Archiv für den Monat Juni 2017

Blockade

Ein wirrer Kopf voller Gedanken, Bildern, Geschichten und ein leerer Bildschirm und ein weißes Blatt Papier, die nur darauf warten, dass man sie füllt. Geschichten, die Formen und Konturen annehmen. Ecken, an denen man sie greifen kann, drehen und ordnen, bist sie nicht nur Sinn ergeben, sondern auch Eleganz und eine gewisse Ästhetik bekommen. Doch etwas ist da im Weg.

Ein Gefühl von Anspannung, Verzweiflung, Langeweile und gleichzeitig Stress und Blockade. Der Drang, etwas zu schreiben, etwas zu erschaffen. Ein Drang, der alles andere überdeckt, ablenkt und Aufmerksamkeit fordert. Draußen tobt das Leben. Leute begegnen sich, treffen sich, verlieben sich, genießen die Sonne, das Leben, die Gesellschaft. Drinnen warten immer noch geduldig das weiße Blatt Papier und der leere Bildschirm. Langsam wächst die Verzweiflung, Selbstkritik, Scham, Panik. Die Geschichten verlieren ihre Kontur, die Kanten beginnen auszufransen, wie Wolken bei steigendem Luftdruck.

Immer mehr Details fliegen davon. Je fester man versucht, an ihnen festzuhalten, so schneller sind sie weg. Wie die dunklen Punkte, welche auf den weißen Streifen flimmern, die eine schwarze Fläche in Karos unterteilen. Das Leben ist inzwischen von den Straßen und aus den Parks verschwunden. Vereinzelte Autos rauschen durch die Straßen, aber immer noch bemächtigt diese lähmende Unruhe mein Innerstes, umklammert diese Panik mein Herz.

Versagt, ich habe versagt. Verloren sind die Bilder, die Geschichten, die tanzenden Buchstaben. Verloren sind Geschichten über verlaufene Kinder, über wagemutige Helden, fremde Welten und Zeiten. Nie wieder wird das strahlende Lächeln der Amazone ihre Feinde zum Zittern und Erschaudern bringen. Zum letzten Mal stürzt der Pilot mit seinem Doppeldecker wild trudelnd aus den Wolken, um sich im letzten Moment wieder fangen zu können.

Niemals wird die feine Dame aus altem Adel wissen, wie es sein wird, ihren Stolz zu vergessen und gemeinsam mit den Eingeborenen an diesen fremden Küsten das Lager zu verlassen und im tiefsten und undurchdringbarsten Wald nach den Spuren vergangener Kulturen zu forschen. Niemals wird sie gezwungen sein, das Vertrauen in ihre eigenen Kräfte zu gewinnen und ihr Wissen über Kräuter und Heilpflanzen wird wertlos bleiben. Genau so, wie das Versprechen ihres Verlobten, ihr Herz immer in Ehren, und ihr ewige Treue zu halten. Er benötigt nicht einmal ihre Reise, um anderen Röcken nach zu jagen und es gibt nichts, was ihn vor wütenden Ehemännern und ihrem Rachedurst retten kann.

Zu Staub zerfallen die Träume und Geschichten. Wie dem klebrigen, pulverigen Staub, der unter den Stiefeln des einsamen Astronauten knirscht. Das Mutterschiff wurde beim Abkoppeln der Landefähre beschädigt. Hauch feine Risse in der Hülle, nicht sichtbar und dennoch groß genug für die Gasmoleküle. Es dauerte nur Sekunden, bis das Blut der Bordbesatzung zu kochen begann und bereits eine Minute später war er tot. Noch bevor die Landefähre auf dem Mond aufsetzen konnte, waren die beiden Leichen bis zum Kern durchgefroren. Und nachdem sein Kollege die Nerven verloren hatte, und beim Anblick der Erde, wie sie sich zaghaft über einen grauen Horizont erhob, den Helm abgenommen hatte, war von der einst so ruhmreichen Mission nur noch eine einsame, verlorene Seele übrig. Irgendwann würden ihm Wasser, Sauerstoff, Nahrung und Energie ausgehen. Vielleicht heute, vielleicht auch erst in einer Woche. Dann war auch diese Geschichte Vergangenheit.

Was von ihnen bleibt ist nur die Anspannung. Und leere Seiten.

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War, Sein, Werden III.

Die Direktorin hatte die Kälte nicht bemerkt, bis sie verschwunden war. Jetzt, in der Sommersonne der Kreidezeit fühlte sie die Auswirkungen um so mehr. Ihre Schuhe waren durchnässt und die Zehen halb ab gefroren. Der wiederkehrende Blutfluss juckte unangenehm. Frank stiefelte unbeirrt durch die Farnwiese und sah sich mit noch größeren Augen um, als auf dem Gletscher.

Das Panorama was sich ihnen bot war atemberaubend. Das Portal war an einer Waldkante erschienen, mit Blick auf eine weite Steppe. Der Wald brüllte vor verstecktem Leben, während die Savanne ruhig unter summenden Insektenschwärmen da lag. Durch die hohen Farne und das Gebüsch schoben sich die ersten lebenden Dinosaurier, die ein Mensch je zu Gesicht bekommen hatte. Frank hätte schwören können, vor dem weiten Grasland der afrikanischen Savanne zu stehen mit seinen Tierherden, Mückenschwärmen und kreisenden Geiern.

Nur gab es hier kein Gras und die kreisenden Geier waren zwar den bekannten Vögeln ähnlich, aber doch auf den zweiten Blick ganz klar keine Geier. Die Herden von Gnus, Zebras und Elefanten waren sogar weit davon entfernt, Säugetiere zu sein. Frank war nicht besonders gut in Paläontologie gewesen. Von all den unterschiedlichen Arten erkannte er zunächst nur die massiven Kolosse mit den drei Hörnern. Er erinnerte sich daran, als Kind einen Triceratops mit abgeschnittenen Hörnern als Spielzeug gehabt hatte. Fasziniert ging er näher darauf zu.

Die Farne strichen ihm um die Beine, Dornenzweige versuchten Löcher in seine sorgsam gebügelte Hose zu reißen und plötzlich bemerkte er, wie er auf eine schillernde Libelle trat. Leicht betreten betrachtete er die Reste des Insektes. Es war riesig, so lang wie seine Hand und schimmerte in den Farben des Regenbogens. Er streifte seinen Schuh am nächsten Moosbüschel ab und drehte sich zur Direktorin um. Sie war ihm nicht gefolgt, sondern hatte ihr Notizbuch hervorgeholt und skizzierte die Sauropoden, welche sich an den saftigen Büschen an der Waldkante gütig taten. Michael gesellte sich wieder zu ihr und sah ihr über die Schulter. Kindliche Begeisterung leuchtete in ihren Augen.

„Ich war erst kürzlich in der Paläontologie zu Gast. Professor Angus hat mir diverse Dinosaurier vorgeführt, auch Sauropoden. Diese hier ähneln aber keinem von denen, die er mir gezeigt hat. Wenn es wirklich eine neue Art ist, dann fällt uns die Ehre zu, sie zu benennen. Hast du schon einen Vorschlag? Michael Droposaurus?“

Sie zwinkerte ihm frech zu, vollendete ihre Skizze und machte dann doch noch ein Foto. Michael ärgerte sich inzwischen doch ziemlich, keine Kamera eingepackt zu haben. Er hätte daran denken müssen. Wie sonst wollte er die Funktionstauglichkeit des Portals dokumentieren? Erster Testlauf hin oder her, so ein Fehler durfte nicht passieren. Besonders nicht, da er diesmal schon besser vorbereitet war als bei vielen offiziellen Testläufen zuvor. Er hatte das nötigste Werkzeug dabei und einen Ablaufplan.

