Anruf von daheim
Bald würde er den Bahnplan komplett auswendig kennen, inklusive Baustellen und üblichen Verspätungen. Eventuell würde er das auch müssen, wenn alles gut lief. Gestern Mittag hatte er mit Kristina gemeinsam die Wohnung in der Eichhornstraße besichtigt. Ganz neutral betrachtet war die Wohnung einfach perfekt. Modern, hell, offen, mit einem großen Balkon in Richtung eines Parks und in einer sehr angenehmen Größe. Dazu zu allem Überfluss noch eine voll ausgestattete Küche mit genug Arbeitsplatz. Es wäre regelrecht leichtsinnig diese Wohnung nicht zu nehmen. Das einzige Gegenargument, was ihm spontan einfiel, war, dass er nicht genau sagen konnte, wo er nach der Uni einmal enden würde. Nach Möglichkeit in der Umgebung, aber so genau konnte man das nie wissen.
Im Augenblick wollte er sich damit auch überhaupt nicht auseinandersetzen. Wenn es nach ihm ging, dann konnte das so lange wie möglich warten. Jetzt saß er erst einmal nur im Zug und träumte vor sich hin, wie er es immer tat, wenn er sich nicht zu etwas Sinnvollem aufraffen konnte. Er redete sich ein, dass er ja mit der Besichtigung heute schon etwas Ausschlaggebenden und Wichtiges erledigt hätte. Die Herbstsonne senkte sich über einen Wald aus bunten Farben. Eigentlich wäre er gerne länger bei Kristina geblieben aber für morgen war er mit Erik verabredet und sie wollten gemeinsam weiter an ihren Projekten für die Abschlussarbeiten basteln. Auch da wollte er nicht dran denken. Häuser mischten sich in den Wald und zeigten an, dass der Zug sich dem Bahnhof näherte. In zwei Minuten würde der Zug im Bahnhof halten, in drei Minuten würde Flo den Bahnhof verlassen und in drei Minuten und zwanzig Sekunden würde sein Telefon klingeln.
„Hallo, ich bins.“
Der Text „Eltern Home“ auf dem Display war höchst ungewöhnlich, die Stimme seines Vaters hingegen zu hören, der ihn anrief, rangierte in Wahrscheinlichkeiten weit jenseits statistischer Ausreißer. Er war in etwa in dem Maße überrascht, wie jemand, der nackt von einer Lawine unter einen Gletscher geschoben worden war, fror.
„Ich wollte dir nur kurz Bescheid geben, dass alles gut gelaufen ist. Deiner Mutter geht es schon wieder besser. Mitte nächster Woche kommt sie wahrscheinlich wieder nach Hause.“
„Was ist denn gut gelaufen? Wo ist sie im Moment?“
„Na im Krankenhaus natürlich. Sie hatte doch vorgestern die Operation. Aber wie gesagt, es ist alles gut gelaufen.“
„Natürlich, im Krankenhaus, wo auch sonst. Was für eine Operation hatte sie denn? Oder darf ich das auch nicht wissen?“
„Hatten wir dir nicht Bescheid gesagt? Mir war so, als hättest du Bescheid gewusst aber ist ja auch egal. Doktor Canzell hat doch vor drei Monaten diese Verhärtung bei ihr entdeckt. Du weißt schon, der Tumor.“
„Nein, ich weiß nicht. Du sagst mir gerade, dass Mama Krebs hat, ihr das seit drei Monaten wisst und mir nicht einmal Bescheid sagen wolltet? Was für ein Tumor?“
Flo wusste nicht, ob er mehr wütend, entsetzt oder enttäuscht sein sollte. Wie konnte seine eigene Familie ihm so etwas verheimlichen? Natürlich, sie hatten nicht die beste Beziehung zueinander, aber es war immer noch seine Familie! Erwarteten sie, dass ihm das egal war?
