenschaften anzueignen.

„Aber die Sachen habe ich Ihnen doch bereits gestern auf den Schreibtisch gelegt. Linke Seite, wie von Ihnen gewünscht.“

„Sind Sie sicher? Ich meine, dort nichts liegen gesehen zu haben, nur die Unterschriftenmappe. Sie haben es aber nicht dort hinein gelegt, oder?“

Wieso hätte er denn so etwas tun sollen? Die Sekretärin mochte die gute Seele des Hauses sein, an manchen Tagen war sie allerdings recht verstreut. Dann suchte sie den Stift, den sie gerade in der Hand hatte oder ärgerte sich, dass der Computer ihr Dokument nicht drucken wollte, wenn sie auf ‚Speichern‘ klickte. Solange sie sich kein Salz statt Zucker in den Kaffee goss, musste sie aber wenigstens noch als zurechnungsfähig gelten. Er war jedenfalls überzeugt, die Unterlagen auf ein freies Stück Schreibtisch gelegt zu haben und sicherlich nirgendwo hinein. Er ging mit der Sekretärin im Schlepptau an ihren Schreibtisch und fand die Papiere genau dort, wo er sie abgelegt hatte.

Als er wieder an seinem Arbeitsplatz ankam, fand er ihn besetzt vor. Die Chefin persönlich scrollte über seine Korrektur. Sie schien ihn für den Augenblick nicht einmal zu bemerken, sondern las nur aufmerksam das Dokument auf dem Bildschirm. Im letzten Absatz schrieb sie einen Satz um, las ihn noch einmal und machte die Änderung rückgängig. Etliche Klicks später surrte der Drucker und sie sah auf.

„Tut mir leid, Sie sind wohl gerade nicht der einzige Naseweis hier im Büro. Ich hatte es nur offen auf dem Monitor gesehen, aber es liest sich doch sehr ordentlich. Sie scheinen ja bereits recht gut eingearbeitet zu sein. Ich würde Ihnen gerne noch das ein oder andere zu dem Thema geben, was Sie bitte für mich fertig machen können.“

Flo lächelte etwas gequält über das schlechte Wortspiel mit seinem Namen, erklärte sich aber einverstanden. Er würde doch etwas mehr Geduld brauchen aber das Bier reichte noch bis Ende der Woche. Dann würde Kristina ihn besuchen kommen und er brauchte es nicht mehr. Manches mal war die Welt herrlich schwarz-weiß. Für ihn war Kristina ganz klar jede Menge Weiß.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 45

Leere

Erik hatte sich extra den Wecker gestellt, obwohl er hätte ausschlafen können. Sein Laptop lag in der Nähe seines Bettes und er hatte ihn einfach nur noch greifen und den Text öffnen müssen. Er hatte den Plan gehabt, an seiner Geschichte weiter zu schreiben. Viel Zeit hatte er dafür nicht mehr und es gab noch große Pläne. Der Wecker hatte vor inzwischen drei Stunden geklingelt. Seit dem lag er wach, den Rechner auf dem Schoß und starrte auf den Bildschirm.

Natürlich, der erste Impuls war gewesen, die Mails abzurufen. Aber das dauerte ja nicht besonders lange. Wenn man das Postfach schon einmal offen, und die Ruhe hatte, konnte man ja auch kurz Antworten schreiben. Die halbe Stunde sollte man sich gelegentlich nehmen. Und wenn man schon einmal im Internet war, die Nachrichten des Tages konnte man ja auch einmal überfliegen.

Auf die Weise hatte er zwar seine Geschichte geöffnet, aber im Verlaufe des Morgens noch keinen einzigen Satz geschrieben. Zwischenzeitlich hatte er natürlich mal darauf gesehen und sich überlegt, was er schreiben konnte. Eingefallen war ihm aber nichts, was wirklich Substanz gehabt hätte. Es wäre sinnvoller, zunächst einmal duschen zu gehen und sich anzuziehen. Am Schreibtisch arbeitete es sich schließlich bequemer als im Bett. Außerdem war es doch bereits spät, da wollte er nicht mehr im Schlafanzug herumlaufen.

