Archiv für den Monat Juli 2017

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 142.

Das Klischee klopft an

Auch wenn die Bibliothek der Uni recht gut ausgestattet war, stieß auch dieses Sortiment einmal an seine Grenzen. Und genau diese Grenzen hatte Flo erreicht, indem er eine Vorlesung belegt hatte, die ein Buch benötigte, was in der Bibliothek nicht verfügbar war. Es blieb nur die Möglichkeit, es zu kaufen, und das glücklicherweise zu einem recht niedrigen Preis. Und um den lokalen Markt etwas zu unterstützen, entschloss er sich, von seiner gewohnten Route abzuweichen und das Buch im Buchhandel an der alten Uni zu besorgen.

Offenbar stand er allerdings vor dem falschen Regal, denn nichts, was er hier sah, war ungefähr das, was er suchte. Ähnliche Titel und andere Ausgaben des Buches, ungünstigerweise auch noch zum wenigstens fünffachen Preis. Das war es ihm beim besten Willen nicht wert. Aus dem Augenwinkel sah er einen unscheinbaren Stapel, der genau nach dem aussah, was er eventuell suchen könnte. Doch dann betrat das Klischee den Laden und er hielt sich lieber mit offenen Ohren im Hintergrund.

Die alte Uni war die Bastion der Paragrafenritter und Rechtsverdreher, der Hauptsitz der Juristen. Regelmäßig fand man einzelne Exemplare von ihnen auch auf dem Campus und an der Zentralbibliothek, die Meisten aber blieben hier versammelt, in ihrem ganz eigenen Mikrokosmos. Vielleicht würde dieses Exemplar hier sogar in der Masse untergehen, in Flos Wahrnehmung aber stach er wie ein bunter Hund heraus. Segelschuhe, Stoffhosen mit Bügelfalte, Poloshirt mit aufgestelltem Kragen, der perfekte Rahmen für die blonde Mähne. Und als er den Mund aufmachte, klangen seine Worte derart gestelzt, dass Flo sich tatsächlich zusammennehmen musste.

„Guten Abend. Ich würde gerne meine letzten Nachlieferungen bezahlen.“

Soviel hatte Flo bereits mitbekommen. Spätestens alle halbe Jahre gab es eine neue Ausgabe der Gesetzestexte und damit einhergehend eine Nachlieferung über die veränderten Passagen zum selbst auswechseln. Über ein praktisches Abomodell konnte man so automatisch die Nachlieferungen beziehen und immer die aktuellen Gesetze zur Hand haben. Er hätte allerdings nicht erwartet, dass man nachträglich in den Buchhandel gehen konnte, um vor Ort zu bezahlen. Doch hier stand der feine Herr und wollte die Rechnung begleichen. Nur, dass er keine dabei hatte. War das nicht im Register irgendwo vermerkt?

Natürlich war alles im Register vermerkt. Es brauchte nur einen Namen, um daran zu kommen. Und dieser Name passte so gut zum Auftreten und dem Studiengang, dass sich vermutlich das Klischee höchstselbst schämte.

„Von Schönwald, Maximilian.“

Natürlich reichte ein einfacher Max nicht aus, es musste die lange Version sein. Ob er sich auch mit diesem Namen von seinen Freunden ansprechen ließ? Flo konnte es sich fast vorstellen. Und dann dazu auch noch dieser erschrockene Ausruf, als er erfuhr, dass er noch ganze vier Nachlieferungen offen hatte. Der Preis dazu war für das bisschen Altpapier geradezu unverschämt, doch Maximilian von Schönwald zückte die Karte, mit der er das schon immer erledigt hatte, ohne sich von seinem entspannten Lächeln abbringen zu lassen. Wenn Flo es sich recht überlegte, dann konnte man dieses entspannte Lächeln auch als überheblich interpretieren. Dafür bräuchte es vielleicht etwas Fantasie, aber es würde noch besser ins Klischee passen. Ein solcher Overkill wäre allerdings einfach zu viel des Guten.

Der Stapel, den er noch aus dem Augenwinkel gesehen hatte, beinhaltete genau das Buch, nach dem er gesucht hatte. Und das auch noch in allen erdenklichen Abwandlungen und Ausgaben. Jetzt, wo der beste Teil der Sondervorstellung des werten Herrn von Schönwald aufgeführt worden war, brauchte er sich auch nicht mehr zurückzuhalten. Er griff das Objekt seiner Begierde und löste Maximilian von Schönwald an der Kasse ab.

Mit einem verhaltenen Grinsen im Gesicht bezahlte Flo das Buch, wegen dem er gekommen war, als das Kontrastprogramm den Laden betrat. Ein verschlafenes Mädchen in zerknittertem Jogginganzug und dicken Gesetzestexten unterm Arm schlurfte herein. Weswegen genau sie kam, hörte Flo schon nicht mehr. Er war bereits wieder auf dem Heimweg. So überspitzt und karikierend Klischees auch immer waren, sie hatten immer auch einen wahren Kern irgendwo, ähnlich wie Fabeln. Allerdings war er selten auf ein Exemplar gestoßen, wo es dermaßen ausgeprägt war. Das Erlebnis faszinierte ihn zutiefst.