Laut seinem Plan lagen sie echt gut in der Zeit. Er hatte nur noch drei weitere Punkte auf seiner Liste stehen. Mit jedem dieser Punkte würden sie weiter in der Geschichte zurückreisen. „Theoretisch“ so erklärte er der Direktorin „können wir jeden beliebigen Punkt in der Geschichte des Universums ansteuern. Den Ort können wir dabei nur geringfügig beeinflussen. Wenn ich es richtig interpretiert habe, dann sind wir auf die Erde beschränkt aber können dort wenigstens den Ort frei wählen. Je weiter wir in die Vergangenheit reisen und je weiter wir uns von dem Startpunkt entfernen, um so höher wird der Energieverbrauch des Portals. Außerdem empfiehlt es sich, das ein oder andere Ereignis in der Erdgeschichte nicht zu besuchen. Aus sicherheitstechnischen oder gesundheitlichen Gründen.“

Die Direktorin musste ihm bei seinem letzten Punkt beipflichten. Sie dachte an diverse Katastrophen und Kriege, die schon allein in der Geschichte der Menschheit dokumentiert worden waren. Beim Gedanken an Vulkanausbrüche, Flutwellen, Erdbeben und Meteoriteneinschläge lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.

Verträumt sah sie sich um. Es gab noch etwas, was über die Jahrmillionen gleich geblieben war. Der süßliche Duft der Blumen hatte schon damals nach dem gleichen Muster funktioniert, auch wenn sie ihr nicht so farbenprächtig vorkamen wie die, die sie in ihrem Garten züchtete. Michael schien auch Freude an den Blumen zu haben. Er fand eine besonders dicke, gelbe Blüte, schnitt sie von ihrem Strauch und steckte sie sich ins Knopfloch. Sie sah schrecklich neben seiner blauen Krawatte aus, aber Sinn für Farben hatte er noch nie besessen. „Ich glaube, es ist langsam an der Zeit, unsere Reise fortzusetzen. Es gibt noch einige Orte, die wir besuchen sollten. Ich will sehen, was das Portal alles kann.“

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 137.

Sommerlaunen

Nach einem regenreichen Frühling kam ein wechselhafter Sommer. Die letzten Jahre waren ungewöhnlich heiß gewesen und dieses hier schien dem Trend nur sehr widerwillig folgen zu wollen. Erst in den letzten Tagen hatte die Sonne ihre Kraft einmal so richtig zeigen wollen und alle nach draußen getrieben. Und mit einer angenehmen Wärme hatte sie auch eine allgemein positive Grundstimmung mit sich gebracht. Selbst Flo hatte eher erstaunt festgestellt, dass er weniger Zeit vor dem Fernseher oder seinem Rechner verbrachte, sondern sich tatsächlich mit einem Lehrbuch in die Sonne gesetzt hatte. Er hätte seinen Laptop gerne mit genommen, aber dank der etwas skurrilen Modeerscheinung von Hochglanzdisplays erkannte er im hellen Sonnenlicht auf dem Bildschirm genau überhaupt nichts.

Aber auch das sollte seine Laune nicht vermiesen. In der Mittagspause waren Tina und er ein wenig über den hinteren Bereich des Campus gewandert. Mia und Erik hatten den heutigen Freitag einmal ausfallen lassen und waren zu Mias Familie gefahren, die ihr alljährliches Sommerfest an diesem Wochenende hatte. Für Tina hieß das, sie durfte sich wieder selbst zurechtfinden, ohne Mia, die ihr ansonsten übereifrig zur Seite stand. Der Freiraum schien ihr sogar ziemlich gut zu tun, auch wenn sie sich selbst nicht scheute, die Hilfe anzunehmen oder auch selbst danach zu fragen. Flo hatte noch immer seine Schwierigkeiten, die ganze Situation zu erfassen und zu begreifen.

„Was ist denn jetzt eigentlich mit Erik? Bist du sicher, ob das so gut ist, wenn du ihm und Mia jetzt so nahe bist? Und besonders Mia, erst wart ihr noch drauf und dran, euch gegenseitig die Kehlen aufzureißen, und jetzt gibt es euch kaum noch getrennt?“

„Mia ist schon eigentlich echt nett, wenn man sie denn einmal kennenlernt. Das Problem war halt, dass sie mit Erik zusammen ist und ich sie deswegen überhaupt nicht kennenlernen wollte. Aber jetzt geht es eigentlich. Ich kann verstehen, dass er mit ihr zusammen ist, auch wenn ich immer noch etwas eifersüchtig bin.“

„Dafür ist Mia jetzt wohl eifersüchtig auf dein Kind.“

„Sie kann ja selbst auch eins haben. Immerhin hat sie ja Erik und was drei Jahre gehalten hat, das kann ja auch weiterhin gut bestehen.“

Flo musste sich eingestehen, dass er überrascht war. Er hatte nicht erwartet, dass sie so nüchtern und rational mit dem Thema umgehen konnte. Fast hätte er glauben können, ihr würde nichts mehr an Erik liegen. Aber er sah immer noch den verehrenden Blick, mit dem sie Erik betrachtete, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Die Sehnsucht in ihren Augen war kein antrainierter Reflex oder Gewohnheit, sondern echt. Flo machte sich Sorgen um sie. Es konnte nicht gesund sein, dermaßen festgefressen in einer Situation zu sein, dermaßen hartnäckig hoffnungslosen Gefühlen nachzuhängen. Aber wenigstens für den Moment schien Tina glücklich zu sein. Sie wirkte frei, zufrieden und offen, wie sie hier neben ihm stand und auf die bunte Blumenwiese hinter der Uni hinaus sah.

„Vielleicht werde ich dich ja irgendwann verstehen, aber im Moment kommt mir das Ganze noch etwas merkwürdig vor.“

Sie mussten beide über seine Worte grinsen, und erst nachdem er es ausgesprochen hatte, fiel ihm auf, wie merkwürdig es ihm überhaupt erschien.

„Drei Jahre, und jetzt bist du die dritte Person in der Beziehung? Hat Mia dich schon adoptiert? Immerhin hat sie einen ziemlichen Narren an dir gefressen.“

Und jetzt lachte nur noch er. Tina sah stumm und verträumt auf die von eifrigen Bienen umschwirrten Blumen. Es war eine merkwürdige Ruhe. So friedlich und entspannend, als würden sich die Bäume nur in Zeitlupe im Wind schaukeln und die Zeit selbst langsamer laufen. Flo konnte sich absolut nicht vorstellen, wie dieses zerbrechliche und filigrane Wesen hier einen kleinen Menschen tragen sollte. Wo war der Platz dafür in ihr? Und während er ganz versonnen dem Wind dabei zusah, wie er mit ihren blonden Strähnen tanzte, holte Tina das größte und schokoladigste Schokocroissant aus ihrem Rucksack, was er je gesehen hatte.