Die Dusche hatte den Vorteil, dass sie seinen Kreislauf anregte und gleichzeitig so wenig Ablenkung bot, dass sein Geist zwangsläufig anfing zu rennen. Bilder und Gedanken sprangen vor seinem inneren Auge umher. Hirngespinste flochten sich zu Geschichten. Er hatte sich eigens für solche Situationen einen Folienschreiber in die Dusche gelegt. Um die Ideen zu bewahren, bis er sie abtippen konnte, wollte er sie auf die Fliesen schreiben. Im ersten Anlauf erschien ihm die Idee genial. Im Zweiten merkte er schon, dass sein Stift wasserlöslich und damit unter der Dusche wertlos war. Er hätte einen Wasserfesten besorgen können, doch damit wären die Fliesen schnell voll gewesen und er hatte Angst, dass ein Lösungsmittel seine Duschwanne gleich mit auflösen würde.

So blieb ihm nur sein Gedächtnis und er verließ sich voll und ganz darauf. Wie schwer konnte es denn sein, sich eine kleine Geschichte zu merken? Sein Gehirn jedenfalls enttäuschte ihn regelmäßig. Teilweise wusste er nicht einmal mehr, dass er sich an etwas hatte erinnern wollen. Teilweise konnte er sich lediglich nicht mehr an das erinnern, was ihm durch den Kopf gegangen war. Dann saß er oft lange Zeit einfach nur da und starrte ins Leere. Dann und wann bekam er den Gedanken auch tatsächlich zu fassen, in den meisten Fällen aber schrieb er dann halbherzig eine neue Idee auf. Mehr als die Hälfte davon war eh für seine Geschichte absolut unbrauchbar. Er hatte nur das Gefühl, sich selbst und im Endeffekt seine Freundin zu enttäuschen.

Eine Zeit lang hatte er seinen Laptop genommen und war in die Uni gefahren. Die eifrige Ruhe in der Bibliothek hatte er als inspirierend empfunden. Irgendwann war ihm aber aufgefallen, dass beinahe jeder, der auf der Suche nach einem freien Platz bei ihm lang kam, auch auf seinen Bildschirm sah, war ihm die Motivation vergangen. Er konnte es ja irgendwo auch nachvollziehen. Er selbst ließ auch seinen Blick schweifen, sah die Bildschirme und nahm keinen Einzigen davon bewusst wahr. Es waren helle Punkte in seinem Kurzzeitgedächtnis. Vielleicht erging es den Anderen ja genau so. Trotzdem fühlte er sich nicht mehr wohl damit.

Bei Mia war die Ablenkung beinahe so groß wie auch zu Hause. Er bemühte sich und Mia wollte ihn auch unterstützen, nur war das genau das, was er nicht wollte. Mia konnte ihm nicht helfen, weil sie keine Ahnung hatte, was er trieb. Allerdings wurde sie immer neugieriger, sodass er auch bei ihr nicht mehr in Ruhe schreiben konnte. Er konnte jedenfalls nicht immer eine alte Hausarbeit als Alibi zurate ziehen. Den Trick hatte sie viel zu schnell durchschaut. Es hätte ihn gewundert, wenn es anders gewesen wäre, aber er hatte den Eindruck gehabt, es versuchen zu müssen.

Nur heute hatte er eigentlich nicht einmal Ablenkung. Eigentlich gab es nichts, was ihn hätte abhalten können. Gut, das Internet war groß und voller Abenteuer, der Kühlschrank voll mit leckerer Beute und das Leben vor dem Fenster manches Mal besser als Kino. Trotzdem, er ignorierte alles das, genau wie auch seine Tastatur.