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Momente X

Dumpfes Donnern wandert über den Fluss unter der Brücke, breitet sich in einer beinahe sichtbaren Druckwelle aus und lässt nicht nur die Trommelfelle in den Ohren beben. Vom Ursprungspunkt des Donners aus, nur wenige Hundert Meter entfernt, steigt eine kleine, kaum sichtbare Kugel glimmend empor. Erst schnell, immer langsamer werdend, wird auch ihr Schein immer dünner.

Völlig absehbar und doch unerwartet verwandelt sich der eben noch kaum sichtbare Punkt in einen weißen Blitz, der den ganzen Himmel erleuchtet und die Menschenmassen rund herum sichtbar macht. In alle Richtungen schießen die weißen Strahlen, Tentakeln gleich, in den Nachthimmel. Nach einer kurzen Strecke ist ihre Reise aber wieder am Ende und sie explodieren in einen Regen aus Sternen. Nur einen kurzen Augenblick hat es gedauert, vom Abschuss der Ladung bis zum Verglühen ihrer letzten Fragmente. Der Wind trägt den Pulverdampf mit sich fort, kitzelt in der Nase und macht dann Platz für die nächste Donnerwelle, welche die Seele massiert.

Eine nach der anderen zünden die Röhren, katapultieren ihre brennenden Ladungen in den Himmel. Mal einfache Lichtblitze, knisternden Goldregen, funkelnde Sterne. Mal bunte Explosionen in allen Farben des Regenbogens, jede begleitet von einem volltönenden tiefen Donner. Inzwischen rollt er nicht mehr in einzelnen Wellen heran. Auf jeden Knall folgt gleich der nächste, der Blitz, jedes Leuchten, geht direkt in das nächste über. Selbst in den dunklen Momenten dazwischen glüht der Himmel immer noch so hell, dass es selbst der hellste Stern nicht hindurch schafft. Brennende Säulen steigen auf, zerplatzen zu kleinen Sonnen, die ihr Feuer wie eine weiche Decke über den Fluss legen. Mit lautem Heulen schrauben sich Spiralen aus Licht in dem Himmel und prägen sich in die Netzhaut.

Und dann ist es auf einmal vorbei. Keine weitere Ladung wird abgeschossen, kein neuer Stern erscheint und rieselt als prasselnder Funkenregen hinab. Statt knallenden Pulvers rauscht wieder nur der Hintergrundlärm der Stadt und zahlloser Menschen in den Ohren und der Wind trägt die nach verbranntem Schwarzpulver riechenden Wolken mit sich fort. Nur noch ein schwacher Nachschein glitzert im Auge, während die Sterne langsam wieder sichtbar werden. Und es fühlt sich an, als würde der Wind mitsamt dem Pulverdampf auch einige Traumsplitter davontragen. Auf zu neuen Ufern, in frische Köpfe, als Kondensationskeime für junge Geister und Hoffnungen.

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Der Blödsinn der Woche 3.

Da im Moment leider nicht jeder Urlaub hat, und ich z.B. zwischen den Klausuren nicht die Ruhe für eine hübsche Geschichte finde, gibt es heute leider nur einen kleinen Tröster in Form von einer vielleicht nicht einmal so sehr blödsinnigen Frage. Vielleicht hat jemand eine gute Antwort? Ich hoffe, es kann bald regulär weiter gehen hier und ihr verzeiht den Bruch im Plan. Liebe Grüße!

In welcher Sprache denken von Geburt an taube Menschen?

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 141.

Überraschungshausarbeit

Drei Uhr nachts war nicht die beste Zeit, um am Schreibtisch zu sitzen, wenn man am nächsten Morgen um zehn Uhr in der Vorlesung sitzen wollte. Vor dem offenen Fenster zog eine angetrunkene Gruppe Studenten vorbei, auf dem Heimweg nach einer wilden Nacht so kurz vor der Prüfungsphase. Für Flo war das keine Option.

Abgesehen davon, dass er der Clubphase weitestgehend entwachsen war, und einfach keine Freude mehr daran finden konnte, aber auch an der Hausarbeit. Eine Woche hatte er noch Zeit, aber auch das hehre Ziel, frühzeitig abzugeben. Es wäre sicherlich leichter gewesen, wenn er die Abgabefrist gemeinsam mit dem Thema zu Semesterbeginn bekommen hätte, und nicht erst vor einer Woche per Mail. Natürlich hatte er sich mit den anderen Kursteilnehmern unterhalten und sie waren alle davon ausgegangen, dass der Abgabetermin wie üblich das Semesterende war. Jetzt war bei ihnen allen die Zeitplanung gründlich durcheinander geraten.

Tina hatte den Kurs direkt aus ihrem Plan gestrichen. Diesen Aufwand würde sie sich schenken, zumal sie gerade wichtigere Probleme hatte. Auch Mia liebäugelte eifrig mit dem Gedanken, zumal sich diese Frist bei ihr mit noch zwei weiteren Fristen überschnitt. Sie hatte ihr Thema für die Hausarbeit spontan und eigenmächtig um das Thema Zeitmanagement erweitert und eine scharfe Kritik an der Organisation des Professors eingebaut. Eventuell würde sie am Ende dran denken, diesen Teil wieder zu löschen. Ihrer Note zuliebe wenigstens.