„Weißt du, wie gesagt, wenn man sie einmal näher kennenlernt, ist sie schon echt ein toller Mensch. Ich bin mir nicht ganz sicher, was genau sie in mir sieht, aber sie meint es ehrlich und das tut irgendwie gut. Außerdem habe ich sie auch ziemlich gern.“

Flo hörte nur noch halb den Worten zu, die dort zwischen den einzelnen Bissen hervor kamen. Er war viel zu sehr von dem gewaltigen Mittagessen fasziniert und starrte geradezu unanständig eifersüchtig darauf. So offensichtlich, dass selbst Tina in ihrer Gedankenwelt es bemerkte und ihm einen missmutigen Blick zu warf.

„Ich habe in letzter Zeit halt viel um die Ohren, und außerdem esse ich doch so selten so etwas.“

Und wieder war Flo der Einzige, der lachte.

„Das sollte ganz sicher kein Vorwurf sein. Es sieht nur echt sehr super aus. Und ganz abgesehen davon wird von dir erwartet, dass du dir auch einmal was Gutes tust. Also hau rein!“

Das schien sie überzeugen zu können, wenigstens hatte er den Eindruck, dass sie es wieder etwas genießen konnte. Flo rekapitulierte seine letzten Worte noch einmal still im Kopf und versuchte herauszubekommen, woher sie gekommen waren. Dabei fiel ihm auf, dass er sich nicht daran erinnern konnte, diese Formulierung schon einmal wo gehört zu haben. War er wirklich einmal handfest kreativ gewesen? Und dann auch noch mit einem Satz, der so kitschig war, dass man ihn locker auf eine alberne Postkarte drucken konnte. Und während der Wind den süßen Duft sommerlicher Blüten herüber trug, fühlte er einen dezenten Stolz in sich reifen. Es brauchte lediglich einen Freundeskreis, bei dem es einem nie langweilig wurde, und schon keimte die Fantasie.

Einen beliebigen Punkt irgendwo am Horizont fixierend, lächelte er vor sich hin. Unbestimmten Gedankenblitzen für einen Augenblick folgend, dann wieder einfach nur geistig driftend. Das Croissant neben ihm war inzwischen verschwunden und auch Tina hatte eine beliebige Blüte mitten auf dem Feld fokussiert. Und auch wenn sie sich miserabel dabei fühlte, sie konnte nicht umhin, ein klein wenig zu lächeln.

„Hast du bemerkt, dass Erik mit Mia nicht mehr besonders glücklich ist? Selbst wenn es drei Jahre gehalten hat, ich würde gerade auf kein Viertes wetten.“

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Momente VIII

Sommerhitze rollt wie ein brennender Güterzug über die Stadt hinweg und lässt die windstille Luft flirren. Staubig wirkendes Sonnenlicht lässt stumpfe Fensterscheiben und dicke Schweißperlen glitzern. Die Thermometer in den zahlreichen Dachwohnungen klettern immer höher und höher und jedes noch so kleine Wasserloch erhält eine magische Aura aus unwiderstehlicher Anziehungskraft.

Im Hörsaal ist es erstaunlich leise. Das Semester ist bereits etwas fortgeschritten und hat einen inneren Zwang mitgebracht, sich endlich zu engagieren und regelmäßiger in den Vorlesungen aufzupassen. Trotz kompletter Verdunklung steht die Luft, gefühlt ohne ein einziges Sauerstoffmolekül, dafür aber mit jeder Menge stechendem Schweißgeruch und noch mehr Wärme, als selbst in der prallen Sonne zu finden wäre.

Die Zeiten der Grundvorlesungen sind vorbei und so kann der Professor endlich über die Themen referieren, die ihn selbst auch begeistern. Das mag ein gutes Mittel gegen die lähmende Hitze sein. Vielleicht liegt es auch an seiner Tätigkeit in den Wüsten dieser Welt, von denen er gerade berichtet, die ihn gegen Temperaturen weit jenseits der eigenen Körpertemperatur abgehärtet haben. Im Moment sieht er jedenfalls in interessierte, wenn auch erschöpfte Gesichter. Nicht nur ein Paar Augen hier sehnt sich gerade nach einer kalten Dusche, einer Siesta oder wenigstens einem großen Eis. Doch seine Begeisterung steckt an und so nehmen etliche den Kampf an und bemühen sich um Aufmerksamkeit.

Plötzlich kommt Leben auf, ein heiteres Gekicher wandert durch die Reihen. Der Einzige, der in seiner Reihe nicht kichert, ist der Stoner in seinem bunten Hawaiihemd, bei dem es nur niemand übers Herz gebracht hat, ihm mitzuteilen, dass es schrecklich aussieht. Er sitzt recht schief, das Kinn auf die Faust gestützt und schläft in aller Seelenruhe. Der Professor lächelt kurz und fährt dann unbeirrt fort. Er wird schon wieder irgendwann aufwachen. Lediglich die beiden Ägypter in der letzten Reihe schütteln ungläubig die Köpfe. Währenddessen zieht eine hohe, diffuse Wolkendecke über den Himmel, perfekt um die Wärme über Nacht zu halten.

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War, Sein, Werden II.

Frank war sichtlich nervös, als er die Direktorin vor der Tür abstellte. In seinem Kopf musste er den Ablauf mindestens einhundert Mal geprobt haben aber jetzt die Schalter tatsächlich um zu legen war etwas anderes. Er zwang sich zur Ruhe und sah die Direktorin an, die im Augenblick eher auf die schwarz glänzenden Spitzen ihrer ledernen Stiefel konzentriert war.

„Wohin soll die Reise denn gehen? Hast du irgendeinen speziellen Wunsch? Denk daran, uns steht fast alles offen.“

„Ich hätte erwartet, dass du schon Ziele vorbereitet hast. So viel Strom wie die ganze Anlage schon geschluckt hat, musst du doch jedes Jahr bis zur Entstehung der Welt zurückgereist sein.“

Frank gab sich leicht gekränkt und zog eine Schnute. Er hatte einige Testläufe gewagt aber war noch nie tatsächlich durch die Tür gegangen. Er hatte nur ein paar Mal einen Apfel hindurch geschmissen, um zu beobachten, wie sich der Energieverbrauch ändern würde und ob der Apfel auch heile in der Vergangenheit ankommen würde. Die Äpfel waren unbeschadet angekommen, soweit er es sehen konnte wenigstens. Für einen Tierversuch hatte es ihm schlicht an Testtieren gefehlt, also musste er den Selbstversuch wagen. Strom war teuer, da blieb kein Budget mehr für Versuchstiere und so blieb nur die Beobachtung oder eben dieser Selbstversuch. Für einen Moment überlegte er, der Direktorin als Dank für ihre aufmunternden Worte den Vortritt zu lassen. Seine Mutter hätte sich wahrscheinlich für ihn geschämt, dachte er, wählte ein Ziel aus, ergriff die Hand der Direktorin und zog sie hinter sich her durch die Tür. Er weigerte sich daran zu glauben, dass etwas schief gehen könnte. Und manchmal wird Wagemut sogar vom Schicksal belohnt.

Inmitten der eisigen Kälte der Eiszeit erschien eine Tür. Sie bildete mit ihrem schwarzen Anstrich und den gelben Kanten einen starken Kontrast zum endlosen Weiß der Gletscher Mitteleuropas. Hindurch stolperten zwei Gestalten. Sie waren offensichtlich menschlich, nur deutlich größer und fremdartig gekleidet. Beide hatten sehr dünnes Haar und eine regelrecht übertrieben aufrechte Haltung.