Ein Düsenjäger flog viel zu tief über das Hausdach, hinter dem Drachen her, der keine Minute früher darüber geschossen war und die Dächer der Nachbarschaft abgedeckt hatte. Aus dem Licht der Mittagssonne löste sich ein Ufo, um dem Drachen zur Hilfe zu kommen. Alles das war es nicht wert, seinen Kopf zu verlassen. Mürrisch kaute er auf einem Gummiwurm herum. Seine Schwester hatte ihm die Tüte geschickt. Bio, vegan und selbstverständlich fair-trade. Darauf legte sie großen Wert.

Er starrte auf die letzten Zeilen, die er geschrieben hatte. Er wusste noch, wo er in seiner Geschichte war und was bisher passiert war. Er hatte nur absolut keine Ahnung, wie es weiter gehen sollte. Aber irgendwas musste doch passieren, irgendwas musste immer passieren. Eine Idee kam auf, kristallisierte aus und fühlte sich dann doch nicht richtig an. Erik stand auf und machte sich einen Kaffee.

Der säuerliche Geruch des billigen Instantkaffees füllte sein kleines Zimmer aus und mischte sich mit dem zwiebeligen Geruch der Tütensuppe von gestern Abend. Auf seiner Fensterbank stand eine kleine Zimmerpflanze. Was für eine konnte er nicht sagen. Mia hatte sie ihm geschenkt, um sein Zimmer mit etwas mehr Leben zu füllen. Seit die Pflanze dort stand, wunderte er sich, wie sie überhaupt hier überleben konnte. Kein Insekt überlebte in dieser Wohnung länger als einen Tag, Mia hatte es zu einem Ritual werden lassen, dass ihre erste Aktion nach dem Hereinkommen, das Öffnen des Fensters war. Völlig ungeachtet des Wetters und der Temperaturen.

Er selbst störte sich nicht so sehr daran. Er hatte sich an sein Zimmer gewöhnt und kam gut damit zurecht. Inzwischen gefiel ihm der spartanische Stil sogar recht gut. Das Zimmer war eh so klein, da tat es durchaus gut, dass es nicht genug Einrichtung gab, um unaufgeräumt sein zu können.

Wäre es doch nur unaufgeräumt. Dann könnte er jetzt in aller Ruhe aufräumen und putzen und alles das tun, was ihn irgendwie davon entschuldigte, nicht weiter zu schreiben. Nur lief ihm die Zeit davon. Er musste fertig werden.

Das brachte ihn dann doch noch auf eine Idee. Obwohl es eigentlich noch längst nicht fällig war und wenigstens zwei Kapitel bis dahin fehlten, setzte er sich hin und schrieb das letzte Kapitel. Es war nicht besonders lang und noch nicht besonders ausgefeilt aber da würde er am Schluss eh noch einmal drüber gehen müssen. Bis hier hin hatte er sein Werk jedenfalls schon korrigiert und abgehakt. Nun musste er nur noch die Lücke zwischen dem aktuellen Stand und dem Schluss schließen. Etwas, was zu bewältigen erschien.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 44

Klausurfrust

Vermutlich kennt jeder Student dieses Gefühl. Wochenlang hat man darauf hingearbeitet. Wochenlang hat man sich ein schlechtes Gewissen gemacht, sich mit allem Möglichen abgelenkt und gelegentlich sogar aktiv für die nahenden Klausuren gelernt. Man hat die Unterlagen des Semesters geordnet, fehlende Blätter bei Freunden abfotografiert oder kopiert und sich vorgenommen, dieses Mal auch wirklich Karteikarten zu schreiben. Dieses Mal hatte man sich vorgenommen, die Karteikarten sogar rechtzeitig anzugehen.