Flo blätterte durch die Literatur, die sein Thema behandelte, und die er nicht verstand. Er konnte unmöglich alles in der Zeit lesen, was er für eine Hausarbeit nach seinen Maßstäben benötigte. Besonders deswegen, weil er keinen rechten Einstieg in das Thema finden konnte. Die groben Mechaniken waren kein Problem, aber im Master wäre doch sicherlich ein tiefer gehendes Verständnis des Themas vorausgesetzt, und damit konnte er nicht aufwarten. Andererseits würde eine dermaßen tief reichende Behandlung des Themas auch noch den Umfang der Arbeit um einige Größenordnungen sprengen. Er musste sich auf das Wesentliche beschränken, nur dann würde er mit großen Lücken im Thema leben müssen, was ihn ausgesprochen ärgerte.

Sein Blick wanderte zur Uhr. Wenn er jetzt noch Feierabend machte, dann konnte er noch vor halb vier im Bett sein, sich an Kristina ankuscheln und wäre hoffentlich tief genug eingeschlafen, dass er nicht mehr aufwachte, wenn sie sich um kurz nach sechs fertig machte, um zur Arbeit zu fahren. Was die Vorlesung betraf, würde es sowieso wenig Sinn ergeben, dort zu sitzen, wenn er nicht wach bleiben konnte. Aber das konnte er auch morgen früh noch feststellen. Erik würde sicherlich hingehen, auch wenn er auch erst um kurz nach zwei Uhr nachts seinen Laptop zugeklappt hatte.

Aus den ein bis zwei Tagen auf dem Sofa schlafen war inzwischen eine gute Woche geworden. Eine Woche, in der ein sehr leiser und fast unsichtbarer Mitbewohner für eine immer aufgeräumte und saubere Küche gesorgt hatte. Eine Woche, in der Mia zwar irgendwann bemerkt hatte, dass er nicht mehr bei ihr im Bett schlief, aber dann doch immer wieder zu beschäftigt gewesen war, um ihn darauf anzusprechen. Oder sie hatte es schlicht und einfach vergessen, wenn sie ihn dann einmal sah. Sie begrüßte ihn mit einem routinierten Kuss, kuschelte sich gewohnheitsmäßig an und tat, was sie halt so tat. Besorgte Blicke kamen dabei dann weder von Mia oder Erik, welcher alles nur noch stoisch über sich ergehen ließ, sondern von Tina und Flo.

„Und jetzt sag mir noch einmal, dass die zwei einfach nicht ohne einander auskommen können.“

Tina hatte sich in einer ruhigen Minute an Flo gerichtet, und dabei nicht glücklich gewirkt. Natürlich, sie war eifersüchtig auf Mia gewesen, aber das hier war auch keine Alternative. Vor allem, weil sie sich auf diese Weise auch noch schuldig fühlte. Immerhin war sie der Grund, weswegen die tiefen Klüfte in der Beziehung des Traumpaares so drastisch sichtbar wurden. Sie mochte es sich nicht ausgesucht haben, aber das änderte wenig an der Tatsache. Und dann fiel dieses Chaos auch noch in einen so dicht gepackten Zeitraum, wo man ohnehin kaum den Kopf zum Denken freibekommen konnte. Wo sollte das denn bloß alles enden?

Flo musste ihr im Stillen recht geben. Mia und Erik schienen für den Moment wirklich gut zurechtzukommen. Ohneeinander! Der oberflächliche Eindruck mochte täuschen und vielleicht würde diese kleine Auszeit ihnen beiden gut tun, helfen, sich wieder auf was Wesentliche zu besinnen und der Beziehung auf lange Sicht gut tun. Im Augenblick hatte er aber eher den Eindruck, sie hatten sich getrennt, und nur vergessen, das dem jeweils anderen auch mitzuteilen.

Aber ob Pause oder nicht, Erik war ein guter Freund, nur auf Dauer konnte er nicht sein Wohnzimmer in Beschlag nehmen. Darüber waren sich alle Beteiligten sicherlich im Klaren. Tina war bereits drauf und dran gewesen, ihm ihr WG-Zimmer anzubieten, hatte dann aber wieder Abstand davon genommen, als sie realisierte, dass sie dann ja selbst bei Mia einziehen müsste. Der Gedanke war ihr zu sonderbar vorgekommen. Mia hätte vermutlich von allen noch das kleinste Problem damit, eher im Gegenteil. Und das machte die Angelegenheit nicht weniger verrückt. Nicht nur Flo hatte längst aufgegeben, verstehen zu wollen, wer in dieser Dreiecksbeziehung wen nun wie wahrnahm.

Die Uhr zeigte viertel nach drei. Das Licht der Straßenlaternen war das Einzige, was das kleine Arbeitszimmer erhellte, der Monitor war dunkel, genau wie die Lampe. Nur die Perspektive war seltsam. Es kostete ihn einen Moment, zu realisieren, dass er, statt aufzustehen, eingeschlafen und vom Stihl gerutscht sein musste. Eigentlich könnte er auch gleich hier auf dem Teppich liegen bleiben. Das wäre mit Abstand die einfachste Möglichkeit, aber dann griff doch noch sein Egoismus und er schleifte sich ins Bett, nicht für die Bequemlichkeit, aber um näher bei Kristina zu sein. Wenn sie einmal nicht da sein sollte, würde er das unter Garantie sofort bemerken.

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Momente IX

Strahlend weißer Nachthimmel, nur für den Bruchteil eines Wimpernschlags. Zwei Herzschläge schwarzer Ruhe und Finsternis, mit nichts weiter als dem leisen Prasseln von Regen. Ein scharfer Knall zerreißt die Stille der Nacht in abertausende Fetzen, jagt Spannung und Energie durch jede Zelle, angefangen bei den Haarspitzen, bis hinunter in die Zehen. Elektrisches Knistern in der Luft, das weiche Massieren der Druckwellen im Bauch.

Der Wind zerrt an den Wipfeln der Bäume vor dem Fenster, pfeift in den zugigen Ritzen im Rahmen. In immer neuen Böen wirft er Regen und Hagel wüst umher, lässt sie im trüben Licht der Straßenlaterne glitzern. Nach jedem Blitzeinschlag scheinen sie kurz zu verlöschen, nur um dann wieder eine einsame Fackel im schwarzen Unwetter zu sein. Eine einzelne kleine Lampe erleuchtet nur ein Fenster auf der anderen Straßenseite. Ansonsten könnte dort auch eine einfache schwarze Wand sein. Das einzige Lebenszeichen weit und breit.

Mit jedem Blitz wird der Donner leiser und leiser, lässt immer länger auf sich warten. Am Ende schafft es ihr Leuchten kaum noch durch den Regen. Die Aufregung lässt nach und alles, was zurückbleibt, ist das Prasseln der Hagelkörner auf den Autodächern auf dem Parkplatz und das Trommeln der Regentropfen, die der Wind gegen das Fenster wirft. Die Nacht holt sich ihre Finsternis zurück und selbst das letzte Licht gegenüber erlischt.

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Gartenüberraschungen

Wenn die Sonne strahlt, ist es eine tolle Sache, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen, und einfach mal durch den Garten zu schlendern. Der Wind spielt mit Blüten und Blättern, die Sonne bringt die Wassertröpfchen auf frisch gegossenen Gemüsebeeten zum Glitzern und Bienen summen mit den Hummeln um die Wette. Überall gibt es etwas zu sehen und in so vielen Beeten auch etwas Interessantes zu entdecken.

Denn der Vorteil an einem Gemeinschaftsgarten ist nicht nur, dass man selbst nicht weiß, was andere Leute gepflanzt haben. Oft genug wissen sie es selbst nicht einmal, oder sind von etwas anderem ausgegangen. Und so sprießen ganz unerwartete Geschöpfe aus den Samen, die doch eigentlich so klar beschriftet waren.

Da sprießt eine Paprika, die zwar eigentlich herrlich süß und erfrischend sein sollte, beim Probieren aber eine feurige Überraschung bereithält. Das ordentliche Beet mit Kapuzinerkresse wird durch darin sprießende Erbsen geringfügig gestört und auch Schnittlauch und Dill sollten eigentlich nicht so einfach zu verwechseln sein. Schwieriger ist es da schon bei Kürbis, Gurke und Zucchini. Diese Drei sind so nah miteinander verwandt, dass teilweise erst die Frucht die Überraschung offenbart.

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Und dann gibt es noch die heimlichen Exoten. Da wächst in einem Beet eine Tomatenpflanze, von der niemand zu wissen behauptet, woher sie denn stammen könnte. Die Tomaten daran sind jedenfalls fast reif und es lässt sich nicht mehr verbergen, dass sie nicht zu gewöhnlich sind. Denn statt in kräftigem Rot erscheinen die Kügelchen im satten Schwarz. Ein Anblick, der vielleicht deswegen so faszinierend ist, weil er unerwartet kommt. Ähnlich wie der Blumenkohl, nur das bei ihm bekannt ist, woher er stammt. Dennoch, obwohl er sich auf dem mageren Boden recht schwer tut, hält auch er eine kleine Überraschung bereit. Er denkt nicht daran, die übliche weiße Farbe anzunehmen. Ihm gefällt die Welt in Lila viel besser. Ein Bild, was man im Supermarkt an der Ecke nicht ganz so oft sieht.

Fast schon langweilig wirkt daneben der Kürbis, der anstelle von grünen, gelb leuchtende Früchte trägt oder die angebliche Feuerbohne, die sich dann doch lieber zu weißen oder blassblauen Blüten, statt der typisch leuchtend roten entschieden hat. Aber noch ist der Sommer nicht vorbei und es bleibt abzuwarten, welche Überraschungen noch in den Beeten warten. Und ansonsten warten auch im nächsten Jahr wieder viele spannende Experimente und Gewächse auf den Sommer.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 140.

Erik zieht aus

„Hast du bemerkt, dass Erik mit Mia nicht mehr besonders glücklich ist? Selbst wenn es drei Jahre gehalten hat, ich würde gerade auf kein Viertes wetten.“

Das hatte Tina noch vor etwas mehr als zwei Wochen zu Flo gesagt, und dieser hatte es nicht besonders ernst genommen. Bei Mia und Erik ging es immer auf und ab. Mal stritten sie, dann vertrugen sie sich wieder. Sie hassten und liebten sich und konnten doch unmöglich ohne einander. Und regelmäßig kam es vor, dass einer von beiden bei Flo saß und sich hemmungslos über den anderen aufregte. Aber das hier war dann doch etwas Anderes, etwas Neues.

„Kann ich vielleicht ein zwei Nächte bei euch unterkommen? Ich brauche dringend etwas Abstand.“

Erik war zerknittert, genau, wie seine Kleidung. Tiefe Augenringe und ein bei ihm sehr ungewohnter Bartansatz zierten ein ausgemergeltes und eingefallenes Gesicht mit tiefen Falten. Flo konnte sich sogar denken, woran es lag. Tina war vor zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden und bei Mia eingezogen. Mehr oder weniger heimlich war es abgelaufen und ihre Mitbewohnerinnen wussten offiziell nicht, wo sie steckte. Nur für den Fall, dass ihre Familie sich wieder melden würde. Die Ereignisse der letzten Woche hatten das Verhältnis zwischen ihnen deutlich belastet.

Zwei Tage hatte es gedauert, bis ihre Eltern sich die Zeit genommen hatten, sie im Krankenhaus zu besuchen, und es war kein schönes Ereignis gewesen. Voller Vorwürfe und böser Worte, frei von jeder Empathie und Mitgefühl. Waren sie anfangs noch erschüttert gewesen, dass ihre Tochter im Krankenhaus lag, schlug dieses Gefühl in Wut um, als sie von dem Grund erfuhren.

„Ein Kind? Woher um alles in der Welt bekommst du ein Kind? Wie konnte denn so etwas passieren? Wir schicken dich an die Uni, damit du etwas lernst, nicht, damit du dich prostituierst. Kind, wieso machst du uns solch eine Schande? Was sollen denn die Leute über unser Haus denken? Auf diese Weise können wir die ganze Affäre wenigstens unter den Tisch kehren.“

In diesem Stil war der ganze Besuch abgelaufen, bis Mia drauf und dran gewesen war, ihnen den Kopf abzureißen. Sie hatte beschlossen, dass Tina etwas Abstand zu ihrer Familie brauchte und Tina, erschöpft und entkräftet, wie sie war, konnte es zwar nicht zugeben, aber sie war dankbar darum. Hannah und Marlene zogen sofort mit und organisierten mit Mia das Exil. Tina sollte eine Weile bei Mia unterkommen. Nur Erik wurde nicht gefragt. Wieso auch? Natürlich würde er damit einverstanden sein. Wie konnte er auch nicht? Bei einer solchen Situation als Ausgangslage.

Und am Anfang sah es auch gut aus. Das Leben in der gemeinsamen Wohnung ging fast genau so weiter, wie es bisher gewesen war. Erik kümmerte sich um den Haushalt und kochte, Mia kümmerte sich um die Uni und speziell um Tina. Immerhin hatte Tina auch im Hinblick auf das Studium einiges nachzuholen. Und was Erik schon früher bemerkt hatte, fühlte er jetzt deutlicher und immer deutlicher. Er gehörte hier nicht mehr wirklich hin. Es war nicht seine Wohnung, es war Mias und er war hier nur Gast. Er war in gewisser Weise ein Fremdkörper.

Wenn er länger in der Uni gewesen war, wurde er zwar begrüßt, wenn er in die Wohnung kam, aber niemand fragte mehr nach seinem Tag oder wo er gewesen war. Er konnte kommentarlos hinausgehen, ohne vermisst zu werden. Seine Freundin war voll und ganz mit Tina beschäftigt, einer Frau, von der sie wusste, dass sie es einmal auf ihren eigenen Freund abgesehen hatte. Sein Rückzugsort war von einem Tag auf den nächsten nicht mehr vorhanden. Klar, Tina war auch vorher schon öfter hier Gast gewesen, aber immer nur Gast und nie Mitbewohnerin.

Jetzt waren seine Akkus leer und er brauchte dringend Abstand. Jetzt, zum Ende des Semesters, mit der Prüfungsphase vor der Türe, konnte er unmöglich zu seinen Eltern fahren. Flo und Kristina waren eine sehr viel nähere und auch inzwischen vertrautere Umgebung. Um dort nicht zu dem Störfaktor zu werden, vor dem er selbst flüchtete, hatte er sich vorgenommen, möglichst wenig zu stören. Lange Tage in der Bibliothek und eifrige Hilfe im Haushalt konnte er als Ausgleich anbieten. Und es sollten ja auch wirklich nur einige wenige Tage werden. So lange, bis er wieder die Kraft hatte, es in seiner eigenen Wohnung auszuhalten … oder aber eine andere Möglichkeit gefunden hatte.

Nein, den letzten Gedanken verwarf er ganz schnell wieder. An so etwas wollte er überhaupt nicht denken. Natürlich würde er in zwei drei Tagen wieder zu sich nach Hause können. Mia würde ihn bis dahin sicherlich auch vermisst haben. Er wollte sich extra nicht bei ihr abmelden und ihr sagen, was er vorhatte. Sie sollte von alleine darauf kommen. Nur Flo zweifelte an dem Plan, als Erik ihm die Situation beschrieb, sagte aber nichts. Diese Erfahrung musste Erik leider selbst machen.

Es gab generell einiges, was Flo nicht aussprach. Beispielsweise, dass er bereits auf diesen Tag gewartet hatte und vorbereitet war. Alles war für einen solchen Besuch vorbereitet, und als sie abends in die Wohnung kamen, warfen sich Flo und Kristina nur vielsagende Blicke zu.

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Das Volk hat gesprochen!

Volksentscheide bieten eine herrliche Angriffsfläche für Ironie und unfreiwillige Komik. Da soll abgestimmt werden, ob aus einem alten Parkplatz mitten in der Innenstadt ein begrünter Platz mit Tiefgarage darunter, oder ein Park mit größeren Bäumen wird. Die Entscheidung könnte kaum deutlicher sein. Es fehlt nicht mehr viel bis zur Dreiviertelmehrheit, mit der das Volk sich gegen eine Tiefgarage und für einen grünen Park entscheidet. Mitten in der Stau-geplagten Innenstadt irgendwo sogar ein naheliegender Gedanke. Der Verkehr soll aus der Stadt heraus, damit die Luftqualität sich verbessert und die Anwohner weniger Stress haben. Der Park ist billiger und kann sofort umgesetzt werden und bietet ohnehin eigentlich nur Vorteile. Immerhin hat die Initiative für den Park auch im Vorfeld eine musterhafte Werbekampagne gestartet. Da ist ein solches Wahlergebnis doch ein süßer und verdienter Lohn.

Besonders, da die Stadt derart dankbar mit zieht und den alten Parkplatz, ganz dem Wunsche der Bürger entsprechend, für den Verkehr sperrt, einige provisorische Bänke und Kübel mit Bäumen aufstellt, sowie eine Werbetafel mit Bildern, wie es denn einmal aussehen soll. Direkt in der auf den Bürgerentscheid folgende Woche. Der tatsächliche Umbau ist also beschlossen und soll in Kürze dann folgen. Konsequent und ohne langes Hantier, so direkt war Demokratie selten. Was wünscht sich der Bürger denn mehr?

Wer hat es erraten? Richtig! Natürlich Parkplätze! Auf einmal war es völlig unnötig, den Parkplatz so überhastet räumen und sperren zu lassen. Wo soll man schließlich jetzt parken? Und was sollen überhaupt die Bänke hier? Direkt an der Kreuzung hier will sich doch ohnehin niemand niederlassen. Die Empörung ist groß und die Verwunderung noch größer. Wer hätte auch ahnen können, dass ein Volksentscheid tatsächlich umgesetzt wird? Zugegeben, es war so angekündigt, aber seit wann wird umgesetzt, was die Politik beschließt?

Und so rächt sich ein demokratisches Element auf die gemeinste und hinterhältigste mögliche Weise: Es tut, was es soll! Denn ab und an wird der Wähler mit seiner Stimme durchaus gehört und welcher Volksvertreter möchte sich schon gegen das Volk stellen, welches er vertritt? Man kann allerdings etwas den Eindruck bekommen, dieses Volk weiß nicht immer so ganz, was es eigentlich möchte! Demokratie kann eine tolle Sache sein, das sollte niemand bestreiten. Aber damit sie funktioniert, muss der Wähler auch ein gewisses Interesse und Initiative zeigen. Wer gegen seine Interessen wählt, ist nämlich am Ende einfach nur selber schuld und macht das System schlecht.

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War, Sein, Werden V. – Ende

Das Zimmer wirkte in jeder Hinsicht schäbig und unterwohnt. Die Tapete war nicht gestrichen, vergilbt und irgendwann einmal schlampig und schief aufgeklebt worden. Der Boden war immer nackt geblieben, bis auf ein alter Handtuch, was als Teppich diente. Die einzelne Glühbirne über dem verschlissenen Sessel tauchte den winzigen Raum in ein zwar gelbes, aber trotzdem kaltes Licht. In diesem Sessel saß, mit untergeschlagenen Beinen, der Philosoph, und bekam von dem Zustand des Zimmers nichts mit. Er hing seinen eigenen Gedanken in seiner eigenen Welt nach.

„Was wäre,“ so dachte er „wenn die Menschheit eines Tages die Möglichkeit bekommen würde, in der Zeit zurückzugehen und zu sehen, wie vergangene Generationen wirklich gelebt hatten? Könnte man die Zeit überhaupt so beeinflussen? Was für ein Wesen müsste eine solche ‚Zeit‘ haben?“

In der gesamten Geschichte der Menschheit hatte sicherlich nie jemand einen solch kühnen Gedanken veröffentlicht. Er würde den Gedanken aufschreiben, würde eine Fragestellung formulieren, einige Überlegungen dazu notieren und dann die Fragestellung an das philosophische Konzil schicken. Sie würden sich an seinen Namen erinnern. Die Zukunft würde sich an seinen Namen erinnern.

Seine Fensterluke verdunkelte sich, als ein Erzfrachter vom Mars auf dem Mondhafen vor seinem Fenster zur Landung ansetzte. Eine teure Wohnung mit Erdblick konnte er sich nicht leisten aber über seinen Schreibtisch gebeugt würde er davon so oder so nichts mitbekommen.

‚Stellen Sie sich die Zeit als eine Achse vor, auf der man wandern kann. Stellen Sie sich vor, Menschen könnten sich beliebig auf dieser Achse bewegen. Was wäre, wenn man die zeit beeinflussen könnte?‘

Und damit fing der ganze Schlamassel von vorne an…

Das war der kleine Ausflug meines früheren Ichs in die Welt der Zeitreisen. Ich fürchte, die Geschichte funktioniert am besten, wenn man sie am Block liest, aber auch das braucht starke Nerven und Durchhaltevermögen. Wie immer sind aber Kommentare, Kritik und Meinungen immer gerne gesehen. Ich freue mich auf Feedback und bis zum nächsten Abenteuer.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 139.

Verlust

Kannst du mir ein Handout einpacken? Schaffe es heute nicht mehr in die Uni. Musste noch einmal ins Krankenhaus.

Das war die Nachricht gewesen, die Mia von Tina bekommen hatte. Das passte nicht so ideal zu der perfekten Schwangerschaft, von der nach der letzten Untersuchung noch die Rede gewesen war. Dennoch reichte es aus, um Mia für die Stunde zu beruhigen. Wenn sie noch schreiben konnte, dann würde es schon nicht so schlimm sein, aber für den Nachmittag würde sie sich auf jeden Fall auf den Weg machen, um Tina im Krankenhaus zu besuchen. Flo und Erik brauchten nicht gefragt zu werden, ob sie mit kämen. Einerseits war es eine zu verlockende Möglichkeit, das tägliche Lernpensum etwas beiseitezuschieben, andererseits war es im Krankenhaus grundsätzlich so langweilig, dass man sich immer über den Besuch von Freunden freuen konnte.

Soweit stand der Plan also. Die Praxis unterschied sich dann leider doch etwas von der Theorie. Tina im Krankenhaus ausfindig zu machen war nicht so einfach wie gedacht und die Stationsschwester hatte ernsthafte Bedenken, sich gleich alle drei bis in das Krankenzimmer durchzulassen. Spätestens jetzt war Mia ausreichend beunruhigt, um sich alleine an der Schwester vorbei zu schieben und in Tinas Zimmer zu eilen. Flo und Erik warteten sicherheitshalber auf grünes Licht, wenn auch nicht weniger besorgt. Aber man konnte nie wissen, in welcher Situation sich Tina gerade befand, denn Auskunft gab es nur für direkte Angehörige.

Die zwei Minuten, bis Mia zurückkam, schienen sich über Stunden zu erstrecken. Doch als sie kam, war sie schneeweiß im Gesicht und wirkte unsicher auf ihren eigenen Beinen. Als sie sich an Erik ankuschelte, bemerkte er, dass sie zitterte. Ihre Stimme war so dünn und brüchig, wie Flo es noch nie von ihr erlebt hatte. Sie stand sichtlich unter Schock.

„Sie hat gesagt, ihr könnt mit rein kommen, aber es geht ihr ziemlich schlecht. Ein Krankenwagen hat sie letzte Nacht hier hingebracht, weil sie starke Schmerzen im Unterleib hatte. Es war leider trotzdem zu spät, das Kind ist gestorben.“

Flo konnte nicht sagen, was in diesem Moment alles in seinem Kopf umherschwirrte. Das musste der größte Horror aller werdenden Eltern sein. Das Kind zu verlieren, besonders, wo sie so lange darum gekämpft hatte, sich damit anzufreunden und es endlich geschafft hatte, sich darauf zu freuen. All die Arbeit, dennoch eine gute Mutter zu sein und ihrem Kind, allen Widrigkeiten zum Trotz, ein schönes und sicheres Nest zu bieten. All die Sorgen, Hoffnungen, Wünsche und Träume. Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es ihr jetzt gehen musste. Erst an der Türe bemerkte er, dass seine Beine ihn mechanisch durch den Flur getragen hatten.

Was er dahinter vorfand, erschreckte ihn dann aber doch, trotz seiner schlimmen Vorahnung. Dort lag Tina im Bett, die blonden Haare wie Sonnenstrahlen um ein Gesicht, dessen Farbe irgendwo zwischen weiß, grün und grau rangierte. Die eingefallenen Augen waren tiefrot und ihr Blick in der versteinerten Mimik irgendwo auf einem Punkt im Nichts festgefroren. Wortlos setzte er sich auf den Rand des Bettes und legte ihr die Hand auf die Schulter. Einzig und allein ihr schweres Schlucken verriet, dass sie ihn überhaupt wahrgenommen hatte. Mia kuschelte sich von der anderen Seite an sie heran, während Erik am Fußende stehen blieb und nicht so recht zu wissen schien, was er jetzt tun sollte. Er war sichtlich um Fassung bemüht aber in seinen Augen stand dennoch blankes Entsetzen.