Der junge Jäger duckte sich hinter eine Schneewehe und ärgerte sich. Er konnte die beiden fremden bis hier hin hören und mit etwas Pech konnte er sie auch riechen. Das hieß, seine Beute konnte die beiden genau so wahrnehmen und flüchten. Zehn Tage lang hatte er auf die großen Rüsseltiere gewartet. Alleine würde er keine Chance haben eines von ihnen zu erlegen und erst recht nicht, wenn sie vorher flüchteten. Er könnte stattdessen ja die Fremden erlegen. Sie schienen keine Ahnung von der Jagd zu haben, waren unvorsichtig wie die Frischlinge und auch noch deutlich schmächtiger. Alle beide froren bitterlich. Sie waren für einen milden Sommertag gekleidet aber nicht für einen Frühlingstag wie heute. Er verstand sie nicht.

Frank und die Direktorin standen bis zu den Knöcheln im Pulverschnee. Während Frank sich mit riesigen Augen umsah, wirkte seine Begleiterin deutlich unbeeindruckter. Für sie wirkte es einfach nur nach den aktuellen Polarregionen, nicht nach einem Ort in der Vergangenheit. Sie bemerkte eine Bewegung im Augenwinkel, konnte aber nichts entdecken. Was auch immer dort gewesen sein mochte, es war unter der Schneedecke verschwunden. Dafür entdeckte sie etwas anderes am Horizont und nun war auch sie beeindruckt. Vor dem rauen Hintergrund der verschneiten Felsen wanderten riesige Schatten auf sie zu.

Sie waren schnell deutlicher zu erkennen. Elefanten aber größer, mit längeren Stoßzähnen und dickem Fell. Sie waren mitten auf der Wanderroute einer Herde Mammuts gelandet. Obwohl zwei Menschen und ein Zeitportal für die riesigen Tiere keine Gefahr darstellen würden, hielten sie lieber vorsichtigen Abstand, und verschoben ihre Durchreise. Dort, wo sie hin wollten, würde niemand auf sie warten, außer vielleicht der Frühling. Für Frank war es trotzdem eine Nervenprobe. Er wollte der Herde nicht näherkommen als unbedingt notwendig. Es ging ihm lediglich um den Beweis, dass seine Maschine funktionierte und der war längst erbracht. Die Tiere selbst waren ihm unheimlich. Zu groß, zu unberechenbar. Ein schnelles Foto musste ausreichend sein.

Die Direktorin war ihm ein Rätsel. Sie hatte darauf bestanden noch eine weitere Minute die Mammuts beobachten zu dürfen. Die Kälte schien sie nicht einmal zu bemerken und das trotz der dünnen Sportschuhe aus Stoff und der fehlenden Jacke. Frank machte sich ernsthaft Sorgen, ob ihr nicht die Füße abfrieren würden. Sicherheitshalber stellte er sein Portal auf eine Zeit ein, in der wärmeres Klima herrschte. Einer Zeit, noch weiter in der Vergangenheit denn nun galt es, die Grenzen zu erproben. Sein Ehrgeiz war geweckt.

Der Junge Jäger hatte die Mammuts ebenfalls entdeckt. Das Lager seines Stammes war nicht weit und er beeilte sich, die anderen Jäger zu holen. Sollten die beiden Frischlinge doch im Schnee erfrieren. Ein Mammut war in jedem Fall die bessere Beute. Die Jagdgesellschaft brach auf, die Herde zu stellen aber als sie den Ort fanden, an dem der Schnee von scheinbar menschlichen Füßen zertrampelt war, breitete sich Aufregung aus. Weder zu der Stelle hin, noch davon weg war eine Spur zu finden. Jeder Mensch hinterließ eine Spur, immer! Nur diese nicht. Und der junge Jäger wagte es nicht, seinem Stamm die ganze Geschichte zu erzählen.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 136.

Die Sache mit den Gefühlen

„Weißt du, ich kann irgendwie verstehen, dass du für Tina schwärmst.“

„Aber das tu ich doch überhaupt nicht? …“

„Nein, ich mein es ernst. Sie ist wirklich eine beeindruckende Frau. Ich weiß nicht, wie ich an ihrer Stelle handeln würde. Das Kind zu behalten, obwohl ihre Familie ihr deswegen wohl die Hölle heißmachen wird und der Vater über alle Berge ist. Hast du mitbekommen, dass nicht einmal seine Eltern etwas wissen?“

„Es war schwer, das nicht mit zu bekommen. Trotzdem will ich nichts von …“

„Und sich dann trotzdem dafür zu entscheiden, alles für das Kind zu tun. Findest du nicht auch, dass das unglaublich viel Kraft und Mut erfordert?“

„Natürlich braucht es das. Aber sie hat sich das so ausgesucht jetzt, also wird sie es wohl auch schaffen. Du kennst sie ja auch. Sie denkt sehr rational, da entscheidet man sich nicht blindlings für Sachen, die man nicht bewältigen kann.“

Erik saß auf dem Sofa und hatte sich eigentlich nur von einer Serie berieseln lassen wollen. Ein Team von Ermittlern war gerade dabei, einen generischen und völlig schnöden Mordfall auf möglichst actionreiche Art zu lösen. Mia hatte sich neben ihn gelegt, den Kopf auf seinem Schoß abgelegt und in einem Buch geblättert, bis sie irgendwann nur noch nachdenklich auf einen Punkt irgendwo hinter der aktuellen Seite gestarrt hatte, und dieses Gespräch begonnen hatte. Jetzt sah sie mit einem ebenso vielsagenden wie nichtssagenden Blick zu ihm auf und startete einen neuen Versuch, ihm eine verfängliche Reaktion zu entlocken.

„Darum passt ihr also so gut zusammen. Beides Kopfmenschen, die lieber alles rational durchdenken, statt emotional zu handeln.“

„Du bist doch auch ein absoluter Kopfmensch. Nur das mit dem rational sein musst du noch etwas üben. Und würdest du mir nun bitte einmal erklären, wieso du mir jetzt etwas anhängen willst?“

„Will ich doch überhaupt nicht, wieso fauchst du mich hier denn so an? Es ist halt nur offensichtlich, dass du sie sehr gerne hast. Also wieso traust du dich nicht, dazu zu stehen? Was stimmt nicht mit ihr? Ich finde, sie ist doch eigentlich eine echt tolle Frau.“

„Ja, das ist sie wohl. Schließlich ist sie ja auch eine gute Freundin, aber halt nicht mehr. Abgesehen davon liebe ich doch schon dich.“

Mit diesen Worten beugte er sich runter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Es stimmte, er liebte sie, dennoch fühlte es sich im Augenblick einfach falsch an. Da war etwas, was an ihm nagte und ihm die ganze Situation verlogen und heuchlerisch erscheinen ließ. Wieso war das auf einmal so? Er hatte nie erwartet, dass es bleiben würde, wie damals, als sie sich kennengelernt hatten. Oder als sie später dann zusammengekommen waren. Er erinnerte sich noch sehr gerne an das Gefühl damals, an das flattrige Kribbeln bei jedem Blick und das knallbunte Nervenfeuerwerk bei jeder noch so kleinen Berührung. Er erinnerte sich noch an das Strahlen in ihren Augen, dieses helle Leuchten bei jedem sanften Wort. Dieses Glimmen, welches er bereits so lange vermisste. Er hatte es immer für ein Opfer des Alltags gehalten. Und das nach gerade einmal zweieinhalb Jahren.

„Danke, das hast du sehr schön gesagt.“

Sie lächelte zu ihm hinauf und machte es damit nur noch schlimmer. Jetzt fühlte er sich auch noch schuldig und konnte nicht einmal sagen, weswegen genau.