Dann, in der letzten Woche vor den Klausuren, war es ernst geworden. Es war keine Zeit mehr, sich abzulenken. Man stellte fest, wie viel Stoff eigentlich in so einem Semester pro Fach bearbeitet wird. In den höheren Semestern fällt einem auf, wie viel von den Grundlagen nicht mehr da ist. So vieles, was vergessen wurde, weil man damals in den Einführungsveranstaltungen nicht daran gedacht hat, es jemals noch einmal zu brauchen. Man war doch viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, auf Partys zu gehen und die Freundschaften zu schließen, von denen die Alten immer erzählt hatten. Die Freundschaften, die einem durch die Uni halfen und die einen ein Leben lang begleiten sollten.

Gemeinsam mit dem Grundstudium waren dann auch diese Illusionen irgendwann nicht mehr zu retten gewesen und man nahm sich fest vor, mit den Vertiefervorlesungen alles wieder wettzumachen. Daher nahm man sich jedes Semester aufs Neue vor, schon vorlesungsbegleitend den Stoff immer brav vor- und nachzuarbeiten. Man nahm sich vor, zeitig mit dem Lernen zu beginnen, um das Wissen nicht nur für die Klausur, sondern noch für die kommenden Veranstaltungen zu speichern. Eventuell wollte der ein oder andere sogar etwas für seinen späteren Beruf oder das Leben lernen. Immerhin offenbarte einem der Kontoauszug jeden Monat aufs Neue, dass das Studium recht teuer sein konnte.

Genau, wie in den Semestern davor, war man dann aber auch dieses Semester wieder viel zu spät dran. Hausarbeiten waren bis zum letzten Moment aufgeschoben worden, Klausurvorbereitungen hoffnungslos vernachlässigt und Schlaf durch massenhaft Koffein von der Liste des täglichen Luxus gestrichen worden. Der Höhepunkt ist noch lange nicht erreicht, wenn der größte Triumph in der Küche darin besteht, eine Tasse zu finden, aus der man freiwillig noch einen Schluck Kaffee trinkt.

Dann irgendwann ist er aber da, der Moment, für den man dies alles durchmacht. Der Moment, von dem man sich einredet, er würde sein späteres Leben maßgeblich beeinflussen. Wenn man seine Klausur geschrieben und abgegeben hat und es zu spät für jeden Nachtrag ist. Die Note, die man auf diese Leistung bekommt, wird für alle Zeiten auf ein Blatt Papier gebannt, welches zwischen Karriere und Arbeitslosigkeit entscheiden soll. Wie das Ergebnis wohl ausfallen wird? Wie ist die Klausur für einen gelaufen? Traut man sich, eine Prognose zu wagen oder will man sich keine Hoffnungen machen, die am Ende enttäuscht werden?

Die letzten Minuten der Klausur sind besonders angespannt. Jeder versucht noch die letzten Lücken zu füllen, die auf den Bögen voller Hieroglyphen übrig geblieben sind. Gleichzeitig gilt es Fehler zu korrigieren, seien sie echt oder nur vermeintlich. Dann werden die Fragebögen eingesammelt, gnadenlos, und ein Strom ächzender, schwitzender und aufgekratzt plappernder Studenten ergießt sich aus dem Hörsaal. Auf den Fluren spielen sich Szenen von Triumph und Verzweiflung ab.

„Was hast du bei Aufgabe 4.?“

„Das Modell hatten wir doch überhaupt nicht in der Vorlesung! Wieso fragt die denn so etwas?“

„Oh nein! Ich hatte die Fünf doch richtig, aber dann dachte ich, es sei genau anders herum und habe es noch einmal verbessert. Jetzt ist es falsch!“

„Siehst du, hier steht es doch genau so. Ich wusste doch, dass ich es richtig habe!“

Während die Einen noch lautstark ihre Antworten diskutieren, sich rechtfertigen oder prahlen, geben Andere sich stumm ihrem Schicksal hin. Jeder hier hat in irgendeiner Form Zweifel. Eine Antwort, den Teil einer Antwort oder gleich die ganze Klausur. Diejenigen, die restlos alles gewusst haben, sind längst weg. Sie haben die Klausur vermutlich schon mehrere Male nicht bestanden, dies war ihre letzte Chance und sie haben alle Antworten in der Hälfte der Zeit abgearbeitet. Sie sind aus dem Saal geflohen, bevor sich Zweifel bilden können und nun befinden sie sich in einem Delirium, aus dem sie nicht erwachen wollen, ehe das positive Ergebnis dieser Klausur vorliegt.