Flo war sich sicher, wenn Tina noch eine einzelne Träne übrig gehabt hätte, sie wäre jetzt geflossen. Aber ihr Kissen und ihre Haare waren bereits völlig durchnässt und die kleine Frau lag entsetzlich ausgelaugt, eingefallen und erschöpft tief in den Kissen. Mehr ein Schatten denn Gestalt, ruhte sie hier von ihren Freunden eingerahmt und gehalten, und für wenigstens fünf Minuten herrschte eiserne Stille. Als dann eine dünne, heisere Stimme erklang, brauchte es einige Sekunden, bis alle realisiert hatten, woher sie kam.

„Vielen Dank euch, dass ihr gekommen seid.“

Tina schien nicht einmal Luft geholt zu haben, um diese Worte zu sprechen. Ihr Laken bedeckte sie mit einer Reglosigkeit, als wäre es ein Leichentuch. Als Flo dieser Gedanke durch den Kopf schoss, stellte er schockiert fest, dass es genau das im Grunde genommen auch war.

„Nicht dafür. Sag uns nur, wenn wir irgendetwas tun können, um dir zu helfen. Egal was.“

Mia war dazu übergegangen, Tinas Kopf zu streicheln, Tränen in den Augen und doch jede Regung im Blick. Sie würde hier liegen bleiben und sich um Tina kümmern, soviel war deutlich. Und wieder war Flo erstaunt, zu welcher Zärtlichkeit sie in der Lage war. Keine Spur war mehr von der sonst so charakteristischen Grobmotorigkeit und Tollpatschigkeit zu sehen. Es dauerte wieder eine Weile, bis Tina genug Kraft für die nächsten Worte gesammelt hatte. Doch sie kamen noch kraftloser und leiser als die Ersten.

„Die Ärzte sagen, sie wissen nicht genau, was passiert ist. Ich habe alles richtig gemacht und auch aus den bisherigen Untersuchungen deutet nichts darauf hin, dass etwas nicht stimmen würde. Es sah alles so gut aus.“

Ihr Äquivalent zum Seufzen war heute, dass zum ersten Mal eine Atembewegung das dünne Laken leicht anhob. Trotzdem waren ihre Worte kaum mehr als ein Windhauch.

„Aber wieso ist dann meine Kleine weg?“

Der unbestimmte Punkt, irgendwo in der Unendlichkeit über dem Horizont, den sie fixiert hatte, sprang um. Erik stand immer noch am Fußende des Bettes und betrachtete sie mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Vom einen Moment auf den nächsten sah er in ein Paar Augen, welche das Kunststück fertigbrachten, glasig und milchig trüb gleichzeitig zu sein, und ihm direkt in die Seele starrten. Keine Anklage, keine Wut oder Zorn lag darin. Lediglich absolutes Unverständnis und entsetzlich tiefer Gram. Und die Frage, auf die sie von niemandem hier eine Antwort bekommen konnte.

Flo atmete so leise wie er konnte tief durch. Tina mochte in der Vergangenheit ziemlich ausfallend gewesen sein und sie hatte Mias und Eriks Beziehung bei mehr als nur einer Gelegenheit auf eine harte Probe gestellt. Aber konnte das Schicksal sich wirklich dermaßen brutal rächen? Das stand in absolut keinem Verhältnis mehr. Besonders, zumal in letzter Zeit ihre Einmischung in fremde Beziehungen nicht einmal von ihr selbst, sondern von Mia ausgegangen war. Auch wenn er sich zeitweise über sie und ihre augenscheinliche Sorglosigkeit geärgert hatte, niemals hätte er ihr eine solche Situation gewünscht.

Aber ihre Anwesenheit schien zu helfen. Eine Stunde lang saßen sie einfach wortlos um Tina herum und waren für sie da, und mit jeder Minute davon schien sie wieder ein kleines bisschen mehr ins Leben zurückzufinden. Mit jeder Minute war sichtbarer, dass sie noch atmete und noch da war. Am Ende war sie sogar in der Lage, mit etwas Hilfe einen zaghaften Schluck Wasser zu sich zu nehmen. Es musste der Erste sein, den sie überhaupt an diesem Tag zu sich nahm.

Ein vorsichtiges Klopfen an der Türe kündigte Hannah und Marlene an, Tinas Mitbewohnerinnen. Letzte Nacht hatten sie den Krankenwagen gerufen, sich versichern lassen, dass alles gut werden würde, und versprochen, nach ihrem Laborpraktikum vorbei zu kommen. Sie hatten Wort gehalten, doch kaum waren sie im Raum und hatten Tina gefunden erstarrten sie kurzzeitig zur Salzsäule. Auch wenn sich inzwischen sogar Tinas Augen wieder bewegten, bot sie immer noch einen schlimmen Anblick. Ein gehauchtes „Oh nein …“ war alles, was zu hören war, ehe sie ihrer Mitbewohnerin um den Hals fielen. Ein stummer Blick zwischen den beiden Mädchen besiegelte das Versprechen, vorerst zu verschweigen, dass Tinas Eltern angerufen hatten. Für den Moment gab es sehr viel Wichtigeres.

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