„Ich glaube dir trotzdem irgendwie nicht, dass du nicht auch ein bisschen scharf auf sie bist. Immerhin musst du zugeben, dass sie echt schöne Kurven hat.“

Sie zwinkerte ihm keck zu und wandte sich kichern wieder ihrem Buch zu, als er nur den Kopf schüttelte.

Zweieinhalb Jahre. Irgendwie fühlte es sich gerade so viel länger an. Vor seinem inneren Auge sah er eine zerbrechliche filigrane Vase, die in einem Museum auf einem Sockel stand, hell ausgeleuchtet und kunstvoll bemalt. Dunkle Ränder markierten die Stellen, an denen das weiße Porzellan geklebt worden war, und es waren viele Stellen. Gefüllt war die Vase einmal mit reiner Liebe gewesen, doch durch verletzende Risse und Vertrauensbrüche sickerte sie hinaus. Vielleicht müsste man die Vase reparieren oder die Liebe nachfüllen. Aber wenn diese Vase wirklich ihre Beziehung darstellen sollte, dann müssten sie das gemeinsam tun.

Früher hatte Mia sich nie besonders darum gekümmert, an ihrem Verhältnis zu arbeiten. Am Anfang war es noch anders gewesen, da hatte sie ihm häufig gezeigt, wie wichtig er ihr war. Doch irgendwann hatte das nachgelassen. Sie hatte erkannt, dass er sie nicht verlassen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Sie hatte ihn sauber auf ihre Person geprägt und er war selbstverständlich geworden. Erst spät hatte sie erkannt, dass es ein Fehler gewesen war, und hatte sich mehr um ihn bemüht. Vielleicht hatte er ja deswegen ein so schlechtes Gewissen, nicht die Kraft zu haben, mit ihr gemeinsam an der Vase zu arbeiten. Klar, er hatte lange Zeit alleine an der Beziehung gearbeitet und viel Kraft darin versenkt. Vielleicht wäre es nur fair, wenn jetzt auch sie einmal eine solche Situation erfuhr. Aber war das wirklich fair ihr gegenüber?

Selbst wenn, er war sich nicht sicher, ob das aufregende Feuerwerk wieder kommen konnte. Abende wie dieser, wo sie einfach zu zweit auf dem Sofa sitzen konnten, waren selten geworden. Mia hatte Tina gewissermaßen adoptiert und brachte sie regelmäßig zum Abendessen mit. Anfangs hatte Erik sich noch darüber gefreut, dass die zwei Mädels sich nun doch so gut verstanden, aber er hatte auch feststellen müssen, dass er selbst sich seitdem immer mehr wie ein Haustier als wie ein Partner fühlte. Lohnte es sich da überhaupt noch, an der Beziehung zu arbeiten, oder tat sie ihm nur noch schlecht? Mia bekam von all diesen Gedanken nichts mit. Sie starrte nur auf ihr Buch und hing eigenen Gedanken und Träumen nach. Erik spielte darin zwar eine Rolle, aber sie bemerkte selbst nicht, dass sie ihn dort nicht mehr als ihren Partner sah.

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Kunstliebhaber

Missy hat sich gewünscht, also soll sie auch bekommen. Eine kleine Geschichte um den Kunstliebhaber aus dem Ausflug zum Vertikalen Erdkilometer. Auch wenn das Auto nicht so wirklich zerstört ist… (und ja, das ist als Satire zu sehen)

Drei Stunden war Karl Orph in seinem Saab 900 unterwegs gewesen, natürlich hauptsächlich auf Landstraßen. Das lag einerseits daran, dass der alte Saab nicht mehr fit genug für die Autobahn war, andererseits daran, dass die Autobahn ja viel zu schnöde war. Gerade recht für den arbeitenden Pöbel und die Kolonnen von Lkw, aber der intellektuelle Bildungsbürger war besser dran, wenn er auch etwas von der Gegend sah. Man wusste ja nie, über welches Kleinod man am Wegesrand stolpern konnte.

Allein auf dieser Reise hatte er fünf Mal Halt machen müssen. Einmal war es ein verwitterter Marienschrein gewesen, der seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, zweimal waren es etwas verfallene Perlen der Architekturgeschichte gewesen, deren Besitzer ganz offensichtlich keine Ahnung hatten, was für Schätze sie hier besaßen und einmal war das Sonnenlicht einfach nur dermaßen rührend durch eine kleine Baumgruppe gebrochen, dass er unbedingt eine Pause machen musste, um das Lichtspiel eine Minute ganz ergriffen zu bewundern. Der fünfte Stopp war einfach nur dem Drang der Natur geschuldet. Er hätte den dritten Kaffee mit Kurkuma und Zimt vielleicht doch besser aufheben sollen.

Drei Stunden, nachdem er am heimischen Atelier aufgebrochen war, parkte Karl Orph sein treues Gefährt nun in der Tiefgarage unter dem Theaterplatz. Auf sein Auto war er fast so stolz, wie auf seinen Namen. „Wie der Maler, nur etwas anders geschrieben“ sagte er immer, und es fiel ihm jedes Mal zu spät ein, dass es ja nur ein schäbiger Komponist gewesen war, und kein erhabener Maler. Freizeitkreativlinge, allesamt, diese Musiker. Dabei wusste doch jeder, dass die Königsdisziplin der schönen Künste die Bildhauerei war, gefolgt von der Malerei. Was war da schon ein Musiker?

Mit einer beinahe zärtlichen und demonstrativ ausladenden Geste holte er seine Tasche aus original kenianischem Watusileder aus dem Kofferraum. Darin fand sich sein Gluten freies Graubrot mit Bärlauchhumus und Münchener Stadthonig sowie sein Reiseführer, der ihn zu allen wichtigen Kunstwerken der Stadt geleiten sollte. Und davon gab es hier einige. Das Erste befand sich sogar direkt auf dem Theaterplatz, zu welchem er nun die Treppen hinauf stieg. Und es musste ein wahres Meisterwerk sein! Unscheinbar und doch unglaublich bedeutsam, provokativ und für den schnöden Pöbel fast unsichtbar. Diese Banausen würden es ohnehin nicht zu würdigen wissen.

Er fand das Meisterwerk recht mittig auf dem großen offenen Platz und, wie zu erwarten gewesen war, völlig unbeachtet von den Passanten. Völlig verzückt war er, wie er hier so stand, und mit verstehender Mine, sich über das Kinn streichend, auf den kleinen Messingpunkt inmitten der Betonplatte blickte. Eine erhabene Begeisterung erfasste den intellektuellen Kunstliebhaber in ihm. Dieser unscheinbare Punkt von keinen fünf Zentimetern Durchmesser war die obere Spitze einer Messingstange, welche sich exakt einen vollen Kilometer tief in die Erde erstreckte. Allein der Bau dieses Monuments musste eine technische Meisterleistung gewesen sein!

