Archiv für den Monat Oktober 2016

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 103

Anruf von daheim

Bald würde er den Bahnplan komplett auswendig kennen, inklusive Baustellen und üblichen Verspätungen. Eventuell würde er das auch müssen, wenn alles gut lief. Gestern Mittag hatte er mit Kristina gemeinsam die Wohnung in der Eichhornstraße besichtigt. Ganz neutral betrachtet war die Wohnung einfach perfekt. Modern, hell, offen, mit einem großen Balkon in Richtung eines Parks und in einer sehr angenehmen Größe. Dazu zu allem Überfluss noch eine voll ausgestattete Küche mit genug Arbeitsplatz. Es wäre regelrecht leichtsinnig diese Wohnung nicht zu nehmen. Das einzige Gegenargument, was ihm spontan einfiel, war, dass er nicht genau sagen konnte, wo er nach der Uni einmal enden würde. Nach Möglichkeit in der Umgebung, aber so genau konnte man das nie wissen.

Im Augenblick wollte er sich damit auch überhaupt nicht auseinandersetzen. Wenn es nach ihm ging, dann konnte das so lange wie möglich warten. Jetzt saß er erst einmal nur im Zug und träumte vor sich hin, wie er es immer tat, wenn er sich nicht zu etwas Sinnvollem aufraffen konnte. Er redete sich ein, dass er ja mit der Besichtigung heute schon etwas Ausschlaggebenden und Wichtiges erledigt hätte. Die Herbstsonne senkte sich über einen Wald aus bunten Farben. Eigentlich wäre er gerne länger bei Kristina geblieben aber für morgen war er mit Erik verabredet und sie wollten gemeinsam weiter an ihren Projekten für die Abschlussarbeiten basteln. Auch da wollte er nicht dran denken. Häuser mischten sich in den Wald und zeigten an, dass der Zug sich dem Bahnhof näherte. In zwei Minuten würde der Zug im Bahnhof halten, in drei Minuten würde Flo den Bahnhof verlassen und in drei Minuten und zwanzig Sekunden würde sein Telefon klingeln.

„Hallo, ich bins.“

Der Text „Eltern Home“ auf dem Display war höchst ungewöhnlich, die Stimme seines Vaters hingegen zu hören, der ihn anrief, rangierte in Wahrscheinlichkeiten weit jenseits statistischer Ausreißer. Er war in etwa in dem Maße überrascht, wie jemand, der nackt von einer Lawine unter einen Gletscher geschoben worden war, fror.

„Ich wollte dir nur kurz Bescheid geben, dass alles gut gelaufen ist. Deiner Mutter geht es schon wieder besser. Mitte nächster Woche kommt sie wahrscheinlich wieder nach Hause.“

„Was ist denn gut gelaufen? Wo ist sie im Moment?“

„Na im Krankenhaus natürlich. Sie hatte doch vorgestern die Operation. Aber wie gesagt, es ist alles gut gelaufen.“

„Natürlich, im Krankenhaus, wo auch sonst. Was für eine Operation hatte sie denn? Oder darf ich das auch nicht wissen?“

„Hatten wir dir nicht Bescheid gesagt? Mir war so, als hättest du Bescheid gewusst aber ist ja auch egal. Doktor Canzell hat doch vor drei Monaten diese Verhärtung bei ihr entdeckt. Du weißt schon, der Tumor.“

„Nein, ich weiß nicht. Du sagst mir gerade, dass Mama Krebs hat, ihr das seit drei Monaten wisst und mir nicht einmal Bescheid sagen wolltet? Was für ein Tumor?“

Flo wusste nicht, ob er mehr wütend, entsetzt oder enttäuscht sein sollte. Wie konnte seine eigene Familie ihm so etwas verheimlichen? Natürlich, sie hatten nicht die beste Beziehung zueinander, aber es war immer noch seine Familie! Erwarteten sie, dass ihm das egal war?

„Beruhige dich, es ist doch alles gut. Jedenfalls war am Donnerstag die Operation, der Tumor ist jetzt raus und der Arzt meinte, dass nichts davon zurückgeblieben sein sollte. Sie bekommt jetzt noch ambulant eine Nachbehandlung, aber wenn in einem halben Jahr nichts mehr zu sehen ist, dann ist sie geheilt. Sagt der Arzt.“

„Papa, was für ein Tumor?“

„In der Lunge. Deswegen hatte sie ja auch immer diesen Husten, der nicht weggehen wollte.“

Und er hatte immer gedacht, den Husten hatte sie, weil sie seit Jahrzehnten rauchte. Lungenkrebs, wie klassisch. Das Schicksal war doch echt ein Arschloch.

„Wir wollten dich jetzt auch nicht übermäßig stören. Du musst ja studieren und irgendwann fertig werden. Läuft es denn mit der Uni?“

„Es hätte mich also gestört, zu erfahren, dass meine Mutter schwer krank ist.“

„Jetzt reg dich doch nicht so auf, Junge. Schwer krank ist übertrieben. Es war doch nur ein kleiner Tumor. Nicht größer als eine Pflaume und gestreut hat er auch nicht. Da dachten wir halt, es wäre nicht so wichtig für dich. Es war ja nichts Ernstes. Die Medizin kann ja heutzutage so vieles.“

Nicht so wichtig also. Flo überlegte ernsthaft, einfach wortlos aufzulegen. Noch vor einer Stunde war ihm seine Familie tatsächlich nicht besonders wichtig gewesen, eher sogar etwas lästig. Sie bot ihm nicht viel, worauf er stolz sein konnte. Dafür umso mehr, was ihm unangenehm war. Aber diese Aktion jetzt kränkte ihn doch zutiefst. Seine eigene Familie unterstellte ihm, dass es ihm egal wäre, wenn seinen Eltern etwas Schlimmes zustieß. Das würde er jedenfalls nicht vergessen.

Als Konsequenz würde er ihnen auch nicht erzählen, dass er umziehen würde. Wenn er so darüber nachdachte, dann hatten sie vielleicht kaum realisiert, dass er mit Kristina eine ernsthafte Beziehung führte. Wenn der Umzug durch war und die Wohnung eingerichtet war, dann würde er ihnen eine Nachricht mit der neuen Telefonnummer zukommen lassen. Ohne jeden Kommentar. Verhielt er sich damit wie ein bockiges Kind? Vielleicht. Aber dieses Recht wollte er sich jetzt verdammt noch einmal zugestehen.

„Das nächste mal will ich frühzeitig über so etwas informiert werden. Nicht erst zur Beerdigung.“

Seine gute Laune war verflogen. Davon geweht wie die herbstlichen Blätter vom kalten Wind. Gerade jetzt erschien ihm das Wetter geradezu absurd passend und wie eine widerliche Allegorie für die sterbende Beziehung zu seinen Eltern. Wahlweise auch für die Gesundheit seiner Mutter, aber diesen Gedanken traute er sich nicht zu vollenden. Von seinem Vater bekam er immerhin eine halbherzige Zusage zu seiner Forderung.

Kaum hatte er aufgelegt, bemerkte er eine Nachricht auf seinem Telefon. Erik hatte ihm keine Chatnachricht, sondern eine SMS geschickt. Da war also der nächste Notfall. Wir müssen uns noch einmal über Tinas Geburtstag vor zwei Wochen unterhalten. Ich brauche deine Erinnerungen, bitte. Und dabei wollte er das doch eigentlich vermeiden. Es gab einmal eine Zeit, da hätte er jetzt ein Gespinst aus Lügen entworfen und eine alternative Realität erschaffen, einzig um einen möglicherweise fatalen Kuss aus der Geschichte zu streichen. Die Erfahrung hatte nur gezeigt, dass diese Traumschlösser nur all zu zerbrechlich waren. Wenn er in seiner Wohnung war, würde er Erik also einmal anrufen müssen und sich dann überlegen, was und wie viel er wirklich preisgeben musste.

