Ausgebrannt
Gelegentlich erreicht der Mensch einen Punkt, an dem er es sich nicht länger aussuchen kann, wann er Pause macht. Sein Körper übernimmt dann die Kontrolle und nimmt sich die Pause, ob man will oder nicht.
Dieser Moment war bei Flo vor zwei Stunden erreicht. Inzwischen war genug Zeit verstrichen, als dass er es sich sogar eingestehen wollte. Sie saßen in ihrer üblichen Dreierkonstellation im Lernraum und lernten. Mia und Erik schrieben fleißig ihre Zusammenfassung während er seit einer Stunde auf dieselbe Folie einer Präsentation glotzte. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Müdigkeit breitete sich wie Watte in seinem Hirn aus und erstickte jeden sinnvollen Gedanken im Keim.
Es müsste möglich sein, Wissen direkt aus den Büchern in den Kopf zu bekommen. Wie durch Diffusion, direkt aus dem Papier, durch die Stirn ins Gehirn. Im Schlaf sozusagen. Ganz klassisch, Bücher unter das Kopfkissen legen und dann … schlafen. Einfach endlich schlafen. Der billige Kaffee aus den Automaten hatte bei ihm noch nie gewirkt. Von der Brühe bekam er zwar Herzrasen aber keinen wachen Kopf.
Oder es bräuchte eine Steckdose, USB oder Firewire, direkt ins Gehirn. Das wäre zu perfekt! Und es hätte den angenehmen Nebeneffekt, dass man dabei wieder schlafen könnte. Egal wohin er sich drehte, am Ende lief alles auf Schlaf hinaus. Er hatte einfach keine Lust mehr, las die Seiten ohne ihren Inhalt wahrzunehmen.
Träume jagten hinter seinem inneren Auge auf und ab. Fantasien von tausendundeinem Universum. Eine Stadt entstand und zerfiel wieder zu Staub. Flugzeuge schossen durch steile Schluchten, kollidierten nur knapp nicht miteinander oder mit den Felswänden.
Er zwang sich zurück zum Thema, las einige Zeilen ehe ihm auffiel, dass er immer noch durch einen imaginären Canyon flog. Die Welt verschwamm vor seinen Augen und er musste sich bemühen, nicht mit dem Kopf auf den Tisch zu fallen. Er griff nach seinem Stift um sich etwas auf seinem Block zu notieren, vergaß aber was es war, noch ehe er ihn aufsetzen konnte.
Mia sah kurz zu ihm auf, sie kannte den Anblick noch gut genug. Auch wenn Flo sich in den letzten Wochen echt gut geschlagen hatte und sie ihm inzwischen sogar zutraute einige Klausuren zu bestehen, im Augenblick sah er echt nicht gut aus.
„Ist alles okay bei dir?“
Er registrierte kaum, dass er angesprochen wurde. Es war offensichtlich, dass er nicht in seine Lektüre vertieft war. Immerhin hatte er seit sicher einer halben Stunde nicht mehr umgeblättert.
„Keine Ahnung. Ich habe den Eindruck, es bringt heute so überhaupt nichts. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren.“
„Ja, das habe ich schon bemerkt. Eben hast du mich nach Sachen gefragt, die du mir letzte Woche selbst noch erklärt hast.“
„Ich habe dich etwas gefragt? Sicher, dass das nicht Erik war?“
Mia sah ihn herablassend an und Erik hob nur verwundert den Blick. Er hatte seinen Namen gehört, ansonsten aber von seiner Umwelt wenig wahrgenommen.
„Geh nach Hause, leg dich ins Bett. Es nützt nichts, wenn du hier am Tisch einschläfst.“
„Ich bin nicht müde, ich kann mich nur nicht konzentrieren.“
„Leg dich einfach ins Bett.“
Der Tonfall in ihrer Stimme machte deutlich, dass sie das nicht als einen Vorschlag sah. Flo wusste genau, sobald er seine Sachen zusammen geräumt hatte und vor der Bibliothek stand, wäre er wieder hellwach. Wenn er jetzt nach Hause ging und sich an den PC setzte, könnte er da immer noch lernen. Er würde es zwar wahrscheinlich nicht tun aber er konnte es immerhin. Oder er legte sich einfach in den Park und schlief da oder las ein Buch. Soweit war es also schon mit ihm, ein Buch lesen. Vielleicht hatte Mia recht, er sollte schlafen.
Fünf Minuten später hatte er seinen Rücksack geschultert und stand an der frischen Luft. Er hatte recht behalten. Von seiner Müdigkeit war nicht viel verblieben, stattdessen hatte er Hunger. Er holte sich auf dem Heimweg ein belegtes Brötchen beim Bäcker und legte sich damit aufs Bett. Lernen konnte gerne bis nach dem Essen warten aber am Ende kam es wieder anders.
Das Essen durfte bis nach dem Schlaf warten denn kaum lag er, war er auch schon weg. Diesmal waren die Träume weniger lebendig, dafür aber hinter geschlossenen Augen. Neunzehn Stunden bis zur nächsten Vorlesung. Dafür brauchte er nicht einmal seinen Wecker, hoffte er.