Der Aufregung und seinem unterirdischen Orientierungssinn war es geschuldet, dass er nicht realisierte, noch vor fünf Minuten im Parkhaus genau unter diesem Punkt gewesen zu sein. Aber auch mit einem besseren Orientierungssinn hätte er wohl kaum realisiert, dass er seinen geliebten Saab 900 genau unterhalb dieses unscheinbaren Punktes geparkt hatte. Würde dieses Kunstwerk wirklich sein, was es vorgab, dann würde diese Stange genau durch den Motorblock ragen und sein Liebling würde sich nie wieder bewegen. Es würde vielleicht einem ähnlichen Schicksal anheimfallen, wie der VW Käfer am Troll von Fremont. Nur das dies hier ein echtes Kunstwerk war und kein ordinäres Populärmonument, eine erbärmliche Touristenattraktion. Dies hier hingegen… ihm fehlen die Worte, und da der Autor sich auch nicht in einen solchen Verstand hinein denken kann, muss es dabei bleiben.

Auf dem Weg zu seinem nächsten Ziel wird er einen weiteren Zwischenstopp einlegen, auch wenn die Zeit drängt. Es gibt noch so viel zu sehen und zu bewundern. Eine fünffach vergrößerte Spitzhacke zum Beispiel, oder drei Steinkugeln, welche in den Ästen eines künstlichen Baumes befestigt sind. Die nächste Station ist aber erst einmal ein Getränkeladen. Natürlich handelt es sich auch hierbei um keinen gewöhnlichen Laden. Zu einem sagenhaft günstigen Preis von nicht einmal vier Euro pro Liter würde er hier entstörtes und energetisch aufgeladenes Kristallwasser bekommen. Gegen den Uhrzeiger drehend! Schon allein dafür hätte sich die Anfahrt gelohnt.

Er ignorierte die bunten Statuen auf dem Sims der Säulenhalle rechts von ihm. Ganz abgesehen davon, dass sie bunt waren, und Statuen nicht bunt zu sein hatten, wenn sie nicht gerade als populäre Touristenattraktion herhalten sollten, standen sie nicht in seinem Kunstführer und waren demnach auch von keinem artistischen Interesse. Statuen aufstellen konnte jeder. Kunstwerke schaffen, das war eine ganz andere Nummer. Aber was verstand der einfältige Normalbürger davon schon? Diese Leute bildeten sich ja schon bei einem einfachen Besuch im Industriemuseum ein, zur intellektuellen Elite zu gehören.

Um sich von der Beleidigung zu befreien, die dieser bloße Gedanke mit sich brachte, warf er mit einer imposanten Geste seinen Schal aus handgekämmter Seide zurück und stolzierte vor der genervt klingelnden Straßenbahn entlang. Das Leben als Kunstliebhaber konnte schon wahrlich schwer sein.

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War, Sein, Werden I.

Wieder geht es in die Vergangenheit, diesmal im doppelten Sinn des Wortes. Den folgenden Text habe ich bereits vor etlichen Jahren geschrieben, aber irgendwie wollte ich ihn dennoch gerne einmal teilen. Und wo ich mit Selaya bereits bei einer älteren Geschichte war, erschien mir der Zeitpunkt passend.

Eigentlich sollte man sie wohl besser am Stück lesen, aber dann wird sie zu lang. Darum zerstückel ich sie Euch dennoch in handlichere Häppchen und hoffe, dass nicht alle aufgeben. Viel Spaß!

„Also, weswegen genau hast du mich hier hinunter gebeten?“

Die Direktorin stand in einem fast leeren Kellerraum. Ihr Blick lastete auf einem Objekt in der Raummitte. Frank warf ihr einen verständnislosen Blick zu und deutete vage auf das Objekt. Wortlos drehte er sich wieder der Wand zu und kontrollierte die dort aufgereihten Monitore. Sein zottiges Haar wirkte noch fettiger als sonst und sein unrasiertes Kinn wurde von extra tiefen Augenringen begleitet. Er machte keine Anstalten, ihre Frage zu beantworten. Angestrengt holte sie tief Luft, rieb sich die Augen und zwang sich zur Geduld.

„Frank! Wieso soll ich für eine Tür ohne Wand hier herunter kommen? Das Museum für moderne Kunst ist in der Innenstadt.“

„Vergiss die Tür, die ist unwichtig!“, unterbrach er sie unwirsch und sie musste ihm insgeheim zustimmen.

„Der Rahmen ist das Interessante.“

Sie revidierte ihre Zustimmung. Zugegeben, er war besonders klobig, aber interessant war ihrer Meinung nach nicht das richtige Adjektiv. Sie wollte gerade etwas erwidern, da wirbelte Frank herum und sah sie direkt an. In seiner Hemdtasche steckten drei Kugelschreiber, einer davon war ausgelaufen und hatte einen klebrigen, blauen Fleck hinterlassen. Frank schien es nicht einmal zu bemerken. Er schien generell nicht viel zu bemerken und die Direktorin war versucht, ihn vor einen Spiegel zu zerren. Da sie ihn aber dafür hätte anfassen müssen, unterdrückte sie den Impuls. Endlich setzte er zu einer Erklärung an, entblößte dabei gelbe Zähne und wirkte einfach in jeder Hinsicht ungepflegt, verwahrlost und schmutzig.

„Die Tür ist nur da um den Rahmen zu stützen. Und damit niemand aus Versehen hindurch stolpert. Die ganze Maschine ist im Rahmen untergebracht, mit Ausnahme der Steuerung.“ Er tätschelte ein Computergehäuse zu seiner Linken. „Der Rahmen erzeugt das Feld dann aber eigenständig, sobald er den Befehl bekommt. Und die Energie. Besonders viel davon leider. Du hast vielleicht die höhere Stromrechnung bemerkt.“

„Ehrlich gesagt, nein. Um die Gebäudetechnik kümmert sich der Hausmeister. Was für ein Feld soll denn erzeugt werden?“ Wieder musste sie sich zur Ruhe zwingen. Frank erschien ihr in letzter Zeit immer mehr wie ein bockiges, kleines Kind. Für ihn war alles ganz selbstverständlich, alle anderen hatten keine Ahnung, wovon er redete. Seinem Blick nach zu urteilen war es diesmal nicht anders. Er schien ernsthaft an ihrem Geisteszustand zweifeln zu wollen.

„Hast du meinen Bericht überhaupt gelesen?“

„Welchen Bericht? Du sollst mir seit fast drei Monaten einen abliefern und es kommt nichts.“ Langsam aber sicher verlor sie sowohl Geduld als auch Ruhe.

„Na den Projektbericht von vor … ach ist ja auch egal jetzt. Jedenfalls erzeugt das Feld einen chronospherischen Ereignishorizont. Er füllt den ganzen Rahmen aus und ist auch für Lebewesen gefahrlos überschreitbar.“

„Einen was?“

„Chronospherischen Ereignishorizont. Klingt das nicht toll? Ich hab mir den Begriff selbst ausgedacht. Hat wahrscheinlich rein gar nichts mit der Sache an sich zu tun. Ich hab doch keine Ahnung, was da genau vor sich geht, aber es klingt so toll und im Groben beschreibt es doch die Sache.“ Diesmal war es die Direktorin, die ihn wie einen Irren betrachtete. Er legte nach. „Wie gesagt, das Feld füllt den kompletten Rahmen aus und ist bioverträglich. Wir könnten es jetzt aktivieren und durch gehen. Völlig gefahrlos.“

Er strahlte sie mit einer Begeisterung an, als hätte er ihr gerade keine Tür im Keller sondern das komplette Bernsteinzimmer präsentiert. Auf ihrer Seite war weniger Begeisterung. Sie sah nur eine saftige Rechnung für ‚Forschungsmittel‘ und die besagte Tür mit der unaussprechlichen Funktion. Beides stimmte sie alles andere als gut gelaunt. Besonders, da sie immer noch keine Ahnung hatte, was das Gerät nun eigentlich konnte, außer Strom fressen. Am Ende wollte er ihr hier noch eine Zeitmaschine verkaufen. Na schönen Dank auch, dafür wollte sie ihre Zeit nicht verschwenden. Ihre fehlende Begeisterung schien ihn zu irritieren. Er sah sie herausfordernd an.

„Komm schon. Es muss doch etwas geben, was du sehen möchtest. Der Ort lässt sich leider nicht gut beeinflussen, aber auf der Zeitachse sind wir völlig ungebunden.“

Na bitte, eine Zeitmaschine. Massenhaft Forschungsgelder für die Hirngespinste eines Wahnsinnigen. Sie drehte sich um und wollte gehen aber er hastete vor die Türe, versperrte ihr den Weg und sah sie nur weiter herausfordernd an. Er wirkte recht jämmerlich, wie er da so stand, dachte sie. Und er brauchte wirklich dringend eine Dusche und frische Kleider. Leider kannte sie ihn gut genug, als dass sie wusste, wenn er sie so ansah, würde er nicht aufgeben. Er würde sie nicht einmal aus dem Keller lassen, solange sie ihm nicht wenigstens eine Chance gab. Mit einem tiefen Seufzen resignierte sie. Schön, aber wenn, dann wenigstens zu ihren Bedingungen. Er machte große Kulleraugen und sah sie flehend an.

„Bitte! Ich frage nur nach einer Chance es dir zu zeigen, zu beweisen, dass sie funktioniert. Nur eine einzige Chance. Komm mit mir da durch.“ (Genau das hatte sie gemeint.)

„Also gut. Aber vorher gehst du nach hause, duschst dich und ziehst dich vernünftig an. Vorher gehe ich mit dir nirgendwohin. “

Offensichtlich war ihm das Versprechen genug, denn er willigte ein und gab nach kurzem Zögern sogar die Türe wieder frei. Die Direktorin fand, es war besser gelaufen als erwartet. Er verschwand zwar unter Protest, aber er verschwand. Die Pause allerdings hielt er möglichst kurz. Wie um seinem Unternehmen mehr Nachdruck zu verleihen, stand er kaum zwei Stunden später wieder bei ihr in der Tür. Gewaschen und noch mit nassen Haaren, unsauber rasiert aber rasiert und in knittrigen, aber sauberen Klamotten, die alt genug waren, um wieder modern zu sein.

Die Direktorin seufzte resignierend, als sie seinen auffordernden Blick erwiderte. Manchmal hatte sie den Eindruck, er würde ihr das Leben mit voller Absicht schwer machen. Dabei war er im Grunde genommen so ein herzensguter Mensch, der immer zuerst an andere dachte, bevor er sich um sich selbst kümmerte. Jedenfalls, solange es nicht seine Forschungen betraf. Da war er eiskalt und kein Gesetz stand höher als sein Name. Allein um diesen Namen groß aufblasen zu können, würde er ihr keine Ruhe lassen, bis er ihr sein Experiment vorgeführt hatte. Sie hatte fast etwas Mitleid mit ihm. Sein Experiment würde schief gehen, und wenn die Dokumentation in die falschen Hände fiel, dann wäre sein Name für immer verloren.

Bei Zeitreisen verstanden die Akademien keinen Spaß, niemand wollte sich damit seine Reputation zerstören. Auf der ganzen Welt gab es gerade mal zwei Teams, die offen zugaben, sich mit der Thematik zu beschäftigen. Beide wurden offiziell von ihren Akademien nicht unterstützt, wenn sie überhaupt an ihnen gelistet waren. Das eine Team bestand aus Frank und seinem Kellerraum. Das andere Team gruppierte sich um Michael Drop und George Wolf, bestand aus acht Personen und erzielte offiziell weder im praktischen noch im theoretischen Bereich irgendeinen Fortschritt. Trotzdem existierte die Forschungsgruppe bereits seit über zwölf Jahren und es war nicht abzusehen, dass sie sich auflösen würde. Dabei war es allgemein anerkannter Fakt, dass Zeitreisen physikalisch nicht möglich waren.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 135.

Herzschmerz

Tina zog ein Gesicht, bei dem selbst Flo erkennen musste, dass etwas nicht stimmte. Mit hängenden Schultern saß sie in der Mensa und stocherte lustlos auf ihrem noch vollen Teller herum. Das gemeinsame Mittagessen sah heute einmal etwas anders aus, da Mia noch arbeiten musste und Erik bei einem Projekt eingebunden war, worum er ein riesiges Geheimnis machte. So waren am Ende nur Flo und Tina übrig geblieben und genau so gut hätte Flo hier alleine sitzen können. Die Zeiten, dass Tina heimlich für Flo geschwärmt hatte, waren ebenfalls lange vorbei. Zu viel war in den letzten Monaten und Jahren passiert.

Flo beobachtete mit leicht nachdenklich schief gelegtem Kopf, wie Tina eine einzelne Erbse aufspießte, vorsichtig in den Mund nahm und die nächsten zwei Minuten behäbig darauf herum kaute. Dabei waren ihre Augen durchaus nicht so leer, wie in den letzten Wochen, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Jetzt spiegelte sich offene Traurigkeit darin wieder, und es schien ihr egal, ob sie beobachtet wurde, oder nicht. Flo grübelte kurz und entschloss sich dann, einen Schuss ins Blaue zu wagen.

„Wie geht es deinem Zwerg?“

Wie aus tiefen Gedanken schreckte Tina hoch, sah ihn kurz an und senkte dann wieder den Blick.

„Ganz gut soweit. Nichts Neues mehr seit der letzten Untersuchung und die nächste ist erst in drei Wochen. Aber im Augenblick wüsste ich nichts, was für Probleme sorgen könnte.“

„Wie wäre es damit, dass du nichts isst? Oder dein Gesichtsausdruck wie sieben Tage Regenwetter?“

Wenn er wirklich ganz ehrlich zu sich selber war, dann liebte er das Spiel mit dem Feuer ein ganz kleines Bisschen. Und ein Spiel mit dem Feuer war es im Moment wirklich. Noch behielt Tina aber die Kontrolle über sich selbst.

„Dem Würmchen geht es gut, das hat nichts damit zu tun. Du kannst das nicht verstehen. Ihr könnt das alle nicht verstehen. Erik hat Mia, du hast deine Kristina, sogar Marco hat eine neue Dumme gefunden. Jeder findet irgendwie wen, nur ich bleibe allein. Und wenn ich dann doch einmal jemanden finde, der wirklich was drauf hätte, dann will er natürlich nichts von mir.“

Zum Ende des Satzes hin war jede Wut aus ihrer Stimme gewichen und grenzenlose Enttäuschung hatte ihren Platz eingenommen. Sie blickte mit einem Gesicht auf ihren Teller, bei dem Flo sich wunderte, wieso er keine dicken Tränen laufen sah. Tina war nicht innerlich tot, aber sehr schwer verletzt. Und er hatte immer geglaubt, es sei für Frauen einfacher, einen Partner zu finden. Besonders wenn sie sehr gut aussahen und, so fair musste er sein, Tina hatte von Mutter Natur einen ausgesprochen schicken Körper geschenkt bekommen. Wie passte das zusammen?

„Du hast also wen kennengelernt? Wieso wollte er dich denn dann nicht? Ist ihm das mit dem Kind zu viel?“

„Davon weiß er noch nicht einmal. Es war nur ein Date, wir waren etwas Essen, er hat darauf bestanden, mich einladen zu dürfen und hat sich hinterher aufgespielt wie was-weiß-ich, weil ich ihn nicht gleich in mein Bett eingeladen habe. Dabei wirkte er eigentlich zuerst noch recht vernünftig, aber plötzlich bin ich eine billige Schlampe, weil ich mich nicht auf dem ersten Date flachlegen lasse.“

Da war es wieder, das wütende Funkeln in ihren Augen. Gekränkter Stolz, angeschlagenes Selbstbewusstsein und die erstickte und zertrampelte zaghafte Hoffnung, doch einmal Glück gehabt zu haben. Und gleichzeitig auch ein starrer Trotz, sich nicht dadurch definieren und beherrschen zu lassen. Sie würde wieder aufstehen und stärker sein als zuvor. Stärker und unbarmherziger, kalt und grausam wie das ewige Eis der Berge, welches jeden Wanderer einforderte, der es wagte, sie bezwingen zu wollen, ohne zu wissen, worauf er sich eingelassen hatte. Trotz des schönen Wetters kroch eine Gänsehaut über Flos Rücken und er wandte sich hastig wieder seinem Essen zu, ehe er sich in diesen Augen verlor.

Marco mochte noch nur Mittel zum Zweck gewesen sein, doch ihr nächster Freund würde schwer arbeiten müssen, um über den Status des bloßen Spielzeugs hinaus zu kommen. Irgendwo empfand Flo Mitleid mit dem unbekannten Kerl aber er konnte sie verstehen. Es war unmöglich zu sagen, wie er selbst sich in ihrer Situation benehmen würde. Vermutlich wäre er auch nicht gerade wohlwollend. Mit groben Bewegungen und lautem Klappern lies sich Mia auf den Platz neben Tina fallen. Gierig schaufelte sie sich einen großen Bissen in den Mund und sah sich dann zufrieden kauend in der kleinen Runde um.

„Alles okay bei euch? Sieht nicht gerade nach Partystimmung aus hier.“

„Tina ist etwas gefrustet.“

„Oh nein, war er doch ein Reinfall? Das tut mir so leid, Schatz.“

Und noch ehe Tina selbst überhaupt irgendetwas sagen konnte, hatte Mia ihr Besteck beiseitegelegt und sie mit einer unerwarteten Zärtlichkeit in den Arm genommen. Flo hatte zwar mitbekommen, dass Mia und Tina sich in letzter Zeit erstaunlich gut verstanden, aber er hatte immer noch die Furie Mia vor Augen, die in eifersüchtige Tiraden ausgebrochen war, weil dieses Mädchen ihren Freund auch nur falsch angesehen hatte. Ganz zu schweigen von der Tina, wie sie Erik in einem ruhigen Moment geküsst hatte, ohne seine Zustimmung abzuwarten. Wenigstens darin glichen sich die beiden Frauen. Sie fragten nicht lange, sie handelten lieber und nahmen sich, was sie wollten.

Und nun saßen diese beiden hier, die noch vor einem halben Jahr erbitterte Feinde gewesen waren, und kuschelten, als wären sie schon immer ein Herz und eine Seele gewesen. Flo hatte Fragen, die er sich im Moment nicht zu stellen wagte. In Mias Armen wirkte die kleine Tina noch einmal besonders zierlich und zerbrechlich und Flo hoffte inständig, dass Mia sich keinen perversen Spaß aus ihrem Leid machte, um irgendeine perfide Rachefantasie zu befriedigen.

Wasserkuppe

Kunst um sich selber Willen

Kunst kann viele Gesichter und Ziele haben. Ein Bild, eine Skulptur, ein Musikstück, Statuen, im Grunde genommen kann alles Kunst sein. Sie kann ästhetisch erfreuen wollen, provozieren, zum Fragen oder Nachdenken anregen wollen, oder auch einfach nur existieren. Um sich selber Willen.

Und was bringt das dann? Ich verstehe Kunst, die etwas bietet. Es muss mir ja nicht gefallen aber immerhin erfüllt es eine Funktion, in der ein oder anderen Form. In den meisten Fällen ist leider der Fall, dass es eher durch das Gegenteil von Ästhetik provozieren will. Da braucht es wenig Geschick oder Kreativität und jeder kann es umsetzen. Es braucht nur einen Dummen, der es dann am Ende kauft, denn Kunst ist ja schließlich eine tolle Wertanlage und die großen Künstler der Vergangenheit wurden ja zu Lebzeiten sowieso verachtet.

Aber was für eine Funktion erfüllt zum Beispiel der „Vertikale Erdkilometer“ in Kassel? Eine Platte auf dem Boden in der Nähe des Theaters mit einem Messingpunkt in der Mitte. Keine Erklärung, keine Tafel mit Erläuterung, keine Beschriftung. Wer es nicht kennt, der läuft einfach darüber hinweg, als wäre es nicht da. Für die Meisten ist es auch genau das: Nicht da! Weil was soll denn da sein? Was ist damit?

Irgendwo findet sich vielleicht in einem Reiseführer der Verweis, dass es sich hierbei um ein Kunstwerk handeln soll. Angeblich handelt es sich bei dem kleinen Messingpunkt um das obere Ende einer Stange. Und diese Stange reicht einen vollen Kilometer tief in die Erde hinein. Senkrecht wurde sie hineingerammt, unter viel Lärm hinter einem hochgeschlossenen und rund herum dichten Sichtschutz.

Der intellektuelle Kunstliebhaber steht nun also auf dieser Platte, guckt verstehend nickend und ganz begeistert über dieser Platte. Längst vergessen hat er, dass er nach der langen Anreise sein Auto in der Tiefgarage direkt unter diesem Platz geparkt hat. Noch besser: Was er überhaupt nicht weiß, er hat genau den Parkplatz unter diesem Kunstwerk erwischt und es ist ihm überhaupt nicht aufgefallen, dass die Messingstange direkt durch den Motorblock ragt, oder vielleicht auch nicht, aber was tut denn das auch zur Sache?

Es war offenbar bereits zu viel der Planung, das Kunstwerk an eine Stelle zu setzen, wo wenigstens eine Säule des Parkhauses stehen würde. Nicht einmal die Illusion darf dem Kunstliebhaber erhalten bleiben, solange er über das stumpfe und isolierte Betrachten des Werkes hinaus gehen will. Effektiv bleibt am Ende nur eine Platte im Boden mit einem Messingpunkt, mehr nicht.

Eine solche Form von Kunst erschließt sich mir nicht. Es hat keine ästhetische Funktion, es provoziert nicht, weil es im Grunde kaum existiert, es wirft dementsprechend auch keine Fragen auf und regt entsprechend auch nicht zum Nachdenken an. Es ist ein Kunstwerk, was einfach nur existiert, um da zu sein. Vielleicht taugt es auch als Witz, für jene, die den Reiseführer gelesen haben oder einer Führung beigewohnt haben. So gesehen hat es vielleicht doch eine Funktion, abgesehen von seiner reinen Existenz. Reicht das aus?

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Das Kunstwerk in all seiner Pracht und Herrlichkeit. Der geneigte Kunstfreund und -versteher möge nun bedächtig nickend davor stehen und sich intellektuell das Kinn streicheln. Ich hingegen wünsche mir, dass eine Geschichte, wenn sie denn erzählt wird, etwas stichhaltiger sein möge.