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Den Kopf in den Wolken – Teil 1.

Es gibt Gesetze, die sind unumstößlich. Naturgesetze sind klar definiert und das für alle Zeit. Der Apfel fällt vom Ast nach unten, Luft ist bei gleicher Temperatur leichter als ein entsprechendes Volumen Wasser. Jeder Stoff strebt immer den Zustand mit der geringsten Energie an. Die Begründung, wieso Wasser bergab fließt und radioaktives Material zerfällt.

Und es gibt Gesetze, die sind lediglich akzeptiert aber so vage, dass sie eigentlich keine Gesetze sind. Sie beschreiben ideologische, unsichtbare Grenzen. Eigenschaften, die so nahe beieinander liegen und doch gegensätzlich sind wollen nicht immer getrennt werden. Genie und Wahnsinn. Sie gehen Hand in Hand und vielleicht braucht es das Eine für das Andere. Das Genie macht ohne eine gewisse Portion Wahnsinn keinen Spaß. Der Wahnsinn bricht mit den Konventionen und öffnet dem Genie rostige Schlösser.

Feigheit und Mut sind nicht weniger essenziell verbunden. Kann jemand Mut haben, der keine Angst kennt, oder ist er dann nur leichtsinnig?

Das gleichmäßige Brummen des Motors konnte verdammt einschläfernd sein. Stundenlang der gleiche Ton, die gleiche Vibration und die gleiche Aussicht. Wasser, soweit das Auge reicht. Marc kontrollierte im Minutentakt die Instrumente. Er war auf dem richtigen Kurs und die Geschwindigkeit stimmte auch. Trotzdem wollte einfach keine Küste in Sicht kommen. Er drosselte den Motor, ging etwas tiefer und prüfte die Wellen. Eigentlich müsste er sogar Rückenwind haben aber in dem tiefblauen Meer war nicht einmal eine Sandbank zu erkennen. Und das, so weit ab von jeder bekannten Schifffahrtsstraße. Er gab wieder etwas mehr Gas und ließ das kleine Flugzeug steigen.

Er stellte sich vor, wie es von außen aussehen müsste. Ein winziger, weißer Punkt zwischen einem tiefblauen Ozean und einem nur wenig helleren Himmel. Noch stand die Sonne hoch im Zenit, aber bald würde sie vor ihm stehen und den Himmel über seinem Ziel tiefrot färben. Er fragte sich, wie sein Ziel wohl aussehen würde. Alles was er wusste war, dass dort Land zu finden war. Unbekanntes Land voller Reichtümer die nur darauf warteten, von ihm entdeckt zu werden. Er wäre derjenige, dem die Ehre zu Teil werden würde, die ersten Karten zu zeichnen und zu beschriften. Er durfte die Namen vergeben. Ganz wie es ihm gefiel und er würde sich vor niemandem rechtfertigen müssen. Irgendwo dort, hinter dem tiefblauen Horizont, da lag all dies. Die Erfüllung seiner Träume, wie er sie sah.

Das Flugzeug schaukelte auf unsichtbaren Wellen aus Luft, bemühte sich ihn sanft in den Schlaf zu schaukeln und zwang seine Augenlider hinab. Ob er zwischenzeitlich tatsächlich einschlief oder nicht, konnte er nicht sagen. Der Blick aus dem Fenster war immer der gleiche. Als es zu schlimm wurde, versuchte er sich selbst zu ohrfeigen, um bei Bewusstsein zu bleiben, und schlug sich gegen den Brustkorb. Es stellte sich immerhin ein mäßiger Erfolg ein. Als er gestartet war, war er gut ausgeschlafen und hatte ein reichhaltiges Frühstück hinter sich. Von beidem war nichts mehr übrig. Die Müdigkeit lieferte sich ein erbittertes Duell mit dem Hunger aber noch wollte er sein Abendessen noch etwas heraus zögern.

Er hatte den Eindruck, mehr Hunger zu haben als normal. Ob das etwas mit der Höhe zu tun hatte? Seine Trainingsflüge hatte er in geringer Höhe absolviert und einen Fluglehrer hatte er nie gefunden. Das Flugzeug hatte er selbst gebaut, nach einem Foto, was er in der Zeitung gesehen hatte. Jetzt wo er hier saß, in Hunderten Metern Höhe, den Steuerknüppel zwischen den Beinen, erschien ihm sein Vorhaben plötzlich geradezu lächerlich einfältig. Er hatte davon geträumt ein berühmter Entdecker zu werden, berüchtigt für seinen Mut und seine Verwegenheit. Im Augenblick kam er sich eher wie ein dummer Junge vor, der sich Hals über Kopf in ein Abenteuer gestürzt hatte, von dem er nicht einmal ahnen konnte, wie es denn überhaupt beginnen konnte. Ein ausgesprochen dummer Junge.

Erneut überprüfte er seine Instrumente und den Stand der Sonne. Sein Kurs sollte noch immer stimmen aber Land war noch immer nicht in Sicht. Vor seinem geistigen Auge sah er dem Flugzeug von außen zu, wie es unkontrolliert durch die Wolken stürzte, während er am Steuer schlief. Die Maschine zerbrach, noch ehe er das Wasser erreicht hatte.

Im Anschluss sah er sich, wie er vor einer leuchtend roten Abendsonne und ohne Motoren über die Wellen glitt. Immer näher kam das glitzernde Nass, weiße Schaumkronen tanzten auf den Wellenkämmen. Das Fahrwerk verfing sich in den Wellen und er überschlug sich wild, ehe die Wellen ihn schluckten.

Ostrach

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 102

Auf einen Kaffee mit Tina

„Können wir uns mal auf einen Kaffee treffen? Wir müssen mal reden. Unter vier Augen.“

Damit hatte es angefangen. Tina hatte Erik an den Toiletten abgefangen, um ihm das zu sagen. Sie wusste, dass Mia bereits im Seminarraum saß und sie so ungestört war, sonst hätte sie ihn auch nie angesprochen.

„Hast du heute Nachmittag um fünf Uhr zeit? Wenns dir recht ist, dann treffen wir uns dann im Kaffee Mohr.“

Er hatte kaum als Zustimmung genickt, da war sie auch schon wieder verschwunden und ließ ihn grübelnd zurück. Sie hatte nachdenklich und gedämpft gewirkt, wie schon die letzten Tage. An denen hatte sie ihn allerdings offen gemieden und ignoriert. Seit ihrem Geburtstag, genau genommen. Einem Tag, der einen schrecklichen Kater zur Folge hatte und keine Erinnerung daran, wie er seinen Weg nach Hause gefunden hatte. Flo konnte sich erinnern und hielt sich mit Spott nicht zurück. Dummerweise wusste man bei ihm nie, was er sich ausgedacht hatte und was tatsächliche Ereignisse gewesen waren.