„Beruhige dich, es ist doch alles gut. Jedenfalls war am Donnerstag die Operation, der Tumor ist jetzt raus und der Arzt meinte, dass nichts davon zurückgeblieben sein sollte. Sie bekommt jetzt noch ambulant eine Nachbehandlung, aber wenn in einem halben Jahr nichts mehr zu sehen ist, dann ist sie geheilt. Sagt der Arzt.“
„Papa, was für ein Tumor?“
„In der Lunge. Deswegen hatte sie ja auch immer diesen Husten, der nicht weggehen wollte.“
Und er hatte immer gedacht, den Husten hatte sie, weil sie seit Jahrzehnten rauchte. Lungenkrebs, wie klassisch. Das Schicksal war doch echt ein Arschloch.
„Wir wollten dich jetzt auch nicht übermäßig stören. Du musst ja studieren und irgendwann fertig werden. Läuft es denn mit der Uni?“
„Es hätte mich also gestört, zu erfahren, dass meine Mutter schwer krank ist.“
„Jetzt reg dich doch nicht so auf, Junge. Schwer krank ist übertrieben. Es war doch nur ein kleiner Tumor. Nicht größer als eine Pflaume und gestreut hat er auch nicht. Da dachten wir halt, es wäre nicht so wichtig für dich. Es war ja nichts Ernstes. Die Medizin kann ja heutzutage so vieles.“
Nicht so wichtig also. Flo überlegte ernsthaft, einfach wortlos aufzulegen. Noch vor einer Stunde war ihm seine Familie tatsächlich nicht besonders wichtig gewesen, eher sogar etwas lästig. Sie bot ihm nicht viel, worauf er stolz sein konnte. Dafür umso mehr, was ihm unangenehm war. Aber diese Aktion jetzt kränkte ihn doch zutiefst. Seine eigene Familie unterstellte ihm, dass es ihm egal wäre, wenn seinen Eltern etwas Schlimmes zustieß. Das würde er jedenfalls nicht vergessen.
Als Konsequenz würde er ihnen auch nicht erzählen, dass er umziehen würde. Wenn er so darüber nachdachte, dann hatten sie vielleicht kaum realisiert, dass er mit Kristina eine ernsthafte Beziehung führte. Wenn der Umzug durch war und die Wohnung eingerichtet war, dann würde er ihnen eine Nachricht mit der neuen Telefonnummer zukommen lassen. Ohne jeden Kommentar. Verhielt er sich damit wie ein bockiges Kind? Vielleicht. Aber dieses Recht wollte er sich jetzt verdammt noch einmal zugestehen.
„Das nächste mal will ich frühzeitig über so etwas informiert werden. Nicht erst zur Beerdigung.“
Seine gute Laune war verflogen. Davon geweht wie die herbstlichen Blätter vom kalten Wind. Gerade jetzt erschien ihm das Wetter geradezu absurd passend und wie eine widerliche Allegorie für die sterbende Beziehung zu seinen Eltern. Wahlweise auch für die Gesundheit seiner Mutter, aber diesen Gedanken traute er sich nicht zu vollenden. Von seinem Vater bekam er immerhin eine halbherzige Zusage zu seiner Forderung.
Kaum hatte er aufgelegt, bemerkte er eine Nachricht auf seinem Telefon. Erik hatte ihm keine Chatnachricht, sondern eine SMS geschickt. Da war also der nächste Notfall. Wir müssen uns noch einmal über Tinas Geburtstag vor zwei Wochen unterhalten. Ich brauche deine Erinnerungen, bitte. Und dabei wollte er das doch eigentlich vermeiden. Es gab einmal eine Zeit, da hätte er jetzt ein Gespinst aus Lügen entworfen und eine alternative Realität erschaffen, einzig um einen möglicherweise fatalen Kuss aus der Geschichte zu streichen. Die Erfahrung hatte nur gezeigt, dass diese Traumschlösser nur all zu zerbrechlich waren. Wenn er in seiner Wohnung war, würde er Erik also einmal anrufen müssen und sich dann überlegen, was und wie viel er wirklich preisgeben musste.