Flo dachte beiläufig an einen solchen Rausch. Er war nüchtern, was inzwischen niemanden mehr so wirklich überraschte. Es wurde zwar immer noch des Öfteren registriert aber dieser Zustand war inzwischen allgemein akzeptiert. Irgendwo in seinem tiefsten Inneren freute es ihn. Auch wenn er das Gegenteil erfolgreich zur Schau trug, es war ihm nicht egal, was seine Umwelt von ihm dachte. Wäre es ihm wirklich egal gewesen, hätte er seine Wohnung auch einmal ungeduscht verlassen, den Bart nicht immer sauber gestutzt und die Haare sorgfältig schräg nach hinten gelegt. Es wäre ihm egal gewesen, ob seine Jacken und Hemden zu seinen Schuhen passten.

Bei Mia sah die Sache heute wohl etwas anders aus. Sie stand in etwas vor ihm, was man als eine Kreuzung aus Schlafanzug und Sportkleidung bezeichnen konnte. Wenig praktisch, vielleicht halbwegs bequem aber ganz sicher alles andere als elegant oder stilsicher. Sie hatte ihr Kinn auf Eriks Schulter abgelegt. Dieser schwadronierte bereits geschlagene zehn Minuten darüber, was er alles falsch gemacht habe und dass er sich ja kaum noch an die Fragen erinnern könne. Seine Antworten schien er aber noch alle zu wissen.

Mit tiefen, dunklen Ringen unter den Augen und krächzender Stimme ließ er sich gerade zum dritten Mal darüber aus, wie unfair er die Klausur doch fand.

Mia hingegen fand die Klausur eigentlich ganz fair. Sehr schwer, aber dennoch halt fair. Man hätte alles wissen können, aber was sie besonders ärgerte, war, dass sie Gruppe 1 und nicht Gruppe 2 hatte schreiben müssen. Sie hatte natürlich einen Blick auf die anderen Fragebögen geworfen und die Aufgaben dort hatten ihr um Welten besser gefallen, als die Eigenen.

„Ich habe wirklich überlegt, ob ich nicht einfach die Klausur neben mir nehmen sollte. Ich mein, da hat eh niemand gesessen und es kann denen doch egal sein, welche Klausur ich am Ende abgebe. Ich hätte auch beide abgeben können, das wäre mir ja auch noch egal gewesen. Aber die Frage 6. c), das war halt genau das, worüber ich noch eine Hausarbeit geschrieben habe.“

„War die nicht über was ganz anderes? Wie passt denn das da rein, oder habe ich was verpasst?“

„Nein, du meinst die Hausübung für Quanti. Die muss ich aber noch machen. Das weißt du aber doch eh, hab ich dir doch gesagt, oder hörst du mir nicht zu?“

„Natürlich hör ich dir zu. Wenn ich dir mal nicht zuhöre, dann merkst du das doch. Es sei denn, du ignorierst mich wieder. Aber was hast du denn bei der Sechs jetzt geschrieben?“

Flo stand teilnahmslos dabei, während die beiden sich darüber austauschten, wer wo welchen vermeintlichen Fehler gemacht hatte. Er erkannte die Fragen wieder und erinnerte sich auch an seine Antworten. Sie stimmten in etwa mit Mias Antworten überein. Von einer Antwort konnte er sagen, dass Mia falsch lag, bei zwei Anderen hatte er Lücken, wo die Beiden sich noch um die richtige Formulierung stritten.