Dass Flo ihn ein gutes Stück des Weges gestützt oder halb getragen hatte glaubte er sofort. Dass Er ihn aber gleichzeitig aus den Ausschnitten einiger Mädels fischen musste, denen sie auf dem Weg begegnet waren, daran hatte er seine Zweifel. Das wäre wohl einfach nicht sein Stil gewesen, aber gewisse Restzweifel blieben ihm hartnäckig und unangenehm im Rücken. Wer konnte schließlich zu einem schönen Ausschnitt nein sagen, besonders, wenn er einen einlädt. Mia bekam von alledem nicht mehr mit, als nötig war, und was sie mitbekam, das tat sie gnädigerweise als Fantasie ab.

Und nun war die Funkstille doch noch gebrochen worden und Tina stand als Referenzquelle zu Verfügung. Vielleicht konnte sie etwas mehr Licht ins Dunkel bringen. Bei dem Ton, mit dem sie ihn angesprochen hatte, war er sich allerdings nicht sicher, ob er das wirklich so wollte. Kaffee Mohr also. Eines der traditionsreicheren Häuser der Stadt mit viel Geschichte, gutem Kuchen, sehr annehmbarem Kaffee, noch besserem Eis und erstaunlich studentischen Preisen. An einem Tag wie heute war aber ein Kaffee nur angemessen und dringend nötig.

Dicke Wolken zogen über den Platz, als Erik auf das alte Fachwerkhaus zu lief. Ein frischer Wind zerrte an den Blättern und nichts deutete mehr auf den Sommer hin, der doch noch überhaupt nicht so lange her gewesen war. Er war fünf Minuten zu früh und doch war Tina schon da und wartete auf ihn. Durchs Fenster konnte er sie sitzen sehen, wie sie nervös ihre Hände knetete und auf ihrer Lippe kaute. Das tat sie immer, wenn sie tief in Gedanken versunken war und an einem Problem knobelte. Sie bemerkte ihn sofort, als er durch die Türe kam. Mit einem offenen, warmen Lächeln stand sie auf und begrüßte ihn mit einer festen Umarmung. Nichts deutete auf das zweifelnde Grübeln von vor wenigen Sekunden hin.

„Schön, dass du Zeit finden konntest. Geht es dir gut? Jedenfalls siehst du gut aus.“

„Dankesehr, du aber auch. Ich hatte den Eindruck, du hättest etwas Wichtiges los zu werden.“

Ihm fiel auf, dass sie wirklich gut aussah, vorsichtig ausgedrückt. Sie war etwas aufwendiger geschminkt als gewöhnlich, trug ein schickes Kleidchen, was dennoch nicht zu kalt wirkte, und hatte sichtbar viel Zeit in ihre Frisur gesteckt. Ihr üblicher sportlich schicke Stil war heute definitiv eher elegant. Wollte sie ihm so gut gefallen?

„Keine Ahnung, wir haben in letzter Zeit nicht mehr so viel geredet. Ich hatte den Eindruck, du gehst mir aus dem Weg und wollte wissen, ob etwas nicht stimmt?“

„Ich dachte eher, du gehst mir aus dem Weg. Seit deinem Geburtstag hast du dich nach jedem Hallo schnell umgedreht und bist gegangen.“

Da war es wieder, das nervöse Lippenkauen und Blinzeln. Die Bedienung kam, um ihre Bestellung aufzunehmen. Dabei saß er kaum und hatte noch keine Chance gehabt, in die Karte zu gucken. Sie konnte kaum wissen, dass er bereits wusste, was er wollte. Außerdem musste es das Radar jedes Kellners sein, welches verriet, wann gerade der ungünstigste Zeitpunkt war, jemanden anzusprechen und welcher genau deswegen unbedingt wahrgenommen werden musste.

„Ich weiß, tut mir leid aber mir ging es nicht besonders gut. Ich habe wohl viel zu viel getrunken. Offenbar werde ich wirklich alt. Der Kater hat gleich zwei drei Tage angehalten und ich glaube, ich erinnere mich nicht mehr an alles.“ Sie seufzte schwer, holte noch einmal tief Luft und sah ihn vorsichtig an. „Habe ich irgendetwas Dummes getan?“

Darum ging es also? Sie hatte die gleichen Fragen wie er selbst aber ein offenbar schlechteres Gefühl dabei. Erinnerte sie sich doch an mehr?

„Ich weiß es nicht genau. Ich habe auf jeden Fall dicke Lücken aber so wie du fragst, scheint da echt was gewesen zu sein. Woran erinnerst du dich denn noch?“

„Daran, extrem betrunken gewesen zu sein. Flo hatte Kuchen dabei und der war extrem lecker. Wir haben am Fluss gesessen. Bist du sicher, dass wir darüber reden sollten?“

„Ja, der Kuchen war echt gut. Wieso willst du nicht darüber reden?“

„Ich weiß nicht. Was, wenn etwas passiert ist, was nicht gut ist? Was, wenn wir etwas getan haben, was wir nicht hätten tun dürfen?“

Jetzt war Erik auf jeden Fall misstrauisch. Sie erinnerte sich definitiv an etwas. Etwas, worüber sie nicht reden wollte oder jedenfalls nicht mit ihm. Wieso wollte sie trotzdem mit ihm reden? Wahrscheinlich nur, um herauszufinden, was er wusste und was nicht. Wenn er etwas herausbekommen wollte, würde er mit Flo reden müssen. Oder er versuchte es einfach trotzdem.

„So schlimm wird es schon nicht gewesen sein. Was meinst du denn, was passiert ist?“

„Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich einen furchtbaren Kater hatte und ein mieses Gefühl. Und du erinnerst dich auch nicht an mehr? Was hast du denn die letzten Tage so gemacht? Ging es dir wenigstens besser und hast du den Kater besser überstanden?“

Immerhin hatte er nun den Beweis, dass er sie recht gut einschätzen konnte und sich nicht geirrt hatte. Sie wollte nur wissen, an was er sich erinnerte und dann schnell vom Thema ablenken. Stattdessen klimperte sie nun mit gespielter guter Laune ihre Wimpern und versuchte ihm tief in die Augen zu sehen. Es wäre echt spannend, zu hören, was Flo zu sagen hatte. Er schien jedenfalls in weiten Teilen andere Erinnerungen an den Abend zu haben. Darin enthalten waren diverseste Backrezepte und Küchentipps. Wie so oft hatte Erik den Eindruck, Flo hätte eigentlich Konditor werden müssen, statt an die Uni zu gehen.

Kartoffelsprössling

Der Patient – Teil 3. – Ende

Es hatte zu Dämmern begonnen. Der Regen hatte nachgelassen und Abby taten die Beine weh. Ihr tierischer Führer hatte ihnen nicht all zu viele Pausen gegönnt, gleichzeitig aber dafür gesorgt, dass sie immer Schritt halten konnten und sich nicht verliefen. Eine Zeit lang hatte sie noch entfernte Schüsse durch das Blätterwerk gehört, seit einigen Stunden aber war davon kein Ton mehr zu hören. Jetzt schien der Gorilla sich seinem Ziel langsam zu nähern. Immer wieder hielt er inne um einen Ast zu begutachten, an einem Baumstamm zu schnüffeln oder an einigen Blättern zu kauen. Irgendwann ließ er sich schlicht in einen größeren Busch fallen und begann die Zweige zu biegen und zu flechten. Rund herum erwachte der Regenwald zum Leben und Abby stellte fest, dass die Bäume rund herum besetzt von Gorillas waren. Sie waren überall, sie kamen quasi aus dem Nichts und es waren viele. Niemand schenkte den Menschen besondere Aufmerksamkeit. Sie wurden zur Kenntnis genommen und dann baute man weiter. Es dauerte einen Moment bis Abby sich erinnerte und begriff, dass sie sich Nester für die Nacht bauten. Wenigstens für heute war die Reise zu Ende.

