Verkehrte Welt
Mia war sauer. Sie zählte auf eine exakte Zeitplanung und liebte Zuverlässigkeit. Ebenso zählte ein gesprochenes Wort für sie als verbindlich. Spontanität war keine ihrer Stärken, dafür hatte sie Erik, und ansonsten nichts übrig.
„Okay, damit ich das richtig verstanden habe, Thomas. Ich hab dich vor zwei Wochen gefragt ob du am Freitag, also morgen, in die Vorlesung gehen kannst und alles mitschreiben kannst weil Erik und ich nicht da sein können. Du hast da ja gesagt und jetzt ist dir gestern aufgefallen, dass du lieber nach Hause fährst weil deine Schwester am Samstag Geburtstag hat?“
„Genau. Tut mir Leid aber Familie kann man sich halt nicht aussuchen. Das kennst du ja.“
„Und das fällt dir jetzt ein, so ganz spontan und nebenbei? Wer schreibt für dich die Vorlesung mit?“
„Eigentlich dachte ich, dass du das machen könntest. Ich hatte vergessen, dass ihr nicht da sein könnt. Aber keine Sorge, ich finde schon wen.“
„Das will ich ja wohl hoffen! Du hattest es versprochen aber gut, dann weiß ich ja, bei wem es was wert ist.“
„Ich sagte doch es tut mir Leid, und ich finde schon noch wen. Es gibt ja genug Leute, die man fragen kann.“
„Nicht Annika. Auf ein Blatt voller Blümchen und Herzen kann ich verzichten.“
Mia überlegte einen Moment, ob sie Thomas einfach stehen lassen sollte. Egal was jetzt noch kommen würde, sie lief Gefahr, die Kontrolle zu verlieren und gemein zu werden. Auch wenn sie für Thomas nie viel übrig gehabt hatte, das wollte sie dann doch nicht. Immerhin verstand sich Erik recht gut mit ihm. Und wieso kümmerte sich Erik eigentlich nicht einfach darum wen zu finden? Sie konnte sich schließlich nicht um alles kümmern.
Momente später schwankte Flo in den Raum. Verkatert wie immer, im Halbschlaf und der Jacke auf links. Sein Blick umrundete die Welt ehe er registriert hatte, was um ihn herum gerade passierte aber erfassen konnte er es trotzdem nicht.
„Wasn los hier? Ihr guckt ja alle, als wäre jemand gestorben.“
„Ja, es ist jemand gestorben. Mein Opa. Freitag ist seine Beerdigung und Thomas hätte für Erik und mich die Vorlesung mitschreiben sollen aber der werte Herr hat es sich anders überlegt.“
„Ich sehe dein Problem nicht. Dann mach ich es halt. Du hast schließlich oft genug für mich mit geschrieben, so kann ich mich mal revanchieren.“
Mia sah ihn an. „Du bist besoffen. Guck dich doch an, selbst wenn du Stift und Papier dabei hättest, morgen kannst du selbst nicht mehr lesen was du geschrieben hast.“
„Wie du meinst.“ Flo zuckte die Schultern, schraubte eine halb leere Plastikbierflasche auf und nahm einen Schluck gegen den Durst. „Ich schreib trotzdem Freitag für euch mit. Keine Sorge, ich gebe mir Mühe, dass es leserlich wird.“
Für Erik hatte sich die Angelegenheit damit erledigt, Mia hingegen platzte bald vor Wut und Ohnmacht.
Am Freitag war Flo das erste mal seit langem wieder richtig nüchtern. Das Gefühl gefiel ihm nicht besonders gut, aber es war seine Pflicht. Er hatte es versprochen, leichtsinnig wie er war und Mitschriften mit Mitschriften zu begleichen kam ihn zur Zeit eh preiswerter. Kuchen hatte in letzter Zeit unter einer ganz grauenvollen Inflation zu leiden und die Ausgleichszahlungen dazu bestanden aus immer aufwändigeren Rezepten. Eine saubere Mitschrift war da weniger Aufwand.
Es war eine seltsame Situation. Er hatte einen guten Platz erwischt aber das war keine Herausforderung. Der Saal war fast leer und er fühlte sich reichlich verloren, direkt unter des Professors Nase. „Leiste dir keine Dummheiten“ sagte er zu sich selbst. Wenn er gut aufpasste und Mia und Erik nicht nur die Mitschrift sondern auch noch Zusatzinformationen liefern konnte, dann war das vielleicht Zwei Mitschriften oder auch drei mehrstöckige Sahnetorten wert. Wieso war er nochmal kein Konditor geworden? Er erinnerte sich an ein Praktikum, an den Wecker der um vier Uhr morgens geklingelt hatte und sah auf die Uhr. Zehn Uhr am Morgen erschien ihm plötzlich sehr human.