Eine geöffnete Sektflasche trat der kleinen Gruppe bei, dicht gefolgt von Tina, deren Hand die Falsche umklammerte. Die blondierten Haare leicht zerzaust und von einer Wolke sauren Kaffeegeruchs umgeben, wandte sie sich grußlos an Mia.

„Sag mal, ihr habt doch aus mitgeschrieben. Bei der ersten Aufgabe, da war doch eigentlich nur das Diagramm aus der ersten Vorlesung gefragt, oder? Das war im Skript gleich auf Seite zehn.“

„Nein. Du hättest das Diagramm zeichnen sollen, natürlich alles beschriften, aber dann auch noch eine kleine Erläuterung dazu schreiben sollen. Haben wir im Tutorium aber auch mehrere Male geübt. Bei wem warst du denn in der Gruppe?“

„Hä? Welche Erklärung denn? Ich war nicht im Tutorium, da konnte ich nicht. Die Termine waren immer überschneidend mit meinem Circuittraining. Aber in der Vorlesung hat die das doch auch nicht erzählt.“

„Doch. Sie hat es in der zweiten Vorlesung noch einmal nachgereicht, weil sie die Folien dazu noch nicht fertig hatte. Da warst du nicht mehr da, oder? Jedenfalls habe ich dich nach der ersten Veranstaltung nicht mehr da gesehen. Dachte schon, du hättest abgebrochen.“

„Nein aber zu den Vorlesungen gehe ich ja nicht. Die kann ich besser zu Hause machen. Da kann ich mir die Zeit besser einteilen und es bringt mehr, als in dem dunklen Hörsaal zu sitzen.“

„Stimmt. Vorlesungen hören bringt echt nichts. Mit der Ausnahme vielleicht, dass man dann den Stoff kennt, der in der Klausur geprüft wird. Andererseits steht das auch alles in den Büchern, die sie am Anfang empfohlen hat.“

Erik konnte sich den sarkastischen Einwand nicht verkneifen und selbst Flo, der sich zur Hälfte aller Vorlesungen selbst hatte zwingen müssen, unterdrückte ein Kichern.

„Ja aber das waren voll viele Bücher! Die kann man doch überhaupt nicht alle lesen. Das ist schon irgendwie echt unfair.“

Tina hatte den Sarkasmus meisterhaft übersehen. Erik rollte mit den Augen. Er hätte erwartet, dass sie sauer auf ihn wäre und ihm die kalte Schulter zeigte aber selbst er hätte einen solchen Kommentar zu deuten gewusst. Tina aber nahm die Aussage wörtlich und ernst. Sie zupfte sich ihren Ausschnitt zurecht, zuckte mit den Schultern und sah in die Runde.

„Wie lief denn die Klausur überhaupt bei euch? Fandet ihr die auch so unfair?“

„Wirklich unfair war sie nicht, nur halt echt schwer. Ich denke schon, dass ich bestanden habe aber für eine besonders gute Note wird es wohl nicht reichen. Vielleicht eine 2,7, vielleicht auch etwas schlechter.“

Erik winkte ab. Jetzt also doch? Eben noch war es doch so unfair gewesen und er hatte angeblich alles falsch. Nach dem kurzen Austausch war es schon alles besser und er traute sich eine gute Note zu? Flo wusste genau, dass Erik seine Noten immer mindestens zwei Stufen schlechter prognostizierte, als er eigentlich erwartete. Erik hoffte also auf eine 2,0 und dafür musste er doch einiges richtig haben. Dafür wirkte Mia noch immer weniger begeistert.

„Es war schon eine faire Klausur, aber die Fragen waren nicht alle sehr schön gestellt. Bei manchen war einfach undeutlich, was sie dort von uns sehen will. Man kann zu viel dazu schreiben. Außerdem hätte ich besser die Gruppe 1 geschrieben, deren Fragen waren besser. Die hatten zum Beispiel diese hier.“

Sie wedelte mit einem Blatt, welches sie aus ihrem Hefter gezogen hatte, vor Tinas Nase herum. Tina, die fast zwei Köpfe kleiner war als Mia, pflückte das Blatt aus der Luft, sah darauf und blickte Mia fassungslos an.

