Murmeltiertag
Es wäre gelogen, zu behaupten, Erik hätte sich gefreut, als Marlenes Nummer auf dem Display seines Telefons erschien. Er wusste sogar bereits, worauf sie aus war, was sie wollte, und er wusste, dass es ihm heute nicht gelegen kam. Im Dämmerlicht wickelte er einen Arm aus der dicken Bettdecke, sodass er wenigstens nach dem Telefon greifen konnte. Vielleicht war es besser, sie einfach zu ignorieren. Nicht, dass das irgendeinen Zweck gehabt hätte. Sie würde einfach später noch einmal anrufen. Es gab also keinen Grund, es nicht jetzt hinter sich zu bringen.
Sein Blick glitt zur Uhr, und wenn es ihm nicht eigentlich egal gewesen wäre, dann hätte es ihn vielleicht erstaunt, dass sie bereits drei Uhr nachmittags anzeigte. Gestern hatte er es wenigstens geschafft, bis zwei Uhr das Bett zu verlassen. Auch wenn er auch danach nichts mit dem Tag hatte anfangen können. Er hatte in seinem Schreibtischstuhl gesessen und sich einem traumlosen Halbschlaf hingegeben, während beliebige Streamingvideos auf dem Monitor vor sich hin brabbelten. Er hätte nicht ein Einziges davon noch mit Namen benennen können.
Was Marlene betraf, hatte er sich nicht geirrt. Seine Gesellschaft hatte sie gewollt, zum Abendessen oder Kino. Seine Anwesenheit bei gesellschaftlichen Aktivitäten, für die er das Haus verlassen musste. Noch schlimmer, er würde dafür sein Bett verlassen müssen. Und allein die Höflichkeit gebot es, sich dann auch die Zähne zu putzen und zu duschen. Immerhin bot ihm die aktuelle Mode die Option, seinen fleckigen und absolut kümmerlichen Bartwuchs dennoch als Versuch gelten zu lassen, einen Vollbart zu züchten. Das würde ihm zwar mitleidige Blicke einbringen, aber die würde er so oder so bekommen. Davon war er überzeugt.
Es tat ihm ehrlich leid, ihr abzusagen. Das war vielleicht die intensivste Gefühlsregung der ganzen Woche gewesen. Erik wusste, dass sie es nur gut meinte, und vermutlich wäre es sogar genau das, was er zurzeit benötigte. Es würde ihm gut tun und vielleicht sogar gefallen. Aber war es ihm das wirklich wert? Dann müsste er sich ebenfalls eingestehen, dass er vielleicht ein kleines Problem mit sich selbst hatte. Eines, das er nicht so ohne Weiteres alleine lösen konnte. Eines, von dem auch Marlene lieber nichts wissen sollte, obwohl sie es sicherlich bereits lange vor ihm gewusst hatte.
Mürrisch drehte er sich im Bett um, leerte seine Wasserflasche und ärgerte sich, keine weitere da zu haben. So oder so würde er wohl heute noch aufstehen müssen. Er schlug die Decke zur Seite und der beißende Geruch viel zu lange nicht mehr gewaschener Bettwäsche und darin vegetierender Menschmasse kroch ihm in die Nase. Er ekelte sich vor sich selbst und konnte nicht verstehen, wie Marlene so hartnäckig seine Aufmerksamkeit suchte.
Und dann überraschte er sich doch noch selbst, als er sich mit einem dumpfen Platschen auf den kalten Boden vor dem Bett fallen ließ. Es war zwar nicht sein Plan gewesen, aber er hätte diesen und die folgenden Tage gerne einfach im Bett verbracht, ohne irgendetwas zu tun oder zu denken. Stattdessen kroch er jetzt in Richtung Badezimmer, um sich dennoch herzurichten. Nicht für sich selbst, sondern für Marlene. Er würde sie anrufen, sich entschuldigen und fragen, ob sie noch Interesse an einem kurzen Spaziergang oder Kino hätte. Wer weiß, vielleicht würde sie ihm ja sogar eine weitere Gefühlsregung bescheren.

Bildquelle: Pixabay
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