„Du warst wirklich da?!“ Mia starrte Flo fassungslos an. Es war Sonntag Mittag. Mia saß im Schneidersitz auf Flos Bett, Erik hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt. Auf dem Nachttisch hatte Flo soeben frische Schokomuffins abgesetzt und kaute jetzt auf einem davon, während er seinen Block heraus suchte. Mia begutachtete die Muffins.
„Du hast aber schon mitgeschrieben, oder? Die Muffins sind nicht als Bestechung gedacht?“
„Die Muffins sind der Snack zwischendurch. Hier, bitteschön.“ Er reichte ihnen beiden einen dünnen Stapel Papier. „Das sind eure Kopien. Die Erste Folie war glaub ich eine Wiederholung, jedenfalls hattest du sie das letzte mal glaub ich schon dabei. Danach hat er aber ein neues Thema angefangen, hier, das Schaubild war die Einleitung. Zum besseren Verständnis. Wenn wir mal oben anfangen, dann haben wir direkt den Bezug zum vorletzten Thema, du erinnerst dich sicher noch, da baut es nämlich direkt drauf auf. Also, wie gesagt, wenn wir hier sehen …“
Zwei Stunden später legte Flo das letzte Blatt auf seinen Schreibtisch. Die Muffins waren aufgegessen, auf dem Boden lagen Notizblätter, auf die er flüchtige Stichpunkte und Vokabeln oder Schaubilder gekritzelt hatte. Erik lag inzwischen nicht mehr in Mias Schoß sondern saß kerzengerade auf der Bettkante. Mia selbst saß auf dem Teppich, die Mitschrift in der Hand und Notizzettel in die richtige Reihenfolge legend. Sie war im Augenblick zu beschäftigt um sich großartig zu wundern denn Flo hatte ihr jede Frage halbwegs zufriedenstellend beantworten können. Wo noch Fragen offen waren, da hatte er in den bereits vergangenen Vorlesungen geschlafen.
„Ihr habt echt viel geschafft in der kurzen Zeit. Wo ist denn die Tabelle schon wieder hin? Ah, hier ist sie ja. Hat er etwas dazu gesagt, was wir davon für die Klausur können müssen?“
„Die können wir weg lassen. Wenn überhaupt, dann bekommen wir die gestellt. Was wichtiger ist, hier, auf Seite vier, das rote Ausrufezeichen wird er garantiert in der Klausur fragen. Er hat es zwei, drei mal wiederholt und jedes mal besonders betont. Wenn man da aber einmal verstanden hat was er will ist das leicht. Zwei Minuten und geschenkte Punkte.“
Mia lehnte sich an den Bettpfosten und griff nach dem Teller auf dem sich die Muffins befunden hatte. Er war leer und ihr summte der Kopf. Sie hatte soeben zwei Stunden lang eine private Vorlesung bekommen, inklusive Fragestunde und ihr „Dozent“ war auch noch in seiner Sache sehr sicher gewesen. Er war sogar ausgesprochen gut gewesen! Besser als der Herr Professor persönlich denn auch wenn er vor fachlicher Kompetenz kaum laufen konnte, als Lehrer war er kein Gewinn. Sie legte ihren Stapel zusammen, hinter ihr regte sich Erik.
„Verrückt. Ich hätte gewettet, du gehst nicht hin. Und wenn du gegangen wärst, dann hättest du sicher nicht mitgeschrieben. Mal ehrlich, woher hast du die Mitschrift?“
„Aus der Vorlesung. Ich hab mich rein gesetzt und mitgeschrieben. Und aufgepasst.“
„Auf einmal klappts doch? Und das sollen wir dir glauben?“
„Jetzt sei nicht unfair, Erik“ mischte sich Mia ein, „Flo ist ja immerhin nicht dumm. Nur halt etwas zu faul.“
„Es war auch durchaus eine Herausforderung. Immerhin musste ich nüchtern sein aber es ist aufgegangen. Habt ihr noch Fragen zur Vorlesung?“
Die hatten sie nicht. Stattdessen beschloss Mia in Zukunft öfter mal nicht zur Vorlesung gehen zu können und statt dessen Flo zu schicken. Und Flo? Er beschloss, seine frisch gewonnenen Erfolgserlebnisse aus zu bauen und diesmal wirklich etwas zu tun. Die Vorlesung mit zu schreiben und auf zu passen war zwar nicht sinnlos gewesen, aber das, wobei er den Stoff aber letztendlich verstanden hatte war, als er Mia und Erik die Ergebnisse der Vorlesung vorgetragen hatte.
Vielleicht hatte er doch endlich einmal etwas gefunden, was er konnte und was ihm Spaß machte. Vielleicht.