„Seh ich das jetzt richtig? Du regst dich hier auf wie ein Rohrspast, weil du nicht deine Lieblingsfrage hattest?“

„Das heißt Rohrspatz und nicht Spast. Und ja, das ärgert mich jetzt halt!“

„Oh mein Gott!“ Tina verzog ärgerlich das Gesicht und drehte sich demonstrativ Flo zu. Dabei zog sie kaum merklich ihr Top ein Stückchen weiter nach unten, beugte sich einen Hauch vor und legte den Kopf schräg. Ihre Stimme war plötzlich frei von jedem Ärger und einen deutlichen Schlag höher. „Und bei dir? Ist es gut gelaufen?“

Flo zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Och naja, es war wohl nicht so ganz mein Tag. Ich kann es eigentlich besser und wollte jetzt auch nicht zwingend eine schlechtere Note, als es sein muss. Aber wenn du sie sehen willst, ich hab sie dabei.“

Er reichte ihr einige zusammengerollte Blätter, die er in der Hand hielt. Drei Augenpaare starrten völlig entgeistert auf die weiße Rolle. Tina nahm sie ihm ab und blätterte den dünnen Stapel durch. Titelblatt, Aufgabenstellungen, Fragen und Antworten. Die komplette Klausur, an denen sie alle die letzten zwei Stunden gearbeitet hatten. Von den vierundzwanzig Fragen waren ganze vier ausgelassen worden. Tina überflog die Antworten.

„Ja aber, du hast doch fast alles beantwortet und wie es aussieht auch noch richtig. Du hättest doch locker bestanden!“

Mia hatte ihr die Blätter entrissen und eilig überflogen. Nun massierte sie sich mit geschlossenen Augen die Stirn.

„Flo, bist du eigentlich bescheuert? Du kannst das doch nicht einfach einstecken. Wieso hast du die Klausur nicht abgegeben? So kannst du die voll knicken, du musst die neu schreiben!“

„Ja, ich weiß. Aber wie gesagt, ich hätte es besser gekonnt. Mein Schnitt ist schlecht genug, als dass ich die guten Noten brauche. Wenn ich die schon haben kann, dann will ich sie auch.“

„Und was hast du jetzt vor?“ Tina leerte einen guten Teil ihrer Sektflasche in ihren Mund.

„Kristina kommt zu mir, dann gehen wir Pizza essen und später noch ins Kino.“

„Ich nehme an, das bezog sich auf die Klausur.“ Mia rang sichtlich mit sich selbst, um Flo nicht eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Tina starrte nur Flo an, die Flasche noch immer an den Lippen.

„Was soll ich da schon groß vorhaben? Die Nachklausur schreiben natürlich! Die ist in drei Monaten, das werde ich ja wohl auf die Reihe bekommen.“

Tina nickte, nahm noch einen großen Schluck und ging zu ihrer Clique zurück. Auch die drei Freunde nahmen ihre Sachen und bewegten sich in Richtung Ausgang.

„Wenn ich gewusst hätte, dass so etwas möglich ist. Vielleicht hätte ich das auch tun sollen.“ murmelte Mia, als sie Erik in den Regen vor der Türe schob.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 43

Blockade

Der unangenehmste Kater ist der, den man nicht am Tag danach, sondern noch einen Tag später hat. Der untrügliche Beweis, dass man es nicht mehr nur einfach übertrieben hat, sondern auch noch alt wird dabei. Das, was Flo dabei am meisten hasste, war das älter werden. Die neuen Erstis in der Uni erinnerten ihn eh schon jedes Jahr unsanft daran. Dass sich sein liebstes Hobby nun diesem Trend anschloss, gefiel ihm überhaupt nicht.

Dabei hatte er diesen Tag eigentlich fest als Lerntag eingeplant. Obwohl er keine Uni hatte, klingelte der Wecker und er hatte sich fertiggemacht, war sogar in die Uni gefahren, nur um jetzt in der Bibliothek zu sitzen und aus dem Fenster zu sehen. Sein Laptop war noch in seiner Tasche aber seine Papiere lagen ausgebreitet vor ihm. Wenn er schon nicht fleißig war, so sah er doch wenigstens so aus.

Nur sah er schon seit Stunden genau so aus. Jeder, der in den letzten drei Stunden oder mehr durch die Bibliothek gekommen war, konnte das sagen. Da half es auch nichts, dass er in einer etwas ruhigeren Ecke saß. Er starrte nur aus dem Fenster, träumte vor sich hin und beobachtete die Sonne beim Untergehen. Seine Papiere hatte er nicht angerührt, seinen Laptop ebenso wenig. Er belegte einfach einen Arbeitsplatz, während rund um ihn herum ein emsiges Treiben und konzentriertes Arbeiten herrschte.

Auch wenn er es gerne von sich behaupten würde, er träumte nicht einmal einen bestimmten Tagtraum oder eine Fantasie. Er starrte einfach nur leer vor sich hin. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Was dabei im Raum um ihn herum passierte, bekam er nicht mit. Es war ihm auch egal. Wenn er ehrlich war, heute war ihm eigentlich alles egal.

Er hatte auf sein Frühstück verzichtet, weil er zu faul war, sich ein Brot zu schmieren. Er hatte gegen Mittag einige Salzstangen gegessen aber nur, weil er den Eindruck hatte, etwas essen zu müssen. Er war in die Uni gefahren, nachdem er bemerkt hatte, dass er zu Hause nichts erledigen würde, aber hier war er noch weniger produktiv. Seine Flasche Wasser hatte er nicht angerührt, obwohl sein Mund sich trocken anfühlte. Ein alter Witz, der ihm aus irgendeinem Grund wieder eingefallen war, entlockte ihm keine irgendwie geartete Reaktion. Eigentlich hätte er überhaupt nicht aufstehen müssen.

Während draußen auf der Straße die Laternen angingen, versuchte er zum wiederholten Male an seine Aufgaben zu denken. Er las sogar mit einem halben Auge die Fragestellung durch, erfasste aber den Sinn der Worte nicht. Er sah schwarze Zeichen auf weißem Grund aber ohne jeden Zusammenhang und Sinn. Würde ihm jemand das Blatt gegen ein beliebiges anderes austauschen, er würde es nicht bemerken.

Er sollte es einfach sein lassen für den Tag und nach Hause gehen. Er sollte sich in sein Bett legen und den Tag einfach vergessen. Er konnte heute absolut nicht denken, so viel Mühe er sich auch geben wollte und im Moment war das auch echt nicht viel. Nachdem er den halben Tag nur unproduktiv herum gesessen und der Zeit beim Verstreichen zugesehen hatte, war seine Laune auch nicht mehr zwingend die Beste.

Ein junges Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, kam in den Lesesaal und steuerte eine der Arbeitsstationen an. „Die neuen Erstis werden wirklich immer jünger.“ ging es ihm durch den Kopf. Damit beschloss er, es für heute gut sein zu lassen. Während das Mädchen sich zu ihrer Mutter setzte, stopfte er seine Papiere lustlos zurück in den Rucksack. Er hätte sie nicht einmal auspacken müssen, es hätte keinen Unterschied gemacht.

Wieso war er denn in letzter Zeit so blockiert? Klar, er hatte heute einen leichten Kater aber das sollte doch nicht die Ursache sein. Immerhin war seine Blockade ja der Grund gewesen, wieso er in erster Linie getrunken hatte. Dieses miese Karma, das es sich immer rächen musste.