Bücherwahn in der Bücherei
Bücher, Bücher, noch mehr Bücher. Soweit das Auge reicht, nichts als Bücher, nur nicht das, was er suchte. Stattdessen massenhaft Bücher, die nicht an ihrer Position standen sondern irgendwo an der nächstbesten Stelle im Regal. Flos Respekt vor der Menschheit hatte ein neues Allzeittief erreicht und das war wahrlich eine Leistung. Es war als hätte irgendjemand ein großes Interesse daran, dass niemand seine Bücher mehr wieder fand. Die Alternative war, dass dieser Jemand einfach zu blöd war, das System der Bücherei zu begreifen aber dann wäre dieser Jemand unter Garantie auch zu blöd zum Atmen.
Im Gang vor ihm lag ein Stapel auf dem Boden. Er überflog die Titel auf den Buchrücken. Ein Text über die wirtschaftliche Entwicklung im Laos der ’80er Jahre lag zwischen Walter von der Vogelweide und der Geschichte des Bergbaus in Australien und Chile. Ergänzt wurde das Sortiment durch Shakespeare und den Grundlagen der Thermodynamik in der Raumfahrt.
Er wunderte sich nicht mehr. Die Sprachwissenschaften waren zwar in einem anderen Gebäude untergebracht, ebenso ihre Bücher, aber er hatte hier schon genug gesehen um den Glauben ans System verloren zu haben. Vor einer Stunde erst war er an Astrid Lindgrens „Michel aus Lönneberga“ vorbeigekommen. Er hatte sogar kurz gezögert, ob er es nicht mit nehmen sollte. Ein Blick auf die Uhr hatte ihn davon abgehalten. Er verbrachte schon viel zu viel Zeit damit, die Literatur für seine Arbeit raus zu suchen. So würde er nie fertig werden aber angesichts dieser Sortierung war das eh nicht absehbar.
Gab es nicht sogar eine ganze Armee studentischer Mitarbeiter, deren Aufgabe darin bestand, die Bücher zu versorgen? Er fluchte leise vor sich hin. Zwei Gänge weiter sollte sich seine Abteilung befinden aber als er dort angekommen war stand er vor einem offenen Raum. Die Regale waren leer und abgebaut. Irgendjemand hatte angefangen um zu sortieren und dem System davon nichts gesagt. Es war auch kein Hinweis zu finden, wo sich die Bücher in der Zwischenzeit befinden würden. Sie waren einfach verschwunden.
Mia hatte ihn gewarnt, dass so etwas passieren konnte. Sie hatte schon letztes Semester damit zu kämpfen gehabt, als er noch zu faul gewesen war um sich nicht vor dem Seminar zu drücken. Er hätte es ja auch weiter vor sich her geschoben, wenn ihm nicht die Zeit davon laufen würde. Sein Stundenplan würde auch so schon deutlich voller werden. Dinge, mit denen er sich eigentlich nie befassen wollte. Wieso hatte er sich noch gleich für ein Studium entschieden? Er wusste es nicht. Wahrscheinlich, weil er den Eindruck hatte, dass es von ihm erwartet wurde. Immerhin hatten alle in der Familie studiert. Was hätte er da sonst machen sollen?
Seine Augen streiften einen Buchrücken mit verdächtig bekanntem Aufdruck. Er guckte auf seinen Notizblock und fand den Titel wieder. Es stand natürlich an der falschen Stelle und mit weniger Glück und mehr Verstand hätte er es niemals gefunden aber so nahm er es eilig aus dem Regal. Ein Werk war besser als kein Werk. Nach den Stunden frustrierender Suche musste das ein zufriedenstellendes Ergebnis sein.
In den Untiefen seiner Erinnerungen regte sich etwas. Wilde Erzählungen von einer Bibliothek, in der man tatsächlich fand was man suchte. Einer Bibliothek mit einem funktionierenden und aktuellen System. Einer Bibliothek in der sogar die Mitarbeiter eine gewisse Ahnung hatten was wo zu finden sei. Er tat sich etwas schwer mit der Erinnerung aber Bruchstücke bekam er auf alle Fälle zusammen. Es war keine UniBib, soviel konnte er rekonstruieren. Die Auswahl war aber stark eingeschränkt.
Vielleicht interpretierte er auch einfach gerade zu viel in die alten Geschichten hinein. Immerhin war er nun schon etliche Stunden auf der Suche nach geeignetem Material und es sah nicht gut aus damit aber er wollte nicht aufgeben. Die Stadtbücherei, genau, das war es gewesen! Dort sollte alles gut sortiert und vorhanden sein, so hatte er gehört. Morgen würde er sich dort einmal umsehen gehen. Wenn dem wirklich so war, dann konnte ihm die UniBib herzlich gestohlen bleiben. Neugier drängte sich an den Platz seines Ärgers. Ja, morgen würde er sich das einmal genauer ansehen. Aber wirklich erst dann, für heute hatte er sich genug geärgert und er hatte keine Lust, sich diese Hoffnung gleich wieder zu zerstören. Nur für den Fall, dass sich diese Geschichten wirklich als genau das herausstellen sollten.
Das frisch erbeutete Buch unterm Arm wanderte er in den Lesesaal, fand einen freien Tisch und schlug es auf. Eine Sammlung loser Seiten fiel ihm entgegen und er bemerkte, dass sie nicht einmal ungefähr die richtige Reihenfolge hatten. In der Schule schimpften alle immer über Mathe und wie schwer das doch war. Offensichtlich begann das Problem schon beim einfachen zählen.
Als er die einzelnen Seiten auf dem Tisch ausbreitete erntete er irritierte Blicke. Er nahm sie nicht wahr sondern widmete sich einfach nur seiner Arbeit. Irgend etwas Brauchbares würde er schon finden, ehe sie ihn hinaus warfen.