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Gutenachtgeschichten

Jeder Tag erreicht seinen Punkt, wo die Sonne längst die andere Seite der Erde bescheint und sich die Leute hier ins Bett begeben. Die einen sind so erschöpft, dass sie gleich einschlafen, die anderen zählen Schafe, lauschen angespannt ihrem Herzschlag oder dem Atem des Wesens neben einem oder sie öffnen ihren Geist und gehen auf Reisen.

Dann entstehen bunte Geschichten hinter den geschlossenen Augenlidern und Gehirne kommen erst so richtig in Schwung. Da finden sich Geschichten um den ersten Kuss von Beziehungen, die nie Realität werden, da fegt die Gischt über die Deckplanken von Segelschiffen vor exotischen Küsten, da sitzt ein Held über den höchsten Zinnen seiner Stadt und wacht über einen dicht gedrängten Ameisenhaufen von Menschen, die nichts von seiner Existenz wissen. Raumschiffe jagen über die bunten Himmel fremder Planeten voller Lebewesen, so fremd, dass man sie sich kaum vorstellen kann, oder durchkreuzen die ewige Schwärze des Universums auf der Suche nach ihren Missionszielen. Da werden Monumente gebaut und alternative Verläufe für Geschichten erdacht. Was wäre gewesen, wenn …

Musik entsteht und begleitet einen unscheinbaren Träumer in die Schlacht gegen seine größte Angst, episch und bildgewaltig, das selbst die Größen der Filmmusik voller Hochachtung innehalten. Da entstehen Meisterwerke der Literaturgeschichte, nur einen Federstreich, einen Tastendruck von der Unsterblichkeit entfernt. Auf den Schwingen von Adlern, Raben und Drachen fliegen Gedanken mit den Träumen um die Wette. Donnernde Explosionen konkurrieren mit leise geflüsterten Worten der Zuneigung. Ein Unterbewusstsein übernimmt das Steuer über das legendäre U-Boot, welches versunkene Kulturen in den tiefsten Meeren besucht. Der Traum übernimmt die Kontrolle, der Träumer ist eingeschlafen, ohne es zu merken, ohne es zu wollen, atmet die Luft des Basars von Samarkand, schwer von Gewürzen.

Und dann klingelt der Wecker. Eine heiße Dusche wärmt die steifen Glieder, noch ganz erschöpft vom nächtlichen Kampf gegen die höchsten Gipfel. Der dampfende Tee spült das Salz des Windes von den Lippen, die noch vor Kurzem auf die endlosen Salzseen in den Anden gesehen haben, und mit jedem Atemzug zerbricht das Schloss aus Träumen, bis alles im Schlund des Vergessens untergegangen ist, noch ehe man die Türe zur Wohnung hinter sich ins Schloss gezogen hat und auf dem Weg ins Büro ist. Für immer verloren sind all die brillanten Ideen, die Meisterwerke, die genialen Geschichten und mitreißenden Töne. Ertränkt in einem grauen Alltag, erdrosselt von einem unbarmherzigen Wecker, gescheitert an den Fingerkuppen, die nicht einmal eine Notiz retten konnten oder wollten.

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