Abby suchte sich nun auch ein möglichst weiches Büschel Blätter und versuchte es sich bequem zu machen. Ahmed sah sie irritiert an, wie sie da saß und Blätter zusammenfaltete. Er konnte es nicht fassen, wie stoisch sie ihr Schicksal annahm. Noch vor einigen Stunden hatte sie sich geweigert ihre Station zu verlassen und plötzlich standen sie beide mitten im Regenwald, fernab jeglicher Zivilisation, mit einem fieberkranken Kind. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Denosh überhaupt nicht mehr heiß war. Ihre Haut fühlte sich ganz normal an, genau genommen sah sie einfach wie ein schlafendes Kind aus. Er begab sich zu Abby zwischen die Gorillanester. Sie nahm ihm das kleine Mädchen aus den Armen und untersuchte sie flüchtig. Mit einem Lächeln auf den Lippen legte sie sie dann in das frische Nest.

„Sie ist auf dem besten Weg der Besserung. Der Regen hat das Fieber herunter gekühlt und es scheint nicht wieder zu kommen. Jetzt muss sie sich erst einmal gut ausschlafen, bis morgen wird nichts Großes mehr passieren.“

Ahmed war zwar skeptisch, akzeptierte ihr Urteil aber. Wenn selbst die Doktorin sich mit der Situation anfreunden konnte, dann musste es ihm doch leicht fallen. Es wäre ohnehin sinnlos gewesen sich Sorgen zu machen, vor morgen früh würden sie nichts unternehmen können. Zwischen den großen Affen kamen sie sich vor, wie ein gut geschützter Teil der Familie. Abby fühlte sich an die Urlaube bei ihrem Großvater in Irland erinnert, wie sie mit ihm an der Küste gezeltet hatte. Hier fehlte das Zelt oder war einfach um ein vielfaches größer. Wenn sie es recht bedachte, dann war der Wald selbst eigentlich wie ein großes Zelt. Sie musste schmunzeln und beobachtete die Gorillas, wie sie ihre Kinder in die Nester riefen und einer nach dem Anderen zur Ruhe kam. Die Nacht brach herein, und obwohl um sie herum der Dschungel zum Leben erwachte und regelrecht explodierte, fielen sie alle drei in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Auch wenn Abby gerne die Ruhe genossen hätte wusste sie, wo Tiere lärmten, da war der Krieg weit weg. Selbst Ahmed, der seit Monaten in Angst vor dem Krieg lebte, fühlte sich wirklich sicher und geborgen.

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Hörsaalgetuschel – Ausgabe 101

Planungen

„Kannst du dir das vorstellen? Nächste Woche gehen schon wieder die Vorlesungen los. Ich habe den Eindruck, es gab überhaupt keine freien Tage diesen Sommer. So fast überhaupt nicht. Ich war kaum eine Woche bei meiner Familie. Ich habe generell mehr Zeit bei deiner als bei meiner eigenen verbracht im letzten halben Jahr.“

„Meine wohnt ja auch bedeutend näher dran als deine und ich habe eine andere Beziehung zu ihr.“

Der Zug ratterte über eine finstere Strecke. Flo und Kristina hatten ein gemeinsames Wochenende bei ihrer Familie verbracht, voller Verwandter und dennoch ruhig und erholsam. Sie waren zu einer kleinen Familienfeier eingeladen gewesen. Der Anlass war gewesen, dass ein Onkel aus seinem neuen Wohnsitz in Norwegen zu Besuch gekommen war. Aber ob Familienfeier oder nicht, es war niemals wirklich ruhig in Kristinas Elternhaus. Irgendjemand war immer zu Besuch oder kam nur auf einen Kaffee vorbei, besonders wenn es etwas zu erzählen oder wen zu treffen gab. Woran Flo sich dabei nur mit Mühe gewöhnen konnte, war die Harmonie. Man saß gemütlich bei Kaffee, Tee und Kuchen beisammen und redete, lachte gemeinsam oder tröstete sich auch gelegentlich aber niemand suchte Streit. Meinungsverschiedenheiten konnte man immer noch in vernünftiger Lautstärke ausdiskutieren, ohne sich gleich anbrüllen zu müssen.

Anfangs war er noch skeptisch gewesen, aber inzwischen musste Flo einfach zugeben, dass er diese Treffen als entspannend wahrnahm. Selbst wenn Kristinas Nichten und Neffen da waren und ein Rudel lärmender Kinder durch Haus und Garten stürmten, war es dennoch nie überlastend für ihn. Dabei hatte er immer geglaubt, nicht mit Kindern umgehen zu können. Für Kristina waren die Besuche bei ihren Eltern fester Bestandteil ihres Lebens, den sie brauchte und genoss und Flo wiederum genoss es, sie mit ihrer Familie strahlen zu sehen. Wieso war so etwas eigentlich nicht bei ihm möglich? Wenn er seine Familie besuchte, benahm sich immer irgendjemand daneben und es endete alles in einem großen Streit, jeder gegen jeden.

„Tja, das stimmt wohl. Du hast eine intakte Familie, wie im Bilderbuch. Ich habe dafür eine wie bei RTL. Nur leider ist sie hier real und nicht ausgedacht, auch wenn mir das lieber wäre. Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass sie traurig drüber sind, mich so lange nicht mehr gesehen zu haben. Sie melden sich auch nicht von sich aus also scheint alles gut zu sein. Wahrscheinlich warten sie nur darauf, dass ich anrufe, um ihnen zu sagen, dass ich von der Uni geflogen bin.“

„Sei nicht so hart zu deiner Familie. Sie sind vielleicht ein wenig speziell, aber es ist immerhin noch immer deine Familie. Das kannst du nicht ändern aber immerhin das Beste draus machen. Es würde euch gut tun, etwas pfleglicher miteinander umzugehen.“

„Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob ich das überhaupt will. Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit dem möglichst sporadischen Kontakt. Ich habe ja immer noch dich und deine Familie erweckt auch eher den Eindruck, als hätten sie mich adoptiert. Damit habe ich doch eine Familie. Und ganz abgesehen davon, mir ist meine eigene kleine „Familie“ mit dir wichtiger. Wenn du also nichts an unserer Situation ändern möchtest… Ich hätte unter Umständen eine Jobmöglichkeit bei dir in der Nähe. Dann könnten wir eventuell eine gemeinsame Wohnung beziehen. Wenn du möchtest, natürlich.“

Kristina sah ihn überrascht an. Flo wusste, dass er sie ein wenig damit überrumpelt hatte, aber er hatte sie genau beobachtet, und auch wenn sie ihn etwas tadelnd musterte, das Glänzen in ihren Augen kannte er. Es war dieses Funkeln, welches ihm jedes mal das Herz bis zum Hals schlagen ließ und ein Feuerwerk in seinen Eingeweiden abbrannte, dass er sich fragte, ob das heiße Gefühl in seinem Kopf nicht tatsächlich der Pulverdampf war, der seinen Weg hinaus suchte. Als sie schließlich lächelte, hätte er schmelzen können wie Schokolade in Kinderhänden.

Sein krampfhafter Versuch, sein Kichern zu unterdrücken endete in einer fürchterlichen Grimasse und am Ende doch wieder lautem, albernen Gelächter.

„Wenn ich möchte also? Also in meiner Wohnung würde es wohl etwas eng werden, aber über den Müllers in der Eichhornstraße ist eine Wohnung frei. Geräumig, zwei Zimmer, große Wohnküche, Dachterrasse. Ich hatte schon überlegt, ob ich dich fragen soll, aber dann hättest du einen deutlich längeren Weg zur Uni. Ein wenig hast du da ja noch.“

„Sehen wir sie uns trotzdem nächstes Wochenende an? Es klingt spontan sehr verlockend und ich habe ein gutes Gefühl. Ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer und auf der Terrasse Platz für deine Pflanzen.“

„Ich rufe morgen einmal da an und frage nach einem Termin. Und du pendelst dann eine Stunde zur Uni und zurück? Am Ende lässt du mich da noch alleine einziehen und ich sitz blöd da.“

„Du weißt, dass ich dich nie hängen lassen könnte. Und wenn ich zwei Stunden zur Uni brauche, dann ist das halt so. Im Notfall übernachte ich dann mal bei Mia und Erik auf dem Sofa. Das wäre dann besser, als um vier Uhr aufzustehen. So viele Termine habe ich aber auch nicht mehr in der Uni. Von daher müsste es klappen.“

„Gut, wenn du das sagst, dann glaube ich dir mal. Aber über das mit der „Familie“ reden wir später noch einmal in Ruhe.“

Welche Pflanze?

Der Patient – Teil 2.

Der gesamte Türdurchgang wurde von einem dichten, schwarzen Fell ausgefüllt. Kaum war Ahmed an der Wand zum Stillstand gekommen schob sich das Fell durch die Öffnung, bis ein ausgewachsenes Gorillamännchen im Raum stand, sich nervös umsah und krampfhaft die linke Schulter hielt. Doc Abby sah dunkles Blut zwischen den Fingern des Tieres durch sickern und klopfte in einer instinktiven Geste mit der Aufforderung, Platz zu nehmen, auf die Liege. Der Gorilla verstand, kam vorsichtig herum und ließ sich noch viel vorsichtiger auf das filigrane Gestell sinken. Sein Gesicht zeigte sichtliche Erleichterung, dass es sein Gewicht aushielt.

Unter seinen wachsamen Augen trat Abby an seine Seite. Er knurrte kurz, als sie seine gewaltige Hand von der Schulter nahm, um einen Blick auf die Wunde zu werfen. Dickes Blut verklebte das Fell rund um die Wunde, einem glatten Einschussloch. Sie betrachtete die Schulter von allen Seiten, eine Austrittswunde war nicht zu sehen. Wenn sie den Winkel des Einschusses richtig deutete, dann konnte kein Knochen verletzt sein und die Blutmenge schloss aus, dass eine größere Ader getroffen worden war. Sie musste also eine Kugel aus dem Oberarm eines Gorillas entfernen, der mindestens fünf Mal so viel wog wie sie. Sie überlegte, die Kugel einfach stecken zu lassen und die Wunde zu vernähen. Das Tier knurrte in Richtung seines Armes und sah Abby mit einem Blick an, den sie unweigerlich als bittend beschreiben musste. Er war einfach zu menschlich, wie er da saß. Allmählich zweifelte sie an ihrem Verstand.

Mit einem Seufzen sammelte sie ihre Ausrüstung zusammen. Unter dem aufmerksamen Blick des Affen und den fassungslosen Augen Ahmeds rasierte sie den Bereich um die Wunde, reinigte sie und spritzte ein wenig Betäubungsmittel, stets bedacht, ihrem Patienten laufend zu erklären, was sie tat und ihm gut zu zu reden. Als die Betäubung Wirkung zeigte, begann sie die Suche nach der Kugel. Sie fand sie, drückte ihm die Hand auf die Schulter und zog die Pinzette mit dem Geschoss unter grollendem Protest heraus. Als sie das blutige Metall hochhielt, fragte sie sich, wieso sie eigentlich so ruhig war. Angesichts des ungewohnten Patienten müsste ihr Herz schlagen wie von Sinnen. Stattdessen legte sie ihm nur das Geschoss in die Pranke, überließ es seiner Neugier und vernähte das kleine Loch. Sie hatte gelegentlich Schussverletzungen behandelt aber noch nie waren sie ihr so alltäglich vorgekommen.

Als sie den Verband fertig angelegt hatte, erschien ihr der Gorilla fast wie ein Kind, das vor ihr saß, mit einem Schmuckstück spielt, ein kleines Liedchen summt und die Beine baumeln lässt. Er begutachtete ihr Werk, betastete den Arm und den Verband, grunzte zufrieden und ließ sich von der Liege gleiten. Er nickte und hielt Abby die Kugel wieder hin. Sie streckte den Arm aus und nahm sie zurück. Sie an seiner Stelle hätte sie wohl auch nicht behalten wollen. Ein leichter Wind trug das entfernte Knistern von Schüssen über die Hügel. Der Gorilla knurrte die Hügel an und hüpfte auf die Tür zu. Plötzlich klang der Gefechtslärm gar nicht mehr so weit entfernt. Auch Ahmed erwachte aus seiner Schockstarre. Er war kreidebleich und deutete nur auf die Hügel vor dem Fenster.

„Wir müssen hier raus!“ raunte er. „Die Milizen sind schon näher als ich gedacht hätte. Wenn sie uns finden, sieht es düster aus.“

Der Gorilla war offensichtlich ähnlicher Meinung. Er war im Flur stehen geblieben und sah auffordernd zurück. Abby konnte nicht sagen, was es war, aber für sie war es eine deutliche Aufforderung an sie, ihm zu folgen. Sie griff nach dem Notfallrucksack neben der Tür. Darin befand sich eine medizinische Feldausrüstung für jeden erdenklichen Notfall und sie trug ihn immer bei sich, wenn sie ihre Station verlassen musste. Der Gorilla registrierte ihr Handeln und setzte sich wieder in Bewegung, Ahmed folgte den Beiden, seine Tochter nach wie vor in den Armen.

Kaum hatte der Affe das Gebäude verlassen, steuerte er zielsicher ein Gebüsch an. Abby zweifelte nicht so sehr daran, dass er seinen Weg kannte als daran, dass das dünne Blätterwerk als Versteck taugte. Trotzdem folgte sie ihm und plötzlich war ihr bewusst, wie nah der Wald überhaupt war. Wohin sie auch blickte, es war kein Anzeichen menschlicher Zivilisation zu entdecken, nur Blätterwerk. Ungelenk stolperten die zwei Menschen durch das Unterholz, stets bemüht Schritt zu halten. In dieser Umgebung aber waren sie nicht heimisch, es war die Welt der Tiere. Der Gorilla verschwand immer wieder außer Sicht, wartete aber hinter ein paar Zweigen und Blättern immer geduldig auf sie. In seinem Blick lag dabei immer etwas wie Mitleid. So zogen sie weiter durch den Dschungel und Abby hatte längst aufgegeben, ihren Weg zurück verfolgen zu wollen. Jeder Busch sah für sie aus wie der Andere, jeder Baum wie der Letzte. Sie konnten überall und nirgends sein. Für Abby machte es keinen Unterschied mehr. Sie hatte sich völlig ihrem Patienten ausgeliefert.

Zu allem Überfluss tat der Regenwald inzwischen auch genau das, was sein Name versprach. Er regnete. Und wie es im Regenwald so üblich ist, gab es keinen europäischen Nieselregen, sondern einen ausgewachsenen Platzregen. Binnen kürzester Zeit waren sie alle nass bis auf die Haut. Der Wald hatte sie verschluckt, es regnete und Abby fühlte sich wie ein leichtsinniges Kind, welches einer streunenden Katze so lange nachgelaufen war, bis die Katze über einen Zaun verschwunden war und das Kind alleine im unbekannten stand. Ahmed hatte ihr zwar geraten die Stadt schnellstmöglich zu verlassen aber sicherlich nicht so. Allein die Tatsache, dass auch er mitsamt Denosh im Arm ihnen noch folgte hielten sie von dem Glauben ab, den Verstand verloren zu haben. Er war doch immerhin einheimisch. Dass auch er keine Ahnung vom Wald hatte und sein Leben lang in der Stadt gewohnt hatte schob ihr Unterbewusstes bewusst beiseite.

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Was lange währt wird endlich.

Lange war Ruhe hier. Das reale Leben, außerhalb des Internets, hat kräftig Tribut gefordert und hat Schlösser aufgebaut und eingerissen. Es war sehr viel los und darunter hat der Blog arg gelitten.

Besonders das Hörsaalgetuschel hat etliche Aussetzer hinnehmen müssen. Und das, obwohl es mein erklärtes Ziel war, regelmäßig und ohne Verspätungen zu schreiben. Ich war selbst nicht glücklich damit, aber ab und an muss man seine Prioritäten einfach sortieren und da dies hier immer noch ein Hobbyprojekt ist gab es Dinge, die einfach wichtiger waren. Umso bitterer, da die Serie vor wenigen Tagen ihren zweiten Geburtstag feiern konnte. Am 6.10.2014 erschien Hörsaalgetuschel – Ausgabe 1.

Mit Ausgabe 100 meldet sich die Serie nun wieder zurück. Auch wenn die Statistik des Blogs massive Aufrufeinbrüche verzeichnet, werden doch immer noch einige treue Seelen registriert, welche mich hier besuchen kommen, in der Hoffnung auf Neues (so jedenfalls meine zaghafte Hoffnung 😉 Ich schreibe nicht zuletzt, um meinen Lesern eine Freude zu machen). Ich hoffe, dass Ihr Verständnis für die Pause aufbringen könnt und Euch die neuen Folgen gut gefallen. Ich hoffe, dass ich ab nun wieder zuverlässiger meinen Sonntagstermin einhalten kann.

„Bleiben Sie uns treu, empfehlen Sie uns weiter. Bis zum nächsten mal, tschüss.“

Euer Graf.

Hörsaalgetuschel – Ausgabe 100

Geburtstag

Goldene Sonnenstrahlen tanzten zwischen den Blättern der Bäume und glitzerten in den flachen Wellen am Ufer. Der nahende Herbst war eifrig dabei, die ersten Blätter bunt zu färben aber noch summte alles vor Leben. Rauchschwaden hingen schwer in der lauen Abendluft.

„Wie schön, das ihr kommen konntet! Mia hatte keine Lust? Naja immerhin seid ihr ja da. Wenn ihr etwas grillen wollt, sucht euch einfach eine freie Stelle auf dem Rost. Bier ist im Bollerwagen. Greift zu, das muss heute noch weg.“

Tina zwinkerte Erik und Flo verwegen zu. Sie hatte sich offenbar selbst bereits fleißig mit dem Bier beschäftigt und war ausgesprochen gut gelaunt. Der Anblick von Flos Kuchen änderte das spontan. Von nun an war sie nicht mehr ausgesprochen gut gelaunt, sondern offen euphorisch begeistert. Kaum hatte er den Kuchen abgesetzt und die Hände frei, fiel sie ihm um den Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, um danach beschämt zurück zu weichen und sich zu entschuldigen. Erik quittierte das Ereignis mit einem dreckigen Lachen und drückte Erik nur wortlos ein offenes Bier in die Hand.

Sie waren bei Weitem nicht die Ersten gewesen. Der Grill war bereits warm und rund herum drängte sich eine respektable Gruppe von ihnen mehr oder weniger bekannten Gesichtern auf Handtüchern und Picknickdecken. Markus hatte ein Handtuch nur für sich alleine, war sturzbetrunken und klatschnass. Er hatte sich offenbar mal wieder nicht beherrschen können, und war in den Fluss gesprungen. Jetzt fror er offensichtlich gewaltig, obwohl er beinahe auf dem Grill hing. Nora versuchte sich gleich an drei Kerle gleichzeitig ranzumachen, die Flo nicht kannte oder zuordnen konnte und Selcan ertränkte gerade ihr Steak in einer Zigeunersoße, die sie vorher mit Schnaps etwas aufgewertet hatte. Jonny war nüchtern und verteidigte verbittert den Grill gegen den durchnässten Markus. Grillzange in der einen, Gabel in der anderen wendete er mit der einen das Fleisch, während er mit der anderen Richtung Markus stichelte. Von ihm hatte Mia auch die beiden Bratwürste, welche sie, jeweils in ein Brötchen gestopft, jetzt Flo und Erik in die Hand drückte.

„Hier, ehe ihr mir noch vom Fleisch fallt und ich ärger mit den Damen bekomme. Ich will doch niemanden eifersüchtig machen, nichtwahr?“ Dabei zwinkerte sie Erik besonders provokativ an. An Flo gerichtet fuhr sie fort. „Wie geht es denn Kristina? Läuft bei euch alles gut? Erik hat erzählt, ihr plant schon eine gemeinsame Familie?“

„Das habe ich überhaupt nicht gesagt!“ Erik protestierte mit dem Mund voller Bratwurst. „Ich habe lediglich gesagt, die beiden harmonieren so gut, dass es mich wundern würde, wenn sie nicht auch eines Tages eine Familie gründen. Gibs zu Flo, ihr hättet da alle beide nichts gegen.“

„Wie interessant, was ihr so alles über uns redet. Und bevor wir uns auf Kinder einlassen, mache ich erst einmal meinen Abschluss und ziehe mit Kristina zusammen. Eine gemeinsame Woche bei ihr oder mir ist das eine, ein gemeinsamer Alltag in einer gemeinsamen Wohnung schon wieder irgendwie etwas ganz anderes. Oder findest du nicht, Erik?“

Der angesprochene Erik zog einen kauenden Schmollmund und fühlte sich ungerecht behandelt. Er hatte auch schon früher einen gemeinsamen Alltag mit Mia gehabt und das Zusammenziehen hatte hier nichts dran geändert. Trotzdem sagte er lieber nichts. Flo wusste zu gut über seine Beziehung bescheid und wusste, dass längst nicht alles so rosig und romantisch war, wie er es sich insgeheim wünschte. Er hatte sich auf einen Kompromiss eingelassen, der große Zugeständnisse verlangte. Zeitweise hatte er seine Zweifel, ob es ihm das wirklich alles wert war, aber dann hatte Mia einmal ein paar gute Tage und alles war vergeben und vergessen. Ein Teufelskreis, aus dem er nicht ausbrechen konnte.

Flo aß sein Brötchen auf und legte Steaks auf den Grill, Erik trank Bier und leistete ihm Gesellschaft, Timon packte seine Gitarre aus und klimperte eine Lagerfeuer-Hintergrundmusik. Einige der Mädels hatten bunte Windlichter gebastelt, welche sie nun anzündeten, ehe die Dämmerung zu intensiv wurde. Tina schnitt den Kuchen an und verteilte begeistert Stücke an alle, die den Mund nicht mehr zu voll hatten. Angeregte Gespräche fanden unter der Rauchsäule des Grills statt und Flo war wahrscheinlich der Einzige, der das Logo auf Timons Gitarre erkannte und wusste, dass es eine handgefertigte spanische Gitarre war. Er hatte da mal eine Doku drüber gesehen, wie sie hergestellt wurden und wie begehrt diese Instrumente waren. Für Timon war es einfach nur seine Gitarre, mit der er umherzog und seine Musik machte. Erik hingegen bemerkte, dass die Gitarre leicht verstimmt war, was ihr aber genau den leiernden Effekt verlieh, der irgendwie verwegen und abenteuerlich klang. Er assoziierte es mit dem wilden Westen aber sowohl Flo als auch Erik behielten ihre Erkenntnisse für sich und mischten sich stattdessen lieber in andere Gespräche.

Tina stand inzwischen wieder bei Flo und Erik. Sie hatte eine offene Sektflasche in der Hand, aus der sie immer wieder einen Schluck nahm, ehe sie versuchte sie weiter zu reichen. Es war inzwischen schwerer geworden, gerade zu stehen. Sie schwankte ein wenig und hielt sich immer wieder an Eriks Schultern fest. Neben seiner langen Gestalt wirkte sie besonders klein und zierlich. Sie passte bequem unter den Arm, den er ihr um die Schulter legte und sie damit etwas vom Schwanken abhielt. Markus sprintete quer durch die Gruppe hindurch, verschwand im Schatten des Ufers, dicht gefolgt von Jonny, der ihn an einer weiteren Schwimmrunde hindern wollte. Vergeblich. Erik und Tina folgten ihm. Es war offensichtlich, dass er Hilfe brauchen würde, Markus wieder an Land zu ziehen. Er war zu betrunken, um von selbst den Weg aus dem Fluss zu finden.

„Der Kuchen kam von dir, oder?“

Ein Mädchen, das Flo noch nie zuvor gesehen hatte, hatte ihn angesprochen. Sie saß auf einem grasgrünen Handtuch, bot ihm einen Platz neben sich an und fragte nach dem Rezept. Er nahm das Angebot an und versuchte sich krampfhaft zu erinnern, welches Rezept er denn genau gemacht hatte.

„Ich glaube, ich habe mehrere Rezepte gemischt. Welchen Teil fandest du denn besonders gut? Dann kann ich dir eventuell wenigstens den geben?“

„Eigentlich finde ich die Kombi von der Creme mit den Kirschen und dem fluffigen Teig recht toll.“

Na super, das volle Programm also. Mit jeder Sekunde aber konnte er sich besser an das Rezept und seine eigenen Tricks erinnern. Sollte er ihr wirklich alle Geheimnisse verraten? Er zögerte ein wenig, aber entschied sich für die Fairness. Mit seiner Übung konnte sie vermutlich eh nicht mithalten aber Ahnung hatte sie auf jeden fall. Und sie zeigte sich ausgesprochen dankbar für seine Tipps. Es war wohl nur ein Vorwand gewesen, ein Gespräch mit ihm zu beginnen und nun begab sie sich zu Stufe zwei ihres Plans und wurde offensiver. Beinahe tat es ihm leid, ihre Offerten abweisen zu müssen, zu sehr genoss er es, einmal im Zentrum eines Interesses zu stehen. Doch mit jedem ihrer Worte sah er Kristina deutlicher vor sich, mit ihren sanften Augen, dem ansteckenden Lachen und Lippen, die auf ihn immer noch eine stärkere Anziehungskraft hatten als ein schwarzes Loch. Sie fehlte ihm und das Mädchen neben ihm hatte genau nur ihr Interesse an ihm, was ihn lockte.

Jonny trieb Markus vor sich her zum Grill. Die beiden hinterließen eine Spur aus Wasser und Schlamm, Markus hustete sich den Fluss und die Seele aus den Lungen, Jonny war einfach nur schrecklich schlecht gelaunt und hatte eine nasse Hose. Tina und Erik waren nicht bei ihnen. Flo sah sich irritiert um und fand einen Schatten, welcher immer noch am Fluss saß. Leise stand er auf und ging hinüber. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, was er dort sah.

Erik saß auf einer Stufe, die Hände auf Tinas Hüften. Tina war vor ihm in die Hocke gegangen, hatte seinen Kopf in die Hände genommen und küsste ihn innig. Es war deutlich, dass sie ihn damit völlig unvorbereitet getroffen hatte und er mit dieser Situation völlig überfordert war. Gefangen in einer Schockstarre saß er einfach da, die Augen weit aufgerissen, und ließ sie gewähren. Die Umrisse seines Schattens zitterten vor dem Mondlicht, welches sich im Wasser spiegelte. Flo hatte den Eindruck, der Moment würde ewig dauern aber endlich ließ Tina doch noch von Erik ab. Völlig verstört stand er auf, offensichtlich völlig betrunken, sah Flo direkt an, die Augen immer noch weit aufgerissen und taumelte dann an ihm vorbei, zielgenau auf den Bollerwagen mit den Flaschen zu. Flo blieb mit Tina alleine am Ufer zurück.

„Will ich fragen, was das war?“

„Was würde es dir bringen? Passiert ist passiert.“

Tinas Stimme war matt und brüchig, in ihren Augen glitzerten Tränen. Flo legte stumm den Kopf schief und sah sie weiterhin einfach nur abwartend an.

„Und ich dachte mit noch, das ist total dumm, was du da tust. Aber ich konnte nicht anders. Er wird Mia heiraten, weil sie das so will. Und er wird absolut unglücklich mit ihr bleiben. Sie tut ihm nicht gut und er weiß es aber er kann nicht anders. Es tut weh, zu sehen, wie hörig er ihr ist.“

„Und du meinst nicht, dass er alt genug ist, um das selbst zu entscheiden?“

„Natürlich ist er das. Aber ich liebe ihn. Wenn ich ihn jetzt küsse ist das nur eine große Dummheit und Mia wird mich wahrscheinlich dafür umbringen. Im schlimmsten Fall zerstöre ich eine labile und ungesunde Beziehung. Wenn sie einmal verheiratet sind, dann geht das überhaupt nicht mehr. Wahrscheinlich war das meine einzige Chance.“

„Wenn er es ihr überhaupt erzählt. Es sieht eher so aus, als säße ihm der Schock so tief in den Knochen, dass er kaum noch reden kann. Oh er leert gerade deinen Wodka. Ich sollte ihn wohl zum Schlafen ins Bad legen und morgen darf ich mir von Mia was anhören. Was soll ich ihr sagen?“

„Sag ihr was du willst, es ist mir egal. Sie wird Erik eh nie wieder gehen lassen. Sie hat sich längst mit ihm verlobt, er weiß es nur noch nicht.“

Sie seufzte schwer und insgeheim musste Flo ihr recht geben. Mia gab sich aktuell tatsächlich etwas vereinnahmend. Aber er wusste auch, dass Mia und Erik sich tatsächlich und ehrlich liebten, es allerdings nicht immer zum Ausdruck bringen konnten. Sie stritten häufig, aber konnten doch nicht ohneeinander. Er beschloss im Stillen, erst einmal abzuwarten und nichts zu sagen. Es würde an Erik liegen, falls er sich morgen überhaupt noch erinnern konnte.

„Ich weiß, es sollte mir entsetzlich leidtun, dass ich ihn geküsst habe. Aber obwohl es mir jetzt ein bisschen den Abend versaut hat, es war einer der besten Küsse, die ich je hatte.“

Mit diesen Worten zauberte Mia die Sektflasche aus der Nacht, leerte sie und ließ Flo alleine in der Nacht stehen.

2016-08-06 23.30.57

Der Patient – Teil 1.

Der Patient

Doc Abby hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie im Regenwald einmal Staubwolken sehen würde. Wenn sie jetzt aber aus dem Fenster ihrer kleinen Station guckte, sah sie statt der weißen Nebelschwaden tatsächlich rote Staubwolken über dem Dschungel schweben. Ihre Station lag am Rande einer kleinen Stadt und hatte eine traumhafte Aussicht auf die grünen Hügel und Berge des Urwaldes. Auf der anderen Seite der Fenster hatte sie ihr Behandlungszimmer, das Lager und ein kleines, halbwegs improvisiertes medizinisches Labor. Das Lager war auch nur noch formal existent und diente lediglich als Abstellkammer für leere Kisten und Schachteln. Doc Abby sah ihr Lager gerne als Metapher für die kleine Stadt. Auch die Stadt war im Verlauf der letzten Monate immer leerer geworden. Wer es sich leisten konnte, der hatte schon vor einer ganzen Weile seine sieben Sachen gepackt und hatte die Region verlassen. Als die ersten Rauchsäulen am Horizont erschienen waren, wurden die verbliebenen Bewohner immer nervöser. Spätestens seit die ersten, entfernten Schüsse durch die Nacht peitschen und die ersten Verwundeten an der Station auftauchten gab es kein halten mehr. Wer einen Ort hatte, wohin er fliehen konnte, der floh.

Für Abby war das keine Option. Die Schottin war hier, um den Leuten zu helfen und immerhin gab es noch arme Seelen in der Stadt, die auf ihre Hilfe angewiesen sein könnten. Außerdem hatte sie seit Beginn der Kämpfe immer mindestens einen Patienten zur dauerhaften Pflege im Hinterzimmer. Sie selbst hatte kein Verständnis für Uniformen und Flaggen, genau so wenig wie für den ganzen Konflikt. Wieso kämpften sie denn? Worum? Um eine Handvoll dicht bewaldeter Berge? Keiner von den Uniformen und Lamettaträgern hatte eine Ahnung, was der Wald wert war, was für Schätze er barg. Sie selbst hatte einige Ausflüge in den Wald unternommen, einige seiner Wunder erleben dürfen, hatte aber selber kaum eine Vorstellung davon, was es dort noch zu entdecken gab. Um so mehr ärgerte sie sich über die Zerstörung, die mit den Kämpfen einher ging.

Ahmed erinnerte sie wieder daran, weswegen sie hier war. Er trug seine Tochter im Arm, wie schon die ganze Woche. Jeden Tag brachte er sie zur Station in der Hoffnung, Abby könne irgendetwas gegen das Fieber tun. Abby würde der Kleinen so gerne helfen, aber ihre Vorräte waren erschöpft und die Hoffnung auf neue Lieferungen hatte sie längst aufgegeben. Für die Dauer des Krieges würde ihr Lager leer bleiben. Sie bemühte sich dem Mädchen mit Umschlägen und Kräutern zu helfen. Auch wenn es offensichtlich etwas half, Abby hatte das Gefühl, die Dankbarkeit die in den Augen von Vater und Tochter leuchtete nicht verdient zu haben. Sie hätte ihnen lieber eine Garantie gegeben, dass sie wieder gesund werden würde.

„Sie können nicht hier bleiben, es ist gefährlich. Bald werden die Milizen hier sein und alle umbringen oder verschleppen.“ Aus Ahmeds stimme klang weniger Undankbarkeit als vielmehr ernsthafte Sorge um sie. Er hatte im Bürgerkrieg seine Frau und drei Söhne verloren und war danach mit seiner Tochter aus der Hauptstadt geflohen. „Wenn Sie Menschen retten wollen, dann bringen Sie sich in Sicherheit. Wenn sie tot sind, können Sie das nicht mehr.“

Der Gedanke war ihr auch schon gekommen und gelegentlich sah sie sich auch auf einen der Flüchtlingskonvois aufspringen aber die Arbeit hielt sie immer zurück. Hier konnte sie noch etwas bewegen. Sie hatte schon Kämpfer von beiden Seiten gleichzeitig in ihrer Pflegestation gehabt und beobachtet, wie aus der anfänglichen Feindschaft die empfindliche Saat von Freundschaft und Vertrauen gekeimt war. Wenigstens die Feindschaften wurden begraben, wenn man tagelang allein in dem stickigen Raum lag. Abby musste immer lächeln, wenn sie sich an solche Situationen erinnerte. Ahmed sah sie zweifelnd an, als sie kichernd den Kopf schüttelte.

„Ich weiß, Sie meinen es nur gut mit mir, Ahmed, aber mein Platz ist hier. Sehen sie sich nur um. Es gibt so viele Leute hier, die meine Hilfe brauchen können. Auch wenn ich Denosh mit ihrem Fieber kaum helfen kann, es gibt so viel zu tun hier. Jeden Tag kommen neue Patienten und es werden immer mehr. Ich wünschte nur, es würden auch neue Medikamente und Ausrüstung kommen. Ich könnte sie mehr als gut gebrauchen.“

„Sie haben viel von den Alten aus den Dörfern gelernt. Sie wissen um die Heilkräuter aus dem Wald aber dieses Wissen wird verloren gehen, wenn Sie sinnlos sterben.“ Seine Stimme wurde flehend. Die Sorge in seinen Augen war Verzweiflung gewichen. Abby streckte sich, um ihre sommersprossige Hand auf seine tiefschwarzen Schultern legen zu können.

„Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich mag vielleicht eine kleine Frau sein, aber ich bin nicht so leicht unter zu kriegen, wie man meinen mag. Ich werde zurechtkommen. Wenn Sie Denosh morgen wieder herbringen habe ich vielleicht ein Mittel. Ich versuche es gerade aus einer Wurzel zu ziehen, die mir die alte Frau aus der Bäckerei gebracht hat.“

Ahmed resignierte. Er musste einsehen, dass der Doc schon viel länger hier ausgehalten hatte als so mancher Einheimische. Irgendetwas an ihrer Arbeit musste sie derart reizen, dass sie darüber jede Vorsicht vergaß. Für ihn war es eigentlich gut. Je länger sie hier war, desto länger konnte sie seiner Tochter helfen. Er nickte stumm, hob Denosh von der Liege hoch und drehte sich in Richtung der Tür. Das kleine Mädchen im Arm ging er langsam rückwärts, bis er mit dem Rücken an die Wand stieß, den Blick fest auf die Türe gerichtet beziehungsweise auf das, was den Türrahmen nun ausfüllte.

2016-09-27-11-25-32

Hirnfurz zwischendurch

Muss das Leben schön sein, wenn man einmal die Fesseln des Verstandes abgelegt hat.

Wäre Nervenfeuer hell leuchtend sichtbar, wie es so gerne in Animationen visualisiert wird, könnten manche Leute wohl viel Geld für Strom sparen. Spätestens wenn es zu den Ohren hinaus leuchtet wird es allerdings absurd. Andere Leute würden aber ein Leben in ewiger Finsternis führen. Wäre das Gehirn mechanisch und würde über knöcherne Zahnräder laufen würden eben jene Leute nie über Lärmbelästigung im eigenen Kopf